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Wednesday, April 9, 2014

GESTERN UNTERWEGS / YESTERDAY, ON MY WAY

Lieber Leser!
»Gestern unterwegs« gibt sich, nach dem »Gewicht der Welt«, der »Geschichte des Bleistifts«, den »Phantasien der Wiederholung «, »Am Felsfenster, morgens«, als die letzte Phase meines Mit-Schreibens mit den täglichen und nächtlichen Geschehnissen. Es bezeichnet auch den Übergang oder die Übergänge vom puren Mit-Schreiben (vorherrschend vor allem im »Gewicht der Welt«, 1975 bis 1977) zum nachträglichen, leicht zeitversetzten Notieren: von dem, was »jetzt« geschieht, zu dem, was »gestern« geschah, und vorgestern, und vor einigen Tagen, und vor einer Woche …
Wen es interessiert, der soll wissen, daß ich in den Jahren von »Gestern unterwegs« das Theaterstück »Das Spiel vom Fragen« schrieb, dann den »Versuch über die Müdigkeit«, dann das Filmbuch »Die Abwesenheit«, dann den »Versuch über die Jukebox«; zuletzt übersetzte ich Shakespeares »A Winter’s Tale«.
P. H., 22. Februar 2005
(es schneit, oder, aus dem Arabischen rückübersetzt: »Es schneit auf die Erde«)


Das große Staunen des Peter Handke

In seinem neuen wunderbaren Buch "Gestern unterwegs" erfährt man das Glück des Lesens VON 
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Als die Jäger und Sammler von den Ackerbauern verdrängt wurden, kam das Zeitalter der Sesshaftigkeit. Jahrhunderte hatte es Bestand, aber nun scheint es vorüber. Heutzutage ist fast ein jeder ständig unterwegs, sei es freiwillig, um das Rad seiner Geschäfte in Gang zu halten; sei es unfreiwillig, weil ihn das Rad des Schicksals von Exil zu Exil wirft.
Was aber ist von einem Mann zu halten, den es folgendermaßen umhertreibt? Es muss sich um einen von Interpol gesuchten Kriminellen handeln: Im November 1987 begibt er sich unauffällig (teils zu Fuß, teils mit dem Bus) von Kärnten nachSlowenien, wandert weiter nach Zadar, Split und Dubrovnik, bis er schließlich nach Thessaloniki und Athen gelangt. Dort scheint man seine Spur gefunden zu haben, denn urplötzlich fliegt er nach Kairo, verbringt dort einige Tage und taucht im Januar in Paris auf. Am 15. des Monats jedoch sehen wir ihn in Berlin, kurz darauf quält er sich durch die deutsche Provinz: Bremen, Hildesheim, Fulda, Frankfurt, München. Auch dort wird ihm der Boden zu heiß. Im Februar eilt er nach Brüssel, Gent und Brügge, um kurz darauf in Tokyo zu landen. Dort erblickt er eine ihn anziehende Schöne, aber anstatt ihr zu folgen, flieht er im Schneesturm nach Hokkaido, findet auch dort keine Ruhe und begibt sich nach Anchorage und Fairbanks.
Alaska im März: Das sollte ein halbwegs sicherer Ort sein. Unser Mann jedoch fliegt nach London, und am 18. März sehen wir ihn in Lissabon, später in Porto und Vigo. Am 1. April jedoch ist er in Léon, kurz darauf in Arles, Wien, Aquileia. Juli Paris. Im Herbst sucht er von neuem Slowenien auf, den Jahreswechsel 1988/89 verbringt er in Schottland, wiederum eingenässt von Stürmen und Schneeschauern, reist aber schon Ende Januar in die Normandie, gibt sich dort als interessierten Betrachter der Kathedralen von Rouen und Amiens, was aber ihm nichts zu helfen scheint. So wandert er denn, als Rucksacktourist verkleidet, im Februar zwei Wochen querfeldein durch die Pyrenäen. Im März jedoch sehen wir ihn im Schnellzug auf dem Weg von Barcelona nach Córdoba, und am 6. April fliegt er von Málaga nach Mailand.

Der Schnee: "Ein helles Daherfliegen über die blaugrüne Heide"

Wir wollen seine Irrfahrten nicht weiter im Detail verfolgen, sein Reisetagebuch umfasst 550 Seiten. Deshalb nur im Zeitraffer eine Auswahl der weiteren Stationen: Arezzo, Assisi, Wien, Frankfurt, Paris (offenbar hat er hier eine Art Wohnsitz), Cannes, Wien, München, Venedig, Paris, Brüssel, Amsterdam, Lyon,St. MoritzFlorenz, Udine, Triest und wieder Slowenien (weshalb immer Slowenien: befindet sich hier der Ort seiner Untat?); dann Frankfurt, Metz, Nantes, Bordeaux, San Sebastián (jetzt schreiben wir den Dezember 1989), Vittoria, Soria, Valladolid, Salamanca, Madrid, Barcelona, Straßburg, Lüttich und endlich Paris, Juli 1990.
Ja, es handelt sich um Peter Handke. Nein, es handelt sich nicht um einen Gejagten. Das Gehen fördert das Denken, wie schon die Griechen und ihre Peripatetiker wussten. Auch Handke erfährt es: "Merke es dir, endlich: Das Gehen ist (d)eine Erkenntnis – das lange, ausgreifende, vielfältige Gehen, über Berg und Tal (so wie heute von Tarcento über Nimis–Attimis–Faedis bis Cividale, tagelang, bis in die Nacht); die Welt will von deinen Schritten durchfurcht werden – ja, ich muss mehr über die Hügel stürmen!" Da befindet er sich mal wieder auf einer seiner Wanderungen, nun im Friaul. Zweimal wandert er durch Slowenien, einmal durch die Pyrenäen, ein andermal über schottische Hochmoore und hinauf auf den höchsten Berg dort:
"Ein großes Rauschen empfing mich gerade bei der Ankunft auf dem Gipfelplateau des Ben y Vrackie, Rauschen wie vom Berggeist selber, und es kommt von einem kleinen Bach unter dem Heidekraut; und dazu mein Ausruf: ›Jetzt wird es schneien!‹ – Und schon geschah ein helles Daherfliegen über die blaugrüne Heide, ›flieg ins offene Buch, Schnee! Bring es zum Knistern!‹ Und es knisterte. – Und wie nun das Schneewehen die Farben aufscheinen lässt, auch an mir, dem einzigen Lebewesen weit und breit – Sphäre des Schneiens, Spektrum des Schnees. Vom Westen die Regenwolken anreisend, von Osten die Schneewolken, deren feine, rhythmische Schwaden im Gegensatz zu den formloseren, regellosen Regenwolken, und in der Mitte des Geschehens beide Wolkenzüge ineinander übergehend zu einem gewaltigen leuchtenden Dunst."
Solch wunderbare Naturbeschreibungen machen dieses Tagebuch (es ist voll davon) zu einem einzigartigen Leseerlebnis. Aber man ahnt, dass dieses vollkommene Öffnen aller Sinne seinen Preis hat: die Einsamkeit. Als wäre er Friedrichs Wanderer im Nebelmeer, zieht Handke einsam durch nächtliche Straßen und über sturmumtoste Felder, ein Mönch hingebungsvoller Wahrnehmung. Selbst trostlose Landschaften (unsereins würde sie trostlos nennen) schrecken ihn nicht, solange er nur gehen kann: "Das Gehen auf den ehemaligen Eisenbahnschienen durch die Steppe beim ehemaligen Bleibergwerk im Gegenwind; bergauf über Kalkhänge; der verfallene Olivenbauernhof, umstanden von Eukalyptus, der rauchende Abfallhang, all das beitragend zum Gehgefühl, zum In-der-Weite-sein, zwischen den Ölbäumen, die rauschten und tosten, an einer Stelle das längst überflüssige Warnkreuz ›Achtung Zug‹, verrostet inmitten der Ölgärten; zurück in die bei der Kälte und dem Wind wie leere Stadt; der heikle, gar empfindliche Zigeuner in der Bar, vorwurfsvoll auf die eine Fliege da zeigend (die ihm dann auch prompt in das Bier fiel)."
Tagelang, wochenlang oft spricht er mit keinem einzigen Menschen. Einmal notiert er: "Unterwegs: die Momente des Behaustseins enttäuschen mehr und mehr; das Unbehauste dagegen wird immer heimischer." Und doch: Zuweilen lastet das Alleinsein schwer auf ihm. Er nennt es dann "Sorge", ein von seinem Freund und Gewährsmann Hölderlin entlehntes Wort, Inbegriff der Ängstlichkeit und Kleinmütigkeit. Zwar redet er sich immer wieder gütlich zu: "Es ist kein Unterschied zwischen einer falschen und richtigen Sorge – die Sorge an sich ist falsch." Aber dann wieder betet er um Befreiung: "Lass endlich den Ernstfall eintreten, damit ich die Sorge los bin und handeln kann!"

http://handkeonline.onb.ac.at/search/node/gestern%20unterwegs

Das große Staunen des Peter HandkeSeite 2/2

Dieser "Ernstfall" (nein, es geht nicht um Krieg) tritt zweimal ein – in der Liebe. Die erste zu einer schönen Unbekannten, offenbar englischer oder amerikanischer Herkunft. Handke plaudert ja niemals Intimitäten aus, aber immerhin doch dies: "Das ›Pritzeln‹, Klicken, Knacken, maschinenhaft, gestern der Heupferdchen im Karst über dem See von Doberdob, unter dem fast identischen Geräusch der Überlandleitung. Und die schwarzen Maulbeeren in der Wildnis. Und das Rot ihrer Lippen mit dem Rot der Erdbeere. Und die aus der Steppe mit heiserem Gebell hervorbrechenden Rehböcke. Und ihr weißer Reisstrohhut in der hüfthohen blumenreichen Savanne." Mit der zweiten Liebesgeschichte, über die wir wiederum fast nichts erfahren, endet das Buch. Sie scheint von Dauer, denn der Autor begibt sich auf die Suche nach einer Wohnung, die offenbar nicht nur für ihn allein bestimmt ist.
Bevor er am Ende zur Ruhe kommt, sehen wir ihn unterwegs, wie er den wunderbar weißhaarigen alten Schuster in Tripoli beobachtet; den Wachhabenden vor der amerikanischen Botschaft in Tokyo; den Lesenden in Cambridge ("sie küsste ihn, der las; er las beflügelt weiter – Blick durch ein Erkerfenster, Abbey Road"); die allein wartende Frau in einem spanischen Hotel. Er ist unterwegs bei jedem Wind und Wetter, mit Sonne, Mond und Sternen; unterwegs im japanischen Bambuswald ("mein Klopfen gegen die Bambusschäfte im großen Bambuswald, allein, der letzte Mensch, bei Wind und grauer Kälte"); unterwegs mit Hölderlin, Novalis, Inoue, Wittgenstein, Epiktet, Tschechow, Skácel und immer wieder der Bibel.
Die Bibel liest er im Original und macht sich übersetzungskritische Anmerkungen. Er geht in die Kirchen und Museen, und es sind vor allem die biblischen Darstellungen, die ihn anziehen. In Amiens sieht er, "wie die Schlafenden im Mittelalter immer dabei ihr Gewand festhalten: sich wegträumend daran festhalten"; und in Sansepolcro sieht er den Auferstandenen des Piero della Francesca, "noch tief erschrocken vom Totsein". Bemerkenswert, wie sehr sich Peter Handke dem Katholischen und also seiner Herkunft wieder nähert, ein kenntnisreich und voller Skepsis Glaubender. "Die Geschichte Jesu als eine dramatische Entdeckungsgeschichte: die Entdeckung des Göttlichen in sich – die wiederum zum Menschendrama an sich führt", schreibt er einmal, und damit ist sicherlich auch gemeint, dass wir alle das Göttliche in uns suchen sollten. Jedenfalls sucht es Handke, selbst wenn dieses Göttliche nicht unbedingt moraltheologisch korrekt ist und hölderlinsche Eigenschaften hat.
Er ist wahrhaft ein Pilger, aber nicht im Sinne von Georg Thurmairs Kirchenliedklassiker Wir sind nur Gast auf Erden, denn dafür interessiert ihn diese Erde allzu sehr, und wir lernen sie durch ihn wieder kennen, als wäre sie uns neu. Seine Pilgerschaft trägt religiöse Züge, in der Hauptsache aber ist sie ästhetisch begründet – im ursprünglichen Sinn, denn aisthesis heißt Wahrnehmung. Wenn er etwa über den Begriff der "Levitation" bei Teresa di Avila nachdenkt, schreibt er: "Du kommst da doch, obwohl leicht levitiert, auf deinem Grund an und schaffst, in der so genannten Levitation, die Verbindung zu deinen Gründen, immer wieder; also hab keine Angst dabei vor einer Unwirklichkeit; der Wirklichkeit der Historie zieh vor die des je Geschehens, Werdens, Seins, Verschwindens – das ist die Kategorie, und nicht die Geschichte."

Die Kinder halten die Hand in den Regen: Das ist ihr Gedicht

Das ist ein romantisch-philosophisches Projekt, es bezieht sich auf die berühmte Forderung: "Die Welt muss romantisiert werden." Was das heißen soll, erläutert Novalis so: "Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehn, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe, so romantisiere ich es." Nichts anderes tut Handke, und er tut es im Bewusstsein einer Tradition, der er ausdrücklich angehören möchte. Der Wille, einer der "Großen" (er schreibt sie meist in Anführung) zu sein, taucht in mehreren Notaten auf. Folglich ist das hier erzählende Ich kein privates, sondern ein beherrschtes, geformtes, das gerade deshalb Macht, Ausdrucksmacht gewinnt. Der Effekt, der sich auf den Leser überträgt, ist wahrhaft zauberisch: Nach und nach (und man kann dieses großartige Buch nur nach und nach lesen) verlangsamt man sich, gewinnt Gehör für die Stille, die Handke immer wieder fordert und findet, schließlich ein Auge für das scheinbar Unscheinbare und Schöne, das uns "Handwerkern" (Hölderlin) zumeist entgeht, immerzu geplagt von den Geschäften des Alltags. Wem ist das schon aufgefallen: "Das seltsame Grüßen der Schotten, den Kopf zur Seite verrenkend, als jucke sie etwas am Hals." Oder dies: "Der Säugling, chauffiert in seinem Wagen von der Mutter, lässt deren Liebesblick schmunzelnd über sich ergehen." Überhaupt die Kinder: Ihr Anblick erregt in Handke die mildesten und frohesten Gefühle, und einmal erkennt er in ihnen einen Got-tesbeweis. Oder das Dichtertum: "Die Kinder als Dichter: sie stehen da, halten die Hand in den Regen, und das ist ihr Gedicht." Und dann beobachtet er dies: "Ein Kind zum andern: ›Und was kannst du?‹ Das andere Kind: ›Ich kann gar nichts.‹ (Begeistert:) ›Ich kann überhaupt nichts!‹"
Man möchte endlos zitieren. Wir erfahren "das Erzählen als das große Staunen" (das ist ja sein Ziel, das er konkurrenzlos erreicht) und finden es ganz natürlich, "dass es so übergeht ins Singen", wie in den großen Epen. Von einem Buch zu sagen, es mache glücklich, klingt nach Peter Hahne. Dieses stammt von Peter Handke. Es zu lesen beschert Glück.
Gestern unterwegsAufzeichnungenBelletristikAufzeichnungen November 1987 bis Juli 1990Peter HandkeBuchVerlag Jung und Jung2005Salzburg25552
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Langsamer reisen

Peter Handkes letztes Journal "Gestern unterwegs. Aufzeichnungen 1987 bis 1990" birgt Kleinodien und Glücksmomente sonder Zahl

Von Ulrike MatzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ulrike Matzer


http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=8788
Dass ihm das Format des Tagebuchs eine Möglichkeitsform literarischer Experimente ist, machte Peter Handke schon mit seinem ersten Journal "Das Gewicht der Welt" (1977) deutlich - damals als Versuch reflexhaften Reagierens mit Sprache auf Erlebnismomente, in allen Lebenslagen. Vier weitere Notizbücher folgten, ein jedes anders angelegt und in je unterschiedlichem Abstand zum Schreibzeitpunkt veröffentlicht; vom anfangs simultanen Mit-Schreiben hin zum nachträglichen Notieren. Letzteres rührt u.a. vom fast ständigen Unterwegssein her, ohne festen Wohnsitz in der hier memorierten Zeit. Danach, so der Autor, findet kein oder kaum ein Aufzeichnen mehr im Sinn der früheren Tagebücher statt.
Kreuz und quer durch Europa und in Japan, Alaska und Ägypten war Handke Ende der achtziger Jahre als Weltenfahrer unterwegs, nach seiner länger währenden Ansässigkeit in Salzburg, die für ihn mit Studienbeginn und Auszug seiner Tochter endete. Das Gehen und das Schauen hat er für sich zur Lebensart erhoben; ganz Auge und ganz Ohr, offen für die Dinge, die ihn "anwehen" und anmuten, rhythmisiert sich ihm die Außenwelt zur Form. Habhaft wird er dieses "Fastnichts, das die Welt umspannt" meist in haiku-artigen Ein-Satz-Gedichten, mitunter lediglich in ein paar Wörtern. Derart "durchlüftet" aufnotiert ist für ein Innehalten und Innewerden bei der Lektüre gut gesorgt - vergleichbar dem sukzessiven Sichbewegen in Kirchen und Kreuzgängen der Romanik (von ihm wieder und wieder aufgesucht), von der kindlich-naiven "Mittelalterbilderlandschaft" eines Kapitells zur nächsten. Mit ähnlich kindhaftem Staunen im Blick verleiht der Dichter Handke allem noch so Kleinen eine Feierlich- und Weiträumigkeit: "Von Angesicht zu Angesicht, so musst du schauen, auch auf den gesichtslosesten Stein". Beiläufigkeiten, derer er am Wegrand oder vom Busfenster aus ansichtig wird, lassen ihn die Welt immer noch neu entdecken: "Die Kinder als Dichter: Sie stehen da, halten die Hand in den Regen, und das ist ihr Gedicht".
Stets vorbereitet auf die Epiphanie des Schönen richtet sich seine Aufmerksamkeit beharrlich aufs Ereignislose, abseits so genannter Ereignisse. Denn: "Die Welt im Gehen, Schauen, Bedenken, Betrachten stellt sich anders dar als die Welt in den Zeitungen". - So findet man kaum Kommentare zu den weltpolitischen Umbrüchen jener Jahre; knapp notiert wird Tagesaktuelles - wenn überhaupt - nur aus persönlicher Betroffenheit: der Absturz des Flugzeugs über Lockerbie, in dem er zuvor saß, oder die Studentenunruhen am Tiananmenplatz. Ein vager Zeitbezug äußert sich höchstens indirekt, in weit gefasster Zivilisationskritik, oder in poetologischen Gegenweltentwürfen: "Mein vereintes Europa: Das der Feldwege und der Ackermauern".
Gedanken an Österreich lösen nur Grauen aus und scheinen - im Gegensatz zu früher - keiner weiteren Erwähnung wert. "Das Problem 'Deutschland' ist befruchtend; das Problem 'Österreich' dagegen nicht - nicht mehr, war es nicht einmal mehr bei Hofmannsthal?" Anfangs mehr im Unterwegs zu Hause, wird ihm die Suche nach Beheimatung zunehmend Movens. Die einstige und, wie sich gegen Ende der zweieinhalb Jahre dauernden Pèlerinage abzeichnet, auch künftige Wahlheimat Frankreich erscheint ihm im Gegensatz zum Herkunftsland als ein Land der Freiheit, als das Land seines Ideals.
Obwohl häufig in der Ich-Form gehalten, sind Einblicke in rein Privates in den Notizen ausgespart oder symbolhaft verschleiert. Das ewigjunge männliche Begehren und die Sehnsucht nach Lieben und Geliebtsein brechen freilich öfters durch; erhebende wie ungute Erinnerungen an die Kindheit; auch verhaltener Humor und leise Selbstironie. In erster Linie ist das Ich ein Fokus, der quasi unpersönlich aufnimmt und dies in Merksätzen, Geboten, kurzen Dialogen bildhaft werden lässt. Zu (Wort-)Bildern verwandeln sich auch Grabinschriften, Schilder- oder Hinweistexte. Unermüdlich wird dabei Sprache betrachtet und tranchiert, werden durch achtlosen Gebrauch entleerte Wörter und Wortfügungen in ihrer Aussagekraft neu gedacht ("behutsam", "Beherzung"); wird nach Verben gesucht, um einem Befinden, einem Sachverhalt gerecht zu werden ("Ruhe: nimmt mich auf (gastlich)").
Im peripatetischen Langsamschritt begegnen einem die Handke'schen Themen und Motive, wird über angedachte Werke reflektiert und auf frühere rekurriert - das Fahrtenbuch erweist sich vor allem auch als Arbeitsjournal für den damals verfassten "Versuch über die Jukebox" oder die später entstandenen Romane "Mein Jahr in der Niemandsbucht" und "Der Bildverlust". Zusammen mit wiederholt zitierten Weggefährten und geistigen Verwandten - Hölderlin, Goethe und Cézanne, René Char, Nicolas Born, Hermann Lenz oder Francis Ponge - erlaubt dies Einblick in die Herkunft seiner Weltsicht, seines Denkens, seines Schreibens. Der Prozess der Selbstverortung, des Selbstvergewisserns und Selbststilisierens mündet in teils originellen Formulierungen: "'Der Augenblicksdenker': nur das bin ich", "Mein einziges Talent ist von jeher die Sehnsucht gewesen; zum Beispiel habe ich nie schreiben können, als Können". - Gut so!, kann man da nur sagen, und sich ein Beispiel nehmen.
Dass sich die Notizensammlung als Reise-, ja Lebensbegleitbuch bestens eignet, als profanes Brevier gewissermaßen, wird sich an den künftig aus ihm zitierten Sinnsprüchen erweisen. "Für den, den's angeht", den Handke-Leser, die Handke-Leserin, birgt dieses weltdurchdrungene Itinerar funkelnde Kleinodien sonder Zahl, und in nuce den gesamten Handke-Kosmos. Nur scheinbar ohne inneren Zusammenhang ist das die Tagebuchreihe beschließende und zugleich sein Œuvre (neu) erschließende Journal vielsagender als manche Sekundärliteratur. Und weitaus beglückender auf jeden Fall.
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Das Schreiben vor dem Schreiben

Peter Handke, der Augenblicksdenker, reist durch Europa auf der Suche nach der Welt: "Gestern unterwegs", die poetischen Tagebücher
Man kann sich das Leben des Peter Handke als ein einziges langes Laufen vorstellen, und wie das so ist beim Laufen, man verliert sich manchmal, wenn es zu sehr dauert.
Handke würde nun sagen, daß es gerade das Ziel seines Laufens, seines Reisens, seines Schreibens überhaupt ist, sich zu verlieren. Daß nur in der Bewegung so etwas wie Ruhe spürbar wird. Daß erst in der Distanz so etwas wie Nähe möglich ist. Tatsächlich sagt er: "Beim Gehen in der Sonne wurde ich eine Kugel der Ruhe."
Aber das ist bloß ein Teil der Geschichte. Denn Handke sucht natürlich doch, er sucht sogar sehr, so sehr, daß er auf dem Titel seines neuen Buches eine Zeichnung hat mit zwei mönchischen Figuren, die voranschreiten im Deuten ihrer Welt, im Zeichen eines Kreuzes, das sie als Schatten begleitet. "Du wandelst unter Engeln und romanischen Gestalten", schreibt Handke an einer Stelle von "Gestern unterwegs", seinen Aufzeichnungen aus den Jahren 1987 bis 1990, die jetzt im kleinen Verlag Jung und Jung erscheinen. Und wer will, der kann schon fürchten, daß sich dieser Dichter wieder etwas weiter aus der Welt begeben hat, wo er doch aufgebrochen war, sie zu suchen.
Die Suche
"Du mußt durchdrungen sein von der Welt", schreibt Handke denn auch, "von jeder ihrer noch so nebensächlichen Bewegungen (dem vom Sturm auf die Fährrampe geworfenen Tang, dort mit der Zeit zum Wall gestaut), um ein Epiker zu sein." Also macht er sich auf, einmal mehr, wie so oft schon, um unterwegs das zu finden, was die Welt ihm daheim vorenthält. Unterwegs sucht er den Alltag, der für ihn sonst so schwer zu finden ist. Unterwegs sucht er den Halt und die Freiheit, die zum Schreiben notwendig ist. Unterwegs schreibt er: "Das mannigfaltige Sich-Aussetzen (meine Art Reisen) strukturiert die Phantasie."
"Gestern unterwegs" ist also ein Reisebuch, ein Arbeitsbuch, ein Buch über das Entstehen von Literatur, das vom Schreiben vor der Literatur handelt, von einem Gestaltungswillen ohne Richtung, von Erfahrungen und Reflexionen im eigentlichen Wortsinn, als physische und sinnliche Ereignisse, die sich irgendwie im Kopf eines Menschen abbilden und dann den Weg zum Gedanken, den Weg aufs Papier finden. Es ist ein Buch, das von der großen Nähe zu den Dingen handelt, die Handkes Weltsuche immer angetrieben hat, von jenem Physischen, das an sich gar nichts Außerweltliches hat und ihm doch immer mehr und immer gern zum Metaphysischen gerät. In Paris etwa findet er diese Nähe zu den Dingen, dort sind die Straßen, die Bäume und Züge und Schienen in der Morgensonne und die eisernen kleinen Parktüren "richtig da" - "in Österreich wie in Deutschland sind diese Dinge alle da und nicht da, was eine Qual oder zumindest etwas Quälendes sein kann: ich muß mir dort die Dinge erst zurecht-, herbeidenken."
Der Sound
Und so packt Handke mal wieder seine ganze Empfindlichkeit, seine Sehnsucht, seinen Welthunger zusammen und macht sich auf die Reise, um etwas zu erkennen, das ihm in der Nähe verstellt ist. "An dem Anblick der Ferne kam ich zu mir", schreibt er im spanischen Mai, dieses Grundthema seines Schreibens und Lebens, das sich in diesem Buch auf überdeutliche Weise vermengt. Sein Ich bleibt allerdings spröde, tatsächlich sieht Handke, wie im Grunde in all seinem Schreiben, von sich selbst ab - und zeigt doch, wie ihn nicht nur große Neugier und heitere Wachheit durch die Welt treiben, sondern auch ein gepflegtes Maß an Verzweiflung und eine gern genossene Einsamkeit.
"Über mich ,persönlich' habe ich noch nie etwas sagen können", heißt es an einer Stelle, was so wahr und falsch ist wie vieles in diesem Buch, das alles in allem diesen schwebenden Zwischenton findet, diesen Handke-Sound, der die Geschichten auflöst in Sprache, der Augenblicke zu eigenen Wahrheiten verbindet, der manchmal so angenehm ist und manchmal nur nervt. Ein neues Buch von ihm wirkt da gern wie ein Fluch und wie ein Versprechen. Denn das Merkwürdige an diesem Schriftsteller ist ja, wie da jemand damit beginnt, das Leichte und das Leben zu suchen, und dabei mit den Jahren immer bohrender wird, in seiner Genauigkeit immer bornierter, in seiner Weltsicht immer bitterer.
"Wolle nichts Neues mehr", schreibt Handke am Anfang seiner Aufzeichnungen, "du weißt doch, was du bis ans Ende zu tun hast: deine Heimat zu suchen." Und so macht er sich auf, von Österreich aus, seiner Heimat, diese Heimat zu suchen, von jenem Jugoslawien, das es damals noch gab und das ihn bis heute begleitet, "eine Art Sinn des Lebens: an der Tränke zu stehen (so wie ,wir alle' gerade in dem Rundturmlokal am Hafen von Krk, 24. Nov. 1987)". Er reist weiter, nach Griechenland, Ägypten, Frankreich, Deutschland, Belgien, Japan, Alaska, Portugal, Spanien, immer wieder Frankreich, kurz Österreich, dann Italien, Frankreich, Spanien, im Bus, zu Fuß, wenn es nicht anders geht mit dem Flugzeug, so auch am 21. Dezember 1988 nach London, mit jenem Jumbo, der neue Passagiere aufnimmt und weiterfliegt und über Lockerbie explodiert. "Und jetzt an den Frühstückstischen sitzen gedämpft wir Überlebenden", schreibt Handke am nächsten Morgen.
So wenig passiert also, wenn die Geschichte in seine Welt hineinbricht. "Wie schön und begehrenswert ist die Namenslosigkeit", so beginnt der nächste Eintrag, von der "Kraft der islamischen Ornamente" im Victoria & Albert Museum handelt der danach, "der bloße Widerschein, die bloße Ahnung der Bilder". Einen "Augenblicksdenker" nennt Handke sich selbst, und das erklärt seine Schwäche mit allem Politischen und Historischen, sein mangelndes Gespür und Vokabular für geschichtliche Prozesse - auch für das Gerichtsverfahren, gegen das er immer wieder und jetzt gerade polemisiert, das im Haag gegen Slobodan Milosevic. Es ist, das wird in diesem Buch deutlich, die poetische Arbeit der punktuellen Wahrnehmung, die ihm mit den Jahren den Blick verengt hat.
Eine Mischung aus Gegenwartsekel und biographisch-literarischer Parteinahme hat ihn auf die Seite der Serben gebracht, ungeduldig, ungerecht, unzufrieden mit den Wahrheiten, die gelten. Zwischen Mythos und Geschichte wird sich Handke immer für den Mythos entscheiden. Am 9. November 1989 schreibt er: "Zum ersten Male seit dem 31. Dezember 1970 wird seit dem gestrigen 8. November wieder die Sonnenscheindauer der DDR regelmäßig verbreitet."
Das Denken
Es sind, in vieler Hinsicht, Jahre des Übergangs, die in "Gestern unterwegs" nachgezeichnet werden, nicht nur politisch. Das Buch eröffnet noch einmal den Blick auf einen Handke vor unserer Zeit, es ist eine Art poetische Entschuldung - rare, zarte Beobachtungen vor den allzu dicken Büchern, die noch kommen. Der frühe, klare, alltagsgenaue Handke zeigt sich hier oft, der Handke, der sehnsuchtsvoll Bilder sammelt, der wunschvoll und drängend einsam ist, der allein im Restaurant sitzt und auf fremde Beerdigungen geht und besonders gern romanische Kirchen besucht. Er reist mit Hölderlin durch Jugoslawien und Japan, er reist mit Wittgenstein von Cambridge nach Aberdeen.
"Bedürfnis nach Wärme und Abneigung gegen Berührung", diesen Satz schreibt er zu Wittgenstein in sein Notizbuch. Mit dem Mit-Österreicher verbindet ihn nicht nur dieses Leben im Widerspruch, da ist auch das Denken, das bei den Dingen beginnt, in die Sprache mündet und manchmal im Verstiegenen endet. Handke sucht nach einer Einheit, nach dem einen Augenblick, der alles enthält - eine Suche, die fast zwangsläufig ins Spirituelle führt. "Der Moment am Caledonian Canal gestern, als ,alles beisammen' erschien: die von Jungen belebte Werkstätte, das sich drehende Wasser in der Kanalschleusenkammer, samt den Ölschlieren in Regenbogenfarben, die über den Schleusensteg, den eisernen, tapsende alte Frau, die Seehundköpfe unten im Mittelgrund wie ewig kreisend, ,alles beisammen' (7. Januar 1989, Inverness)".
Die Welt
Monate und Jahre geht das so, Handkes Weltpilgerreise, und man spürt fast die Gepäcklosigkeit, die Leichtigkeit, mit der er sich von Ort zu Ort bewegt, man spürt das als etwas Schweres, wie ein Gewicht. Aber all die Schritte, all den Ballast läßt er zurück bei seinem Schreiben, all die Hotels und die Rechnungen und die schmutzige Wäsche und die Erinnerungen an andere Menschen. Das Fehlende macht sich dabei um so deutlicher bemerkbar, es drängt darauf, befragt zu werden: Was sind die Bedingungen dieses Lebens? Was sind die wirklichen Gedanken, wenn es die gibt? Wo sind die Schwielen an den Händen? Wie schauen Handkes Koffer aus? Was für ein Leben gibt es für Handke diesseits der Kunst?
Aber Biographisches findet sich kaum, dafür zeigt uns Handke, wie die Bilder in die Bücher kommen. Den "Versuch über die Müdigkeit" hat er in den Jahren zwischen 1987 und 1990 geschrieben, das Theaterstück "Das Spiel vom Fragen", das Filmbuch "Die Abwesenheit" und den "Versuch über die Jukebox". Es ist nach langen ätherischen Jahren eine schöne, kurze Phase der Klarheit, die sich wohl mit dem Reisen einstellt.
Das Buch ist dabei lang und voll, es ist aber auch leer, auf eine epische Art leer. Und auch eine Ahnung der Anmaßung durchzieht es schon, jener Erkenntnisdünkel, der Handkes letzte Werke prägte. "Karfreitag, drei Uhr am Nachmittag", notiert er in Ponferrada in Spanien. "Sich bücken zu dem frischen Gelb, dem Ganz-Gelb des Löwenzahns im hohen Gras, mit viel kürzeren Stengeln hier als ,bei uns' - und dazu der Gedanke: Wer versteht heute so ein Sichbücken? Aber im Mittelalter hätte man es verstanden, daß ein Fremder sich so hinhockt, zur Betrachtung des Nichts-und-wieder-Nichts." Der Handke, wie er sich hier zeigt, ist ein Rätsellöser, der sich der Welt nähert und sie dabei im Enträtseln weiter verrätselt. Das ist die Dynamik seines Schreibens, das das Reisen braucht als seinen Grund.
Handke entwirft dabei eine eigene Topographie des Erlebens, er schreibt steile und zerklüftete Einträge aus Japan, er ist episch-ausladend in Spanien, er bleibt wortkarg in der kurzen Zeit in Österreich. Es gibt Erkenntnishöhen und Stimmungstäler. Eine ganze Weile geht man gern mit ihm auf diesen Wegen. Und irgendwann läßt man ihn alleine weiterziehen, durch den Karst, immer den Quellen zu.
GEORG DIEZ
Peter Handke: "Gestern unterwegs". Verlag Jung und Jung. 360 Seiten, 25 Euro
http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezensionen/belletristik/das-schreiben-vor-dem-schreiben-1259381.html?printPagedArticle=true#pageIndex_2

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