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Saturday, February 27, 2016

Vor der Baumschattenwand nachts

http://derstandard.at/2000042009249/Peter-Handke-Die-Kunst-des-Fragens?ref=rss

Peter Handke: Die Kunst des Fragens HANS HÖLLER 3. August 2016, 09:56 11 POSTINGS Zu Peter Handkes Aufzeichnungsband "Vor der Baumschattenwand nachts. Zeichen und Anflüge von der Peripherie 2007-2015" Vor der Baumschattenwand nachts setzt die Folge der seit Jahrzehnten erscheinenden Publikationen aus den Notizbüchern Peter Handkes fort. Diese Bände – 1977 erschien als erster Das Gewicht der Welt – kamen später in immer größeren Abständen heraus, und von den Jahren zwischen 1990 und 2006 gibt es bis jetzt noch keinen für die Publikation bearbeiteten Band. Die Notizbuch-Originale selbst, handschriftlich, mit Bleistift, Filzstift oder Kugelschreiber in verschiedenen Farben geschrieben, mit Zeichnungen versehen – und gezeichnet von den Spuren von Wind und Wetter und von "des Wildes Tritt" -, sind für mich die schönsten und kostbarsten Aufzeichnungsbände des zwanzigsten Jahrhunderts, auch wegen der ungezähmten wilden Schönheit der Schriftbilder. Zum ersten Mal sind nun in einen publizierten Aufzeichnungsband endlich mehrere Zeichnungen aus den Notizbüchern aufgenommen worden. Ich darf mich zu den Lesern der nunmehr sechs publizierten Bände zählen und habe diese langen Unterbrechungen der Publikation immer bedauert, weil ich die konkreten, das Denken und Wahrnehmen erweiternden chronikalisch-philosophischen Formen schätze, die aus Beobachtungen des alltäglichen Lebens und der Natur hervorgehen und eine Form der Geschichtsschreibung im ältesten Sinn repräsentieren, notwendig wie eh und je. "'Sei Vater!' – 'Aber wie?' – 'Sei ein Mann!' – 'Wenn ich bloß wüsste, was das ist, ein Mann!'" Welche Seite auch immer man in Vor der Baumschattenwand nachts aufschlägt, die Frageform ist allein schon grafisch an den Fragezeichen abzulesen. Aber auch Rufzeichen oder die vielen Gedankenstriche sind vom Geist oder vom "Spiel" bzw. von der "Kunst des Fragens" affiziert, sie sind im besten Sinne Gedankenstriche, weil sie das Innehalten bezeichnen, mit welchem ein meist gegenläufiger Gedanke einsetzt. Der Frage-Rhythmus weist auf das zuinnerst Philosophische der Texte, sodass sich der Autor in einer heiteren Wendung fragt, ob er nicht von jeher ein "verkappter Philosoph" sei: "Immer noch ist für mich alles Frage. Also bleibe ich verkappter Philosoph?" Friedrich Hölderlins Wort vom Geist, der sich nur "rhythmisch ausdrücken könne", ist dem verwandt, was Handke den "Umkehrwind" nennt, der in den ständigen Wendungen und Sprüngen, im Drehen und Umkehren der Wörter und Sätze zu spüren ist und der im Landstraßen-Schauspiel eine faszinierende komödiantisch-theatralische Choreografie ergibt. Dieser Fragewind erfasst einen vom ersten Satz der Aufzeichnungen an, noch bevor man ein Fragezeichen gesehen hat: "Der Vaterlose fühlt sich immer im Blickpunkt, im Guten wie im Bösen." Ist das nicht so, seit wir aus dem Paradies vertrieben worden sind? Die Vaterlosigkeit wird im ganzen Werk Peter Handkes immer wieder neu gewendet, und die gelassenste Gegenwendung gegen das Drama der Vaterlosigkeit spricht im Landstraßen-Schauspiel ausgerechnet eine Figur aus, die ICH-DER-DRAMATISCHE heißt: "Na ja, ein Vater hätte, bei mir zumindest, sicher Schlimmeres angerichtet. Gelobt sei die Vaterlosigkeit!" Die andere Zeit "Zeichen und Anflüge von der Peripherie 2007-2015" nennt Handke sein neuestes Buch im Untertitel, es enthält also, was dem Autor zugeflogen ist oder ihn angeflogen hat und aufzeichnenswert erschien, was ihm zum "Zeichen" wurde, im Alltag, zu Hause, im Garten, in den Vorortzügen, auf den Straßen, beim Gehen und beim Lesen in den letzten neun Jahren, oder was aus den Träumen in den Tag herübergeweht ist. Im Vergleich zu den früheren Aufzeichnungsbänden sind die Orte und die Datierungen noch durchgehender weggelassen, die biografischen Kontexte kaum zu erkennen. Die Zeit ist ein unbestimmtes Heute, aber in allem, was hier aufgezeichnet ist, steckt die Gegenzeit, das Bewusstsein jener anderen Zeit, die jeder Mensch in sich trägt, verschüttet oft und unterdrückt und nur in den (Tag-)Träumen lebendig. Diese Zeit wird in den nun erschienenen Aufzeichnungen auch unter dem Akut des Zuendegehens erlebt: "Immer wieder: Kein Zeit (mehr) zu haben – die Zeit nicht zu haben; der Drache im Herzen – das Herz als Drache", und umso wichtiger wird jetzt das Sich-frei-Spielen der Wörter und Sätze von jeher. Die Textstücke, meist acht bis zehn pro Seite, weisen eine ungewöhnliche Themen- und Formenvielfalt auf. Man findet zum Beispiel mehrere als "11. Gebote" bezeichnete Sätze; oder "Und"-Sätze, die das epische Nebeneinander und Immer-Weiter vorführen; die "Jetzt"-Sätze sind oft Evokationen des mystischen Augenblicks im Alltag; nicht zu vergessen die Sätze, die mit "Verb für" beginnen, als sollte dem Tätigkeits- oder Tunwort und der Sprache insgesamt ein bewussterer Platz im "Handwerk des Lebens" (Cesare Pavese) zugesprochen werden. An die hundert oder mehr solcher sprachlicher Vorschläge nennen Verben für ein vorbildliches Tun und Machen: "Verb für den Schöpfer (Schöpferischen): 'gib ein Beispiel'." In Handkes anderen Werken begegnet man sogar Dingen, Tieren, Landschaften, Brücken und Wegen, Bäumen und Blumen, und nicht zuletzt und immer wieder, dem Schnee und dem Schneien, die etwas befreiend Schöpferisches in uns erwecken und unsere Existenz aufhellen, weil wir – in den Begriffen des Spinoza – doch selber Teil der ausgedehnten, denkenden Substanz sind und so an der absoluten Substanz, die Gott ist, teilhaben. Einer der "Verb für"-Sätze in Vor der Baumschattenwand nachts lautet: "Verb für den Schnee im Zugfenster: 'entgrenzt'"; ein Schnee-Gebet, das über das irdische Leben hinausreicht, heißt: "An meine Toten: 'Der ewige Schnee leuchte ihnen!' ('Immer noch Sturm')", und, um einen letzten Schnee-Text zu zitieren, der ins Irdisch-Alltägliche der Küche hineinführt: "'Willst du im Sommer den Winter sehen?' fragte ein Vater sein Kind. Und er öffnete den Tiefkühler voll mit Schneebällen." "Zuversicht?: Ich habe meine zwanzig Jahre alten Schuhe zur Reparatur gegeben und werde sie übermorgen abholen." Vor der Baumschattenwand nachts gehört zu Handkes Büchern der letzten Jahre, in denen der Tod, mehr als davor, sich in das Denken und in das Weltgefühl hineindrängt. Aus Der Große Fall wird in dem neuen Aufzeichnungsband der Satz zitiert: "An seinem letzten Tag auf Erden wachsen dem Helden der Geschichte die Haare und Fingernägel schneller und schneller". Ein anderes Notat hält die überfallartige Einsicht fest, plötzlich "keine Zeit mehr" zu haben: "Da ist das 'plötzlich' am Platz – ein tiefinneres 'plötzlich'; ein Fall aus dem Gefährt namens 'Zeit', ein Wegfall der lieben Gefährtin 'Zeit'." Wie liebevoll hat Handke über die Zeit als menschlichen Raum geschrieben, über die Formen von Zeit, die "Zeitschwellen" oder die einstehende Zeit des Hier und Jetzt als Gegenzeit zum Imperativ des Zeit ist Geld. In Vor der Baumschattenwand nachts wird, intensiver als zuvor, noch einmal und noch immer die Vielfalt der anderen, lebendig machenden Erfahrungen der Zeit beschworen – "Und wieder blühen die Wildkirschen und es wogt in ihnen die andere Zeit (1. Frühlingstag, Picardie)". So viele Zeitsphären werden in den Aufzeichnungen in Erinnerung gerufen, die Jahreszeiten, die Zeiten des Kirchenjahres, das Ostern der Passionsgeschichte und der Auferstehung, für Handke ein nie vergehendes gewaltiges Ereignis, die Familienzeit, die Zeit der Kinder, die Zeit des Gedenkens und der Erinnerung, die Zeit der Liebe, die Zeit des Lesens, die Zeit der Zitronenfalter und der sich verändernden Farben und der Jahreszeitenluft. Allesamt tragen sie bei zum großen Wundern über das Hiersein: "'Er wunderte sich, und wunderte sich' (Sonnenaufgang)", und dieses "Sich-Wundern über das Leben" führt auch hier, mit der kleinen Zweideutigkeit des Wortes "einst", zu Spinoza: "'Die Vernunft des Menschen besteht nicht darin, über den Tod nachzudenken, sondern über das Leben': so ungefähr einst Spinoza." Geblieben, und nur noch stärker geworden angesichts der Baumschattenwand nachts ist die Bereitschaft, die Wahrheit über das unaufhaltsame Zeitvergehen und die sich verkürzende Lebenszeit ins Lachen kippen zu lassen. In diesem Sinne heißt einer der "Verb"-Sätze: "Verb zur Wahrheit, die geformte: Sie 'macht Lachen' – so wahr ist sie. Siehe Kafka." Fast geheim wird in einem anderen Notat die Wahrheit, dass es zu bröckeln beginnt, aus dem Fall der Magnolienblüten herausgehört: "Verb zum Blütenfall der Magnolien: die Blüten 'bröckeln'." Und einer dieser wahren Sätze, die zum Lachen sind, ist ein Jahreszeiten-Satz. Er lautet: "Es herbstelt. – Es herbstelt das ganze Jahr." (Hans Höller, Album, 30.7.2016) - derstandard.at/2000042009249/Peter-Handke-Die-Kunst-des-Fragens
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http://swrmediathek.de/player.htm?show=4f41dd50-fca8-11e5-94e5-0026b975e0ea
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Audio Peter Handke: Vor der Baumschattenwand nachts
dradio.de - Büchermarkt PodcastGestern 16:11 Uhr
Peter Handke: Vor der Baumschattenwand nachts
Autor: Schmitz, Michaela
Sendung: Büchermarkt
Hören bis: 03.12.2016 15:1
Dieser Beitrag über Word, Today!, Praise ist eine Audio-Datei aus dem Kanal des Podcasts dradio.de - Büchermarkt, die du hier downloaden und online anhören kannst. Informiere dich über den dradio.de - Büchermarkt Podcast Download.


http://www.podcast.de/episode/274777843/Peter+Handke%3A+Vor+der+Baumschattenwand+nachts/
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PETER HANDKE WEISS WIE DUMM ER IST! ICH WEI SS ES AUCH "„Ich weiß, wie dumm ich bin“ http://www.fr-online.de/literatur/peter-handke--ich-weiss--wie-dumm-ich-bin-,1472266,34252394.html


„Ich weiß, wie dumm ich bin“

 Von MARTIN OEHLEN

Peter Handke bei einem Auftritt.  Foto: AFP
Neue Aufzeichnungen von Peter Handke unter dem handkeesken Titel „Vor der Baumschattenwand nachts“: Nichts Konkretes zu Politik oder Preisverleihungen in diesen Jahren. Wohl aber zu Biene, Eichelhäher und Zitronenfalter.

Tagebucheintragungen – so kategorisiert der Verlag Jung und Jung die neuesten Notate von Peter Handke (73), die er unter dem echt handkeesken Titel „Vor der Baumschattenwand nachts“ veröffentlicht. Tatsächlich handelt es sich eher um ein Arbeitsjournal aus den Jahren 2007 bis 2015. Das ist reich an spröden, erhabenen, feinsinnigen, klugen und auch einmal banalen Einlassungen – und ist trotz oder wegen der literarischen High-End-Sensibilität des Autors ein reizvoll forderndes Lese-Vergnügen.
Dabei fällt auf, dass kein Füllhorn des Verdrusses ausgeschüttet wird, sondern dass der Autor sich an vielerlei erfreuen kann – und sei es gar so unscheinbar wie ein ferner Hahnenschrei. Womöglich ist das die Frucht der Erkenntnis, die er einmal benennt: „Sich nicht freuen können: eine Art Dummheit (jedenfalls immer wieder die meine)“.
Handkes Aufzeichnungen, Pointen und Aphorismen, oft nur ein, zwei Zeilen lang, zielen zumeist auf Sprache und Literatur. Mit großer Hartnäckigkeit klopft er Worte ab, horcht er Redewendungen nach, spiegelt er sein Werk, stellt er Schreib-Regeln auf und probiert er Formulierungen aus: „Adjektiv für die Schwünge der Amseln über die Büsche: ,delphinesk‘“.
Er gibt Lesefrüchte preis und benennt seine (wohl nicht nur saisonalen) Lieblingsautoren. Darunter: Ilse Aichinger, Ibn Arabi, George Bernanos, Goethe („Alles an ihm, um ihn herum, geht mich an“), Gerhard Meier, Joyce, Arno Schmidt, Walker Percy, und „Kafka ist nicht gestorben“. Eine Neigung zum Seriellen lugt aus diversen Rubriken. So versammelt er unter dem Stichwort „Und“ Wort- und Satz-Kombinationen, deren Witz und Triftigkeit oft rätselhaft bleiben.

Einiges bleibt obskur, anderes ist geradezu volksnah

Aber das erwartet man geradezu von einer Handke-Lektüre, dass sich manche Türe nur schwer öffnen lässt. Einige rare Stellen kann sich zwar gleich schenken, wer nicht des Griechischen mächtig ist. Und anderes bleibt auch nach mehrmaliger Prüfung obskur. Dann aber gibt sich Handke geradezu volksnah.
Das Buch
Peter Handke: Vor der Baumschattenwand nachts – Zeichen und Anflüge von der Peripherie 2007-2015. Jung und Jung, Salzburg 2016. 424 S., 28 Euro.
Nichts Konkretes zu Politik oder Preisverleihungen in diesen Jahren. Wohl aber zu Biene, Eichelhäher und Zitronenfalter. Mehr noch zur Befindlichkeit: „Fortschritt im Alter: Ich weiß, wie dumm ich bin“. Oder zu einem Bedürfnis: „Eine Art Luxus: Ich werde in Ruhe gelassen.“ Und wie hält er es mit der Religion? „Mehr an Gebet ist nicht in mir als ein zeitweiliges ,Gott, wie schön!‘?“
Das Fragezeichen, das hier den Satz beendet, setzt er oft ein und weist den Behutsamen, den Spitzfindigen aus. Es steht auch am Ende einer anrührenden Passage: „Ich weiß immer noch zu wenig vom Leben des Geistes, viel zu wenig, viel, viel zu wenig. Und bald wird er schließen, der Tempel des Geistes?“ Das Vergänglichkeits-Thema findet sich in diesem Buch, dem einige Zeichnungen des Autors beigefügt sind, auch in einer amüsanten Variante: „Keiner fragt mich mehr, wie es mir geht. Bin ich denn schon unsterblich?“ Handke, eher heiter, das hat was.

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Appelle des Innehaltens, Dokumente der Besinnung

Auch in seiner neuesten Gedankensammlung erweist sich Peter Handke als unermüdlicher Wortklauber
Hamburg
Peter Handke als Flaneur und Homme des lettres, das ist nichts wirklich Neues. Seine zahlreichen Bücher berichten darüber.
Die vorliegenden Notizen, die im Zeitraum zwischen 2007 und 2015 entstanden sind, bieten neue Zugänge und Einblicke in eine Wahrnehmungsunternehmung ganz eigener Art. Der Leser wird gleichsam an die Hand genommen, um bei der Bewältigung von Erlebnissen, Gedankenblitzen, Reflexionen und Überlegungen als Augen- und Gedankenzeuge in den Wahrnehmungsprozess unmittelbar einbezogen zu werden. Eigentlich ein relativ unkompliziertes Konzept einer Vermittlung von Mitteilungen. Umso erstaunlicher sind die schier unkontrollierbaren Folgen dieser Unternehmung. Im Gefolge dieser vorgelegten Notizen entfaltet sich ein wahres Panoptikum an Anregungen:
„Meine Momente: die Wirbel der Kastanienblüten im Rinnstein; die Sandwirbel in den Straßenbahnschienen“.
In manchen Sätzen verbergen sich Andeutungen, deren Schicksal es ist, niemals erzählt zu werden, an anderen Stellen bewundert man die exakte Knappheit genauer Beobachtung. Selbstverständlich ist angesichts der ausgebreiteten Fülle nicht zu vermeiden, daß sich Blindgänger und Fehlversuche einschleichen.
Bestimmte Modelle der Vergegenwärtigung kehren im Laufe der vorliegenden Notizen immer wieder. So wird zum Beispiel einer getätigten Feststellung oder Beobachtung der Zusatz „eines der 11 Gebote“ verliehen, lyrischen Skizzen der Nachsatz „Fast ein Gedicht“ zugefügt und zwei eigentlich innerlich nicht verwandte Vorgänge mit dem Hinweis „Und“ eingeleitet.
Es handelt sich bei Handkes Notizen um Einsichten, die sich dem alltäglichen Staunen widmen, Freude an der Beobachtung wiedergeben und von tiefer, geradezu körperlich spürbarer Dankbarkeit gegenüber der Zeit, der Ruhe und der Besinnung durchwirkt sind:
„Die Feuerwanzen ausschwärmend kreuz und quer durch den Garten mit Farben und Zeichen auf dem Rücken wie auf Indianerzelten“.
Zuweilen würzen kurze Zitate Handkes Sammlung, die zugleich Rückschlüsse auf den lebenslangen Leser Handke zulassen. So kommen etwa Ilse Aichinger, Heimito von Doderer, Nikolaj Berdjajew, Georges Bernanos oder John Cheever zu Wort. Bezeichnenderweise versperrt sich dem notierenden Flaneur auch die geheimnisvolle Welt der Religion und vor allem ihrer Mystik nicht. Neben der christlichen Tradition finden sich zahllose Weisheiten aus der islamischen Überlieferung.
Immer wieder kommt Handke auf seine vaterlose Kindheit zu sprechen oder räsoniert über die Seelenlosigkeit moderner Flughäfen. Das Fremde und Befremdliche nimmt Handke gefangen:
„`Unvergleichlich´: das unvergleichliche Geräusch beim Aufziehen einer leeren Schublade in einem Hotelzimmer an einem unbekannten Ort“.
Das Motiv des gelben Zitronenfalters holt Handke immer wieder ein, ebenso Bilder und Erinnerungsstücke an Stara Ves, dem slowenischen Dorf seiner Kindheit in Kärnten.
Ein besonderer Vorzug dieser vorgelegten Ausgabe liegt darin, daß auch kleine, mehrfarbige Skizzen Peter Handkes samt ihrer handschriftlichen Kennzeichnung im Textkorpus übernommen wurden. Es liegt somit eine so ansprechende wie sympathische Gedankensammlung vor, die zugleich eine Art von Werkstattbericht, Notizblock, Gebrauchsanleitung und Beichte darstellt. Der in schwarzer Aufmachung gehaltene Einband erinnert nicht zuletzt aufgrund seines Umfanges wie auch des handlichen Formats an ein Gesangbuch oder eine Bibel. Auch wenn glücklicherweise kein weltanschaulicher Gesamtunterricht vorliegt - ein abgerundeter Kosmos poetischer Überraschungsmomente wartet allemal mit frischen Bildern auf.

Peter Handke
Vor der Baumschattenwand nachts
Zeichen und Anflüge von der Peripherie, 2007-2015
mit 80 farbigen Zeichnungen des Autors
Jung und Jung
2016 · 424 Seiten · 28,00 Euro
ISBN:
978-3-99027-083-7
http://www.fixpoetry.com/feuilleton/kritiken/peter-handke/vor-der-baumschattenwand-nachts


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Zeichen und Anflüge von der Peripherie, 2007-2015

Verlag: Jung u. Jung
424 Seiten, Taschenbuch, € 28,–, 
mit 80 farbigen Zeichnungen des Autors, 

Kurzbeschreibung: 
Kaum ein zweiter Autor hat in den letzten Jahrzehnten die Welt mit so viel Aufmerksamkeit angeschaut wie Peter Handke; und diese Aufmerksamkeit ist Wahrnehmung, die gelten lässt. Sie muss nicht mehr in Sprache übertragen werden, denn sie ist Sprache, der Blick ist das Wort, in dem das Gesehene sich tatsächlich wahrgenommen fühlt.
Immer wieder gelingt es diesem Dichter die Welt so darzustellen, dass sie zur Geltung kommt und sie sich und wir sie erkannt wissen, und immer schon ist ihm das in besonderer Weise in seinen Notiz- und Tagebüchern gelungen. In denen der Jahre nach der Jahrtausendwende hat Peter Handke sich zunehmend darauf eingelassen, seine Beobachtungen in aphoristischen Formulierungen zu bündeln, die für den Leser Anstöße in offenes Gelände sind, wo er im »Karawanenzug der Sätze« der Welt auf ungewohnte und erfrischende Weise begegnet.

Über den Autor: 
Geboren 1942 in Griffen, Kärnten, lebt in der Nähe von Paris.
Er hat mehr als siebzig Erzählungen und Prosawerke sowie knapp zwei Dutzend Stücke verfasst. Für sein Schaffen ist Peter Handke mit zahlreichen internationalen Preisen geehrt worden. 

Mein Eindruck: 

Platz 1 der SWR-Bestenliste

Nachdem mich in letzter Zeit viel in der aktuellen zeitgenössischen Literatur gelangweilt oder genervt hat, bin ich jetzt (für mich selbst unerwartet) bei Peter Handke angekommen. 

Dieses Buch wird als Tagebuch bezeichnet, das die Jahre 2007 bis 2015 abdeckt, aber ein konventionelles Tagebuch ist es sicher nicht. Handke betreibt keine exzessive Nabelschau, gemessen an vergleichbaren Journalen. 
Es besteht aus sehr vielen kurzen und kürzesten Aphorismen, die manchmal aus nur ein oder zwei Zeilen bestehen.

Tatsächlich kann ich viel mit einigen, sogar vielen, der Sätze anfangen.
Peter Handke ist in diesen Texten ein genauer Beobachter des Ungewöhnlichen im Alltäglichen, und was er wahrnimmt drückt er auf ungewöhnliche Art aus, indem er seine Assoziationen ausformuliert. 

Deutlich spürbar ist eine innere Zurückgezogenheit, ein Bedürfnis nach Stille.
Politisches oder Zeitbezug gibt es wenig. Das wäre für Handke ein 
ästhetisches Problem. Der Gegenwart ist kaum mal etwas zuordenbar, oft gibt es Erinnerungen an die Vergangenheit, zum Beispiel an die Kindheit in Kärnten.

Es entstehen viele Handke-Texte in dieser Zeit, auf die der Ibsen-Preisträger gelegentlich Bezug nimmt: Versuch Über den Pilznarren, Versuch über den stillen Ort, dieTheaterstücke Immer noch Sturm und Die schönen Tage von Aranjuez u.a. Zum Teil auch noch nicht veröffentlichte (Letztes Epos). Das fand ich ziemlich interessant.
Handke zeichnet auch! Den vielen, im Buch enthaltenen Zeichnungen kann ich jedoch wenig abgewinnen, sie sind zu klein. 

Handke macht viele Naturbeobachtungen, vor allen immer wieder Vögel: Schwalben, Fasan, Elstern, Rotkelchen, Tannenmeise, Wildgänse, Tauben, Spatzen, Kraniche, Waldkäuzchen, Fledermaus, Eichelhäher, Schwäne, Dohlen.
Auch ein Rabe, der einsame Schreihals (niemand antwortet ihm).

Musikalische oder literarische Einflüsse werden immer wieder genannt oder zitiert: Schubert, Johnny Cash, Stifter, Nietzsche, viel John Cheever und immer wieder Goethe.

Literatur bestimmt Handkes Leben.

Ein Zitat:
“Ohne Lesen bin ich nichts. Im Lesen, mit ihm und
durch es bin ich Niemand und Jeder. Ernsthaftlesen -
sich ernstlesen. 

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Kult um das Jetzt

Der Versuchung zur Menschenverachtung widerstehen. Ironie und Polemik hinter sich lassen und sich dankbar der Wahrnehmung überlassen: Peter Handkes überschwängliches Tagebuch







Der Schriftsteller Peter Handke
Der Schriftsteller Peter Handke © dpa
Die Fortsetzung als Wiederholung und umgekehrt die Wiederholung als Fortsetzung, das ist das Prinzip Peter Handkes. Kein Wunder, dass ihm in Goethes Werk die "Folge" so gefällt. Dies sei, schreibt er in seinem neuen Journal, dasjenige Substantiv, das bei dem Meister aus Frankfurt am häufigsten vorkomme. Wir können das nicht nachzählen, wollen es dem mittlerweile 73-jährigen Meister aus Griffen (Kärnten) aber gern glauben. Als Folge jedenfalls darf man sein neues schönes Tagebuch der Jahre 2007 bis 2015 betrachten, das den verspielten Titel Vor der Baumschattenwand nachts trägt und als Zusatz: Zeichen und Anflüge von der Peripherie.
Es stimmt schon, dass die Peripherie bei Handke ein wichtiges Leitmotiv ist: Er, der Junge vom Land, aufgewachsen an der Grenze zu Slowenien, meidet die Idee des geografischen Zentrums, die Idee eines pochenden Herzens der Weltmetropolen, die bei den meisten Zeitgenossen immer noch als Sehnsuchtsmaschine wirken. Auf nach Paris! Auf nach Madrid und New York, denkt der junge Mensch, sobald er flügge wird. Nicht so Handke. Ihn reizen seit je der Rand und die Ränder.
Aber das ist nur ein Aspekt, und er führt in die Irre, wenn man diese neue "Folge" seiner unausgesetzten, neben Büchern, Stücken und Filmbüchern entstehenden Notate als der Peripherie verpflichtet ansieht. Die Wahrheit ist, und deshalb liest man das Buch mit nie nachlassender Spannung, dass hier einer sein eigenes Zentrum sucht. Sein Wesen, seine Seele – ganz wie die berühmten Bekenntnis-Schreiber Augustinus oder Rousseau. Über Augustinus bemerkte Gershom Scholem, er habe den "inneren Menschen" entdeckt: eines von vielen Zitaten, die man "jetzt" bei Handke findet. Um das "Jetzt!" treibt er geradezu einen Kult: Man dürfe es nicht verstreichen lassen durch Gleichgültigkeit, durch Unaufmerksamkeit. So schreibt Handke einmal, es sei schon viel wert, wenn er an einem Tag nicht Fernsehen geschaut oder kein Geld ausgegeben habe. Im Lesen und Gehen hingegen sei er ganz bei sich selbst.
Man kann Handkes Ethik der höchsten Aufmerksamkeit für den Augenblick etwas Mystisch-Mönchisches nicht absprechen. Dabei findet er ein sehr weltliches Bild für sich selbst: Von all den "Landstreichern der Gegend und Wälder" sei er wohl der "einig Übrige" – ein poetisches, kein realistisches Bild. Denn auch dies gibt Handke zu: Er vergesse oft, dass er ja reich sei. Ein Reicher, der die Armen sieht (der nicht wegschaut), beispielsweise in einer Bar in der Picardie: "Die besonders scharfen Bügelfalten der Verlorenen." Oder, immer wieder, in den Vorortzügen die jungen, müden Frauen auf dem Arbeitsweg. Überhaupt die Erschöpfung der einfachen Leute, die dieser reiche Landstreicher in Augenschein nimmt. Das Erbarmen, an dem ihm so viel liegt und das er scharf gegen das Mitleid abgegrenzt wissen möchte, man spürt es durchaus in diesen Aufzeichnungen.
Heiliger Handke? O nein. Sein Wesen ist – war? – oft wütend und des Hasses fähig (auf die "westlichen Medien" etwa, wir erinnern uns); nun sucht er das Sanfte in sich. Manche Selbstanschuldigung, etwa "undankbar" oder "ungeduldig" zu sein, wäre eines Protestanten würdig. Doch ist Handke durch und durch Katholik. Die Heilige Messe sei seiner Seele unverzichtbar, erfahren wir, jedoch nicht im missionarischen Sinne seines deutschen Kollegen Martin Mosebach, der gern die ganze Welt katholisch sähe, sondern als Ruhe- und Bescheidenheitspol eines hitzigen Individuums, als Korrektiv der eigenen Alltagsasozialität: "Eine der Wohltaten der Heiligen Messe: ich sitze ordentlich; ich stehe, zum Beispiel beim Lesen des Evangeliums, ordentlich auf; ich setze mich bei der Predigt ordentlich nieder; ich kniee bei der Wandlung ordentlich hin; ich reihe mich beim Gehen hin zum Empfangen des 'corpus Christi' ordentlich ein in die anderen Empfänger; ich kehre danach auf einem ordentlichen Umweg zurück in die Bank."
Dieser Artikel stammt aus der ZEIT Nr. 18 vom 21.4.2016.
Dieser Artikel stammt aus der ZEIT Nr. 18 vom 21.4.2016.
Schon in seinem viel gerühmten Journal Gestern unterwegs (2006) hatte sich Handke als Kirchenbesucher zu erkennen gegeben. Dort waren es vor allem die Bauwerke der Romanik, die Tympana und Kapitelle mit ihren überpersönlichen Steinfiguren, die ihm zu Herzen gingen auf seinen vielen Reisen. Oder, nicht zu vergessen, das Kloster Port Royal vor den Toren von Paris, das mit dem Namen Pascals verbunden ist. Diesmal ist Handke weniger "unterwegs"; es mag mit der erneuten Sesshaftigkeit am Rande von Paris (unweit von Port Royal) zu tun haben oder auch mit nachlassender Lust und Kraft, wie ein schwer beladener Pilger durch viele Länder zu wandern. Ja, da ist eine neue Ruhe zu spüren; ein Nachlassen des Aufgeriebenseins, eine Beschränkung des Horizonts auf das Näherliegende wie den eigenen Garten, wo Blätter fallen; wo Vögel und Insekten zu beobachten sind – lauter Stillleben, gemalt-geschrieben mit der eigenen ("dankbaren") Wahrnehmung.
Vieles lässt sich entdecken, auch wiederentdecken in diesen Aufzeichnungen: immer wieder die Kinder als göttliche Unschuldsrepräsentanten; das Lob des Weinens; die Ausfälle gegen den "Stil", überhaupt gegen das Handwerk des Schreibens; die Abneigung gegen "das lieblose Bürgertum" (verkörpert durch Thomas Mann); die Intelligenz des Gefühls in der "wahren Empfindung"; das slowenische Großvaterdorf Stara Vas; der Tick mit dem Verbindungswort "und"; die Obsession mit dem passenden Verb; die liebenswürdige Dreistigkeit, sich "11. Gebote" zu erfinden (und zwar ganz viele 11. Gebote); das identifikationsträchtige Geschichtsbild der Kärntner Partisanen oder auch ketzerische Fragen wie die: "Werden wir Nichttätowierten bald in der Minderheit sein?"
Handkes Journal folgt dem Muster der Selbstvergewisserung, und was dabei herauskommt, ist, im Kern, ein entrückter, sagen wir ruhig: religiöser Wunsch nach "Gereinigtheit". (Mit "Öko" und sonstiger Sauberkeit hat das rein gar nichts zu tun.) Gereinigtheit, das bezieht sich auch auf die Verdrängung von Ironie und Polemik, und hier weiß Handke den bewunderten Goethe auf seiner Seite. Der schrieb 1826 an den Grafen Reinhard: "Alles Polemische an mir vorübergehen lassen. Der Mensch hat wirklich viel zu tun, wenn er sein eigenes Positives bis ans Ende durchführen will." Tatsächlich führen Handkes vor allem aus den Briefen zusammengeklaubte Zitate dazu, dass man ein heftiges Ziehen in der Brust verspürt: einen Goethe-Sog. Ja, Handke ist ein großer Leser, und das heißt, ein großer Finder.
Entscheidend aber ist die Frage, unabhängig von der Zustimmungsbereitschaft zu seinen Beobachtungen, welchen Gebrauch wir von einem solchen Aufzeichnungsbuch machen sollen oder wollen. In dem gekonnt komponierten Amalgam aus Beschwörungen ("Das 'Lass!', das Lassen, als eine Art des Ordnens, Ordnungsschaffens; der Lasser als Schöpfer") und Aphorismen ("Die Menschenverachtung ist eine große Versuchung"), das dieses Journal genauso auszeichnet wie die vorherigen, muss sich jeder lesend einen Weg zu dem Punkt bahnen, an dem sich etwas entzündet.
Persönlich gesprochen: Was die Kritikerin am meisten berührt, sind zwei Dinge. Zum einen das "Kind" Peter Handke, das nicht nur an der Hand des erinnerten Großvaters präsent ist, sondern auch als Erwachsener. Handke beschreibt sich als beides, als Vater und als Vaterlosen (der beim ungeliebten Stiefvater aufgewachsen war). Die Zärtlichkeit, die der Anblick von (fragenden, hüpfenden) Kindern (nicht nur eigenen) bei ihm auslöst, scheint auch eine Sehnsucht zu enthalten nach einer eben nicht gehabten Kindheit. Handke selbst war dann einer der ersten Väter seiner Generation, die am eigenen Kind etwas gutmachen wollten, die sich überhaupt in Anwesenheit des Kindes poetisch definierten. Womöglich, ahnt man plötzlich, ist das der Glutkern seiner postgoetheschen, antimachistischen Sensibilität, die gerade in diesem Journal (wieder) wunderbar fassbar wird, wenn es heißt: "Wenn ich bloß wüsste, was das ist, ein Mann."
Und das Zweite: Handkes knappe, fast priesterliche Reaktion auf den neuen Terror, der bei ihm, dem Vorstadt-Wahlpariser, unmittelbar angekommen ist. Er beharrt auf der Poesie der eigenen Subjektivität – so weit ginge er nicht, dieses Schreib- und Lebensprogramm aufzugeben. Aber er weiß, der Teufel klopft trotzdem an die Tür. Daten meidet Handke in seinen Journalen in der Regel. Dieses eine Mal nicht: "das Grollen des Hilflosen Gottes gegen die Schöpfungsmordbuben" vernimmt er am 13. November 2015, in der Picardie weilend. Es war der Tag, als im Pariser Bataclan und andernorts 130 Menschen erschossen und viele weitere verletzt wurden. Die politische Sphäre betritt Peter Handke diesmal nicht, weder emotional noch rhetorisch. Die letzte Seite ziert vielmehr eine Zeichnung Handkes von einer der Rosetten der Kathedrale Notre-Dame de Paris.
Das ist erstaunlich bei einem Mann, der das Poetische und das Politische so oft und so innig zusammengewünscht hatte. "Jetzt!", so scheint es, hat er sich von diesem Anspruch getrennt. Stattdessen hält er sich an Goethes West-östlichen Divan, in dem "der Dichter" sagt: "Alle Guten sind genügsam." Und man kann nicht anders, als darin ein Ideal seiner selbst zu sehen.
Peter Handke: Vor der Baumschattenwand nachts. Zeichen und Anflüge von der Peripherie 2007-2015; Verlag Jung und Jung, Salzburg 2016M 423 S., 28,- €

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Neue Rezension: Vor der Baumschattenwand nachts 

Vor der Baumschattenwand nachtsZeichen und Anflüge von der Peripherie 2007-2015 
(Peter Handke; Jung u. Jung)
Neu: EUR 28,00 


http://www.buechereule.de/wbb2/thread.php?threadid=88624
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Notizen zur GegenwartSchnabelkrach

http://www.sueddeutsche.de/kultur/notizen-zur-gegenwart-schnabelkrach-1.2953063

Was macht das Rotkehlchen? "Es flaumt." Peter Handkes tagebuchartige Aufzeichnungen aus den Jahre 2007 bis 2015 bieten zarte Zeilen, harte Kanzelworte und dann und wann auch ein "leises Grün".
Von Helmut Böttiger
"Schreiben: sich von sich überraschen lassen." Dieser Satz steht losgelöst von den anderen Sätzen da, durch Leerzeilen getrennt. Es ist ein Anspruch, dem Peter Handke mit jedem dieser Absätze gerecht zu werden versucht: Er notiert, was ihm durch den Kopf geht, und wenn er Lust hat, lässt er es einfach so stehen. Es ist eine späte Prosa, mit Abstraktionen und Zuspitzungen, Gedankensplittern und verknappten Dialogen. Peter Handke, mittlerweile 73Jahre alt, hat immer schon tagebuchartige Aufzeichnungen veröffentlicht, und er hat das gezielt bei Verlagen getan, die in Salzburg ansässig sind, näher an seinem Herkommen als Suhrkamp, sein Haupthaus.
Da wurde immer nah am Ich operiert, da schaute sich der Autor selbst im Spiegel an, und es gab auch erzählerische Passagen über das Schwimmen in Flüssen oder Wanderungen im österreich-slawischen Übergangsraum, sehr suggestiv und die Atmosphäre auskostend. Im Vergleich zu den früheren Tagebüchern Handkes fällt nun die radikale Reduktion auf. Manchmal verdichten sich die einzelnen Zeilen zu Aphorismen, manchmal sind es donnernde Kanzelworte. Und manchmal schlichte Aussagesätze: "Kafka ist nicht gestorben."
In der spröden, sich oft entziehenden, mäandrierenden Schreibweise dieser "Zeichen und Anflüge von der Peripherie", so der Untertitel, könnte man Anklänge an Goethes "Wanderjahre" erkennen: vorletzte, verstreute Gedanken, die keine verbindenden Füllsätze mehr nötig haben. Und Goethe kommt auch sehr häufig vor, gerade der spröde, sentenzenhafte der letzten Jahre, den sich Handke programmatisch vorzunehmen scheint und von dem er immer wieder Funde zitiert. Aber spätestens an solchen Stellen sollte man nie zu sicher sein. Handke schlägt oft Haken: "Der Goethe der 'Wanderjahre', nach der Luftigkeit der 'Theatralischen Sendung' und der 'Lehrjahre', hat etwas von einem 'Gruftie'".
Das ist eine sehr eigene Art, mit Selbstironie und Augenzwinkern umzugehen. Die "Luftigkeit", der sich Handke schreibend nähert und die immer ein Ideal für ihn bleibt, ist durch eine große Ernsthaftigkeit hindurchgegangen. "Wie hoch ernst wir sein müssen, um nach alter Weise heiter zu sein": Diesen Satz des alten Meisters ruft er sich wiederholt in Erinnerung.

Was macht das Rotkehlchen? Handke schreibt: "Es flaumt."

Im Zentrum dieses Breviers stehen Überlegungen zur Tätigkeit des Schreibens. Ein ständig wiederkehrendes Motiv ist die Suche nach passenden Verben; denn dieser Autor lebt in Verben und nicht in Hauptwörtern. Es geht ihm darum, einen vermeintlich beiläufigen Vorgang so genau zu fassen, dass man ihn wie zum ersten Mal sieht, um eine sinnliche Präzision. Als Verb für das "Wirkliche" findet Handke einmal "es wuchtet", als Verb für das Rotkehlchen "es flaumt". Für die "Freude" fallen ihm mehrere, zum Teil sehr gesuchte Zeitwörter ein, zum Beispiel: sie "skulpturiert" - "die vorher unscheinbarsten Formen treten in den Raum", werden körperlich.
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Es sind genaue Erkundungen der deutschen Sprache und ihres Wortschatzes, in den Verben bilden sich Bewegung und Dynamik ab, und es gilt zu differenzieren. Wenn Handke den Verben zur Freude die Verben zum "Glück" entgegensetzt, entstehen überraschende kleine Erzählungen und Szenen, ohne dass sie näher ausgeführt werden müssen: Das Glück "macht zittrig", "trübt" oder "entleibt".
Die Konzentration dieses Autors auf kleinste Dinge und Ereignisse, auf die "Spatzenbadekuhlen" in den Pfützen auf dem Bahnhofsvorplatz, auf das "Quittenblütenweiß", das er noch als Steigerung von "blütenweiß" erfährt oder auf den ersten Zitronenfalter im Jahr, dessen Erscheinen einem Festtag gleichkommt - man hat das oft als ein "Raunen" missverstanden, als ein überhöhtes Poetisieren. Wenn es sich da aber um ein Raunen handelt, ist es eher eines im Sinne Gottfried Benns, der von sich gerne sagte, er gehe in die Kneipe und "raune ein paar Verse" vor sich hin. Handke weigert sich, zu den "Gras(be)wisperern" gezählt zu werden, er lehnt es ab, "weltflüchtig zu werden". Dem Rauschen der Bäume zu lauschen bedeutet für ihn eine "Aktivierung". Und so ist auch der "Schnabelkrach" der Elstern, der entsteht, wenn sie die Dachrinne säubern, für ihn eins mit dem Schreiben.
Diesem Vorgang wird minutiös nachgehorcht. Einmal heißt es: ",Leises Grün': Kann man so sagen? Ja." Das Sich-selbst-ins-Wort-Fallen, das Nachfragen ist charakteristisch, es scheint sich in den letzten Büchern Handkes fast verselbständigt zu haben. Es gilt dem Bestreben, der Sprache ungewohnte Nuancen abzugewinnen, überraschbar zu bleiben. Die Wahrnehmung probiert sich ständig neu aus, und am Schluss steht oft eine Gegenfrage, ein Zweifel, ein Neuansatz.
Diese Art des Schreibens ist beileibe kein harmonischer Vorgang. Handke spricht sich zwar zu: "Immer wieder: Ich bin nicht zu politisieren", aber er ist in jeder Hinsicht ein "Reizbarer". Freude und Wut hängen bei ihm eng zusammen. Besonders prekär wird es, wenn die Öffentlichkeit ins Spiel kommt. "Hüte dich vor den geschulten Stimmen", heißt es zunächst eher abwägend, und gegen die allgegenwärtigen Routiniers steht das Diktum: "Kunst ist das Gegenteil von gut gemacht." Der Ton kann aber auch verschärft werden: "Die Öffentlichkeit ist dumm, und Andy Warhol ist ihr Prophet." Oder, durchaus nach innen gerichtet: "Publikum verdirbt." Joyce, Céline oder Arno Schmidt werden mit ihren "Punktlos-" und "Stummelsätzen" als Widerparts ausgemacht, die "aktuellen Dichterhorden und ihre Lyrikfeste" als "falsche Sinnstifter". Zu Handkes Suche nach "Zwischenräumen" und "Schwellenzuständen", nach dem freudigen Moment gehört als Pendant zwangsläufig auch eine aggressive Seite.
Dieser Autor war schon immer auch ein Polemiker, ein Wetterer gegen den Konsens: "Das lieblose Bürgertum ('vertreten' z. B. durch Th. Mann) darf nicht siegen." Auch in seinen hymnischsten Naturversenkungen, in den pathetischen Anleihen und Gebets-Anwandlungen steckt etwas Widerborstiges. Doch dieses Widerborstige hat zugleich etwas von Spiel, von Theater. Handke versucht, seine "Wanderjahre" auf jugendliche Weise zu begehen, wobei dieses Wandern seit jeher auch mit dem Bleistift auf dem Papier geschah. Seine Notate haben etwas Selbstreferenzielles, und bisweilen Manieristisches. Sie messen ihren Kosmos immer wieder neu aus und kümmern sich nicht um aktuelle Zuweisungen an die Literatur.
Der Schreiber Peter Handke schert sich nicht um Peinlichkeiten und Missverständnisse, typisch sind Nachsätze wie "Hab ich das nicht schon so ähnlich notiert? Und wenn - ". Er setzt sich aus, fragt unbeirrt weiter, und er genießt seine auf harte und auch zarte Weise erkämpfte Narrenfreiheit: "Ich wunderte mich über die Existenz, und ein Rauschen fuhr durch die Bäume."










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Vor der Baumschattenwand nachts

PETER HANDKE Schwalben, schwoft für mich Aufzeichnungen aus den Jahren 2007 und 2008http://www.welt.de/print/die_welt/literatur/article152706618/Schwalben-schwoft-fuer-mich.html






Der Vaterlose fühlt sich immer im Blickpunkt, im Guten wie im Bösen

Was hast du bei den Verlorenen zu suchen? Was für eine Hoffart! Warum sie nicht ihrem Schicksal überlassen?

Es ist nicht leicht, zu reisen. Als Niemand anfangen und enden. Ja, es ist nicht leicht, zu reisen – aber man hat Zeit

"Der eigne Wille machet eine Form nach seiner instehenden Natur/Aber im gelassenen Willen wird eine Form nach dem Modell der Ewigkeit gemacht" (Jakob Böhme)

Mein innerer Globus: der Körper als ein Globus leuchtend wie kein nachgemachter, elektrifizierter

Lang ist's her, daß ich den Sonntagsmann im schwarzen Anzug und weißen Hemd mit flatternden Hosenbeinen habe gehen sehen am Rand der Landstraße in Oberösterreich. Lang ist's her, daß ich an der Hand des Großvaters gegangen bin, im Vormorgenlicht angesichts der münzgroßen Regentropfen im Staub des Feldwegs bei Stara Vas

Gehen, querfeldein: Die Weltgeräusche – ein jedes so verschieden, jetzt das Fasanenschreien, jetzt das Truthähnekollern – werden zu einem (1) Weltgeräusch

Eine neue Selbstmordart: sich selber lebendig begraben

Verb zur Zeitnot: "frißt" (an mir)

Am großen Busbahnhof in einem fort die ankommenden Busse, ein jeder aus einem anderen Land, der jetzt aus einem TAULAND (einer betauten Gegend); der jetzt aus einem Trockenland; der aus einem Regenland; der nächste aus einem Hagelland, einem Eisblumenland, einem Kriegsland, einem Nachtland (nach einer nachtlangen Reise). – Studier alle die verschieden gezeichneten, gemusterten Fensterscheiben der daherkreisenden Busse: an jedem eine jede Scheibe anders beatmet von den Passagieren: Panikatem; Schau-Atem; Kinderatem; Altenatem; Wach-Atem; Müdigkeitsatem; Schlafatem; Spielatem. Und die Abdrücke der Nasen, Hände, Stirnen, Wangen auf den Busfenstern als die Landkarten (Belgrad, April 2007)

Schönes Haus!? Ja. Aber es fehlt das in ihm geschriebene Buch
"Leises Grün": Kann man so sagen? Ja
Was hieß Lesen? Zum Beispiel: "Sonnengeruch stieg aus dem Buch"
Mancher Aberglaube ist keiner – erzähl!
Alles ist doch gesagt? Nichts ist gesagt. Nichts ist zu sagen. Und wenn auch alles gesagt wäre – umso besser: Sag's auf deine Weise. Deine Weise – so du eine hast – wird gebraucht
Buchhändlerschüler? Aber du weißt ja nicht einmal, wie man ein Buch hält. Schau, wie du es hältst!
Es gibt auch episch fruchtbare Vorurteile? Ja, wenn sie sich auflösen
Je mehr Kommunikation, desto herzloser; ein wenig mehr Namenlosigkeit würde der Welt gut tun
Es gibt die Unschuld. Sie wird die Welt retten. Träume mich, Epos! Heute muß ich weit gehen: Fühle ich mich nicht im Aufbruch, im Aufbruchstraum von einer möglichen Menschheit, so hat das poetische, das entwerfende Schreiben keinen Sinn
Was ist meine Art Freude? Die Freude auf die Fortsetzung (Goethes "Folge")
Schreiben heißt auch: den Traum, den Großen, zügeln
Die verschiedenen Geher: der in seiner Art zu gehen bedrohliche, gewalttätige – dagegen der friedliche, der durch seine Art Gehen Friedenstiftende
Es tut gut, unter Seinesgleichen zu sein. Aber nicht zu lange
Die Lust, am Böse-, gar Schlechtsein: wie das Bedürfnis, aus Leibeskräften falsch zu singen (Bedürfnis? Lust?)
Es geht nichts über ein Menschengesicht, im ersten Morgenlicht
So schöne Gärten, und so böse Menschen
Bin ich denn der Diener meiner Kinder? Ja
Schreiben: Umträumen
Eine Stelle in einem Buch, die man gerade noch gelesen hat, wird beim Zurückblättern nicht mehr gefunden, so lange man auch blättert

2008

Der Nachbildmaler: ein Nachbild des Schnees; das Nachbild des Schneiens
Im Flugzeug über Europa: haben denn die Flüsse nichts anderes zu tun als zu mäandern? – Nein, sie haben nichts anderes zu tun
Verb für Mann und Frau: Sie "wecken einander"
Es stimmt: Gegen die Dummheit ist kein Kraut gewachsen, nicht ein einziges (die Filmchen "Versteckte Kamera" im Flugzeug), und es gibt vor ihr kein Entrinnen
Der tagtägliche Lucifer rising in mir, und sein täglicher kleiner Höllensturz. Aber ohne angemaßten Lichtträger kein Tag?
Was ich gesagt, ausgesprochen, ausgeplappert habe von meinem Innersten: Es ist nichts mehr zum Aufschreiben, ich kann es nicht mehr niederschreiben
Verb für den Schöpfer (Schöpferischen): "gibt ein Beispiel"
Verb zu den Bösen: "lassen nicht(s) sein"
Es hat alles sein Gutes – außer man tut es
Stufen: Bewußtlos essen / bewußt essen / sich bewußtessen
"Sitzt du an einem Buch?" – "Nein, ich gehe"
Er hat nichts zu verbergen, er ist kein Künstler
In den Vororten fangen die Rechtschreibfehler an
Ein Zitronenfaltertag ohne leibhaften Zitronenfalter. Aber Zitronenfalterluft, Zitronenfaltersonne, Zitronenfalterwind. Freilich: die Temperatur gegen Mittag: "Noch ein (1) Grad unter der Zitronenfalterskala"
Verb für das Wirkliche, das Reale: Es "wuchtet" (auch bloß in Form eines Tagpfauenauges)
"Bouvard und Pécuchet", das wißbegierige vereinsamte ältliche Laien-Männer-Paar: was für ein langweiliger Mythos, aber immerhin ein Mythos – der letzte bisher? (und der "vorletzte" der der "Wahlverwandtschaften"?)
Meine Schubert-Stunde: zum Beispiel die Messe des Ostersonntags in der Paulanerkirche, Wien 4, vor Wochen, und danach: Stunde der beschwingten, zu den Augenpaaren der anderen, Unbekannten hin schwingenden Gereinigtheit – füge solche Stunden aneinander. Schubert-Stunde als Reinheit, wie? Durch Ent-Wütigung und Anschauung, zum Beispiel der einander kreuzenden und sich bekreuzigenden, eher alten Meßbesucher auf dem Weg von und zur Kommunion / Eucharistie
Ich habe alle erlebten, ergangenen Erdgegenden in mir. Ich muß sie nur wecken, durch Innehalten. Vorsätzlichkeit gilt nicht
Schreiber, sei rückhaltlos. Keine Technik, es sei denn, die des (Ver)meidens
Nichts Schöneres als das gleichmäßige Bergauf in der Sonne; das Piano Schuberts und das Flappen des jungen Laubs über den Waldboden
Steigerungsform zu "Schweig!": "Schweig still!"
Eine weltumspannende Sprache: die der Kinderhüpfschritte (China – Alaska – Feuerland)
Elegante Fürsorglichkeit: Ideal
Schwermut: Ach, diese so frische Blüte da, sie wird verblühen. Ach, dieser so klare Bergkristall, er wird erblinden. "Jetzt helfen nur noch die Worte Gottes". Schwermut: Gegenwartsverlust, Gegenüberverlust, "ohn' Gegenüber ist mein Name"
Grundgütig (christlich): allbarmherzig (islamisch) gerecht (all-eins)
"Mein eigentliches Werk besteht ... nicht aus Vers oder Prosa, sondern in der Überwindung meiner Dummheit" (Doderer, spät, et ego?)
Ich, das Ich, "mein" Ich, ist nichtswürdig, wenn ich, es nicht Durchlaß werde (wird)
Aus dem Haus gehen mit dem Bedürfnis, zu grüßen; gleichwen
Das Theater hat keinen Sinn mehr. – Aber es muß einen haben
Schwalben, schwoft für mich
Das Geschrei der Kinder: Es gibt schönere Musik. Aber es ist Musik
Beim Hören von "Owner Of A Lonely Heart": Was täten wir ohne Lieder? (Auch da ist einmal ein "wir" am Platz)
Mehr an Gebet ist nicht in mir als ein zeitweiliges "Gott, wie schön!"?
Du willst deine Trauer fühlen? Beweg dich! (Gerhard Meier ist gestern gestorben)
Das Gedächtnis, das Gedenken, das Eingedenk-Sein liegt bewahrt (konzentriert) im Körper in Zwischenräumen aller Art, in Knochen, Sehnen, Adern, Hautzellen, überhaupt Zellen, Gelenken vor allem, Knie, Arme: diese dehnen! – und eine Gedächtniszelle nach der andern kehrt zurück und macht sich "ganzkörperweise" bemerkbar
Ich freue mich: auf den Tau von Alaska
Noch einmal "Schwermut": Wo eine Form ist, sehe ich eine Störung

2015

"Herkunft des Fleisches: Geboren in Deutschland. Aufgezogen: In Deutschland. Geschlachtet: In Deutschland" (Bistro, schwarze Tafel)
Unser Text ist ein Auszug aus Peter Handkes neuem Buch "Vor der Baumschattenwand nachts. Zeichen und Anflüge von der Peripherie 2007–2015", das am 8. März im Salzburger Verlag Jung und Jung erscheint (424 S., 28 €).

Peter Handkes Sammlung "Vor der Baumschattenwand nachts" bündelt Gedankensplitter, Beobachtungen und spielerische Dialoge aus den Jahren 2007 bis 2015. Im Zentrum stehen dabei Überlegungen zur Tätigkeit des Schreibens. http://www.deutschlandradiokultur.de/peter-handke-vor-der-baumschattenwand-nachts-radikal.1270.de.html?dram:article_id=347442

Radikal verknappt

Von Helmut Böttiger
Beitrag hören
Autor Peter Handke im Oktober 2014 in Wien. (picture alliance / dpa / Georg Hochmuth)
Peter Handke veröffentlicht autobiografische Schriften in Österreich (picture alliance / dpa / Georg Hochmuth)
Peter Handkes Sammlung "Vor der Baumschattenwand nachts" bündelt Gedankensplitter, Beobachtungen und spielerische Dialoge aus den Jahren 2007 bis 2015. Im Zentrum stehen dabei Überlegungen zur Tätigkeit des Schreibens.
Peter Handke ist ein Schreiber. Er hat immer Papier und Bleistift dabei, und er notiert, was ihm auffällt. Ein wichtiger Bestandteil seines Werks sind schon immer die Tagebücher gewesen, und er hat mit seinem österreichischen Widerpart Thomas Bernhard gemein, dass er die eher intimeren Schriften nicht bei seinem Stammverlag Suhrkamp, sondern in Salzburg veröffentlicht. So erscheinen die "Zeichen und Anflüge von der Peripherie 2007-2015" nun wieder im dortigen Verlag Jung und Jung.
Schon dieser Untertitel verweist aber darauf, dass es sich beileibe nicht um gewöhnliche Tagebücher handelt. "Vor der Baumschattenwand nachts" sind äußerst verknappte Gedankensplitter, Beobachtungen, spielerische Dialoge und manchmal auch regelrechte Aphorismen.
Von den "Aufzeichnungen" die zuletzt im Jahr 2005 erschienen sind, unterscheiden sich die jetzigen Sätze durch ihre radikale Reduktion. Die Subjektivität, das sich in längeren Sätzen selbst vergewissernde Selbst- und Weltgefühl tritt hier zurück. Im Vergleich zu früheren Tagebüchern gibt es kaum mehr solch suggestive Passagen über Wanderungen und das Schwimmen in Flüssen.
Die Subjektivität probiert sich nach wie vor aus, aber sie versucht sich meist in Zuspitzungen und Abstraktionen. Oft steht am Schluss ein Fragezeichen, oft mündet das Ganze in ein allgemeines Suchen und in Gegenfragen.

Überlegungen zur Tätigkeit des Schreibens

Im Zentrum stehen Überlegungen zur Tätigkeit des Schreibens. Es gibt dabei mehrere Versuchsanordnungen. Eine davon ist, Sätze mit "und" zu bilden und diesem Und nachzuhorchen, einmal wird dieses "Und" auch definiert: es sei "Zwischenraum und Geheimnis". Das sind Schlüssel- und Lieblingsbegriffe von Handke, und er findet immer neue konkrete Bilder dafür.
Ein anderes Leitmotiv ist die Suche nach einem Verb für eine ganz bestimmte, poetische Situation. Als Verb für das "Wirkliche" findet er einmal "es wuchtet", als Verb für das Rotkehlchen "es flaumt" und für das Grünen "es zählt". Eine dazu passende Zeile heißt: "'Leises Grün': Kann man so sagen? Ja". Das Sich-selbst-ins-Wort-Fallen, das Nachhorchen ist charakteristisch, und als Bestreben ist deutlich erkennbar, der Sprache immer neue Nuancen abzugewinnen, frisch und überraschbar zu bleiben.
Vom Polemiker, vom Wüterich Handke ist aber auch etwas zu spüren. Er setzt sich von den "opportunistischen Künstlern" ab und hofft: "Das lieblose Bürgerum – Thomas Mann – darf nicht siegen. Aber was heißt schon 'siegen'?" Dennoch geht es hier nicht um Politik, es geht um Fragen nach der Kunst und auch um einen Rückblick auf die Beschäftigung mit der Kunst, es hat etwas von Wilhelm Meisters Wanderjahren.

Selbstironisch und verspielt

Es ist sehr hübsch, dass einer der Einträge lautet: "Der Goethe der 'Wanderjahre', nach der Luftigkeit der 'Theatralischen Sendung' und der 'Lehrjahre', hat etwas von einem 'Gruftie'".
Das hat etwas von Selbstironie, von etwas Verspieltem, das Handke auch in den hymnischsten Naturversenkungen, pathetischen Anleihen und Gebets-Anwandlungen zu eigen ist. Er betreibt seine Wanderjahre auf jugendliche Weise, wobei die "Wanderjahre" mittlerweile vor allem die des Bleistifts auf dem Papier sind.
Diese Notate haben etwas Selbstreferenzielles, sie haben auch etwas Manieristisches: Sie messen den Kosmos des Handke'schen Weltzugangs immer wieder neu aus und kümmern sich nicht um aktuelle Zuweisungen an die Literatur. Dieser Schreiber schert sich nicht um Peinlichkeiten und mögliche Missverständnisse, er schreibt seine Gedanken erstmal hin, und wenn er Lust hat, lässt er sie einfach so stehen.
Typisch sind Nachsätze wie "Hab ich das nicht schon so ähnlich notiert? Und wenn - ". Aber auch große Sätze, die sich gegen sofortige Besser- und Bescheidwisser richten: "Ein kluger Dichter ist keiner". Nein, das ist kein Eigentor. Das fragt nur unbeirrbar weiter danach, was das Poetische denn eigentlich ist.

Peter Handke: "Vor der Baumschattenwand nachts. Zeichen und Anflüge von der Peripherie 2007-2015". 
Verlag Jung und Jung, Salzburg 2016. 
424 Seiten, 28 Euro




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Peter Handkes trotzig-grandioser Weltalmanach »Vor der Baumschattenwand nachts«
Von Lothar Struck

1977 veröffentlichte Peter Handke mit »Das Gewicht der Welt« zum ersten Mal ein »Journal«, das aus (zum Teil leicht bearbeiteten) Einträgen aus seinen Notizbüchern bestand. Bis auf zwei Ausnahmen (»Phantasien der Wiederholung« 1983 und ein kurzer, transkribierter Ausschnitt aus dem Notizbuch vom 31. August 1978 bis 18. Oktober 1978, der im letzten Jahr erschien) wurden die Journale zunächst nicht in seinem Hausverlag veröffentlicht sondern im Residenz-Verlag und später dann bei Jung & Jung, was der persönlichen Freundschaft Handkes mit dem Lektor und späteren Geschäftsführer des Residenz-Verlags Jochen Jung geschuldet war, der 2000 dann seinen eigenen Verlag gründete. Erschienen die ersten drei Journale noch relativ zeitnah zu den Notaten änderte sich dies nicht zuletzt aufgrund der umfangreichen Reisen Handkes in den 1980er Jahren. »Am Felsfenster morgens« von 1998 versammelte Aufzeichnungen von 1982 bis 1987 und die Notizen zwischen 1987 und 1990 2005 in »Gestern unterwegs«. 2010 kam mit Ein Jahr aus der Nacht gesprochen eine Art Zwischenwerk heraus mit meist sehr kurzen, fast aphoristischen Sentenzen, die an Traumeindrücke erinnern sollen. Mit »Vor der Baumschattenwand nachts« liegt nun ein neues, umfangreiches Journal vor, welches Eintragungen von 2007 bis Ende 2015 aufführt. Damit ist man unter Aussparung der Notizen zwischen 1991 und 2006 (diese Notizbücher befinden sich in Marbach und damit nicht mehr im Besitz des Autors) in der Gegenwart angekommen. Erstmalig sind in einem Journalband Zeichnungen des Autors eingefügt. Das Kunststück ist, dass keine einzige der mehr als 80 farbigen Illustrationen die Phantasie des Lesers konditioniert, sondern sogar noch beflügelt.
Der Leser
Handke, der akribischste Leser, den man sich vorstellen kann, notiert aus seinen Lektüren, schlägt Brücken zu anderen literarischen Werken, kreist ein und umarmt, verwirft, grenzt ab, feuert sich an und tritt darüber zuweilen in ein ironisches Selbstgespräch. Einige Leseimpressionen bilden Rohmaterial für spätere Vor- oder Nachworte (die im kürzlich veröffentlichten Band Tage und Werke gebündelt publiziert wurden). Manches überrascht, wie beispielsweise die Affinitäten zu Stendhal und Thoreau oder auch das Urteil über John Cheever, diesem »ganz andere(n) amerikanische(n) Entertainer«, bei dem »keinerlei Kunstgriff oder Kniff zu spüren« sei, »und das ist seine Kunst (weder 'Kunstgriff' noch 'Schema')«. Handke liest den »armen Heinrich« von Hartmann von Aue und wieder einmal – zum wievielten Male? – Wolfram von Eschenbachs »Parzival« (in der Übersetzung von Dieter Kühn).
Überhaupt: Handke ist nicht nur ein Neuleser (bspw. Joaquim Maria Machado de Assis oder Giacomo Leopardi), sondern auch ein Wiederleser. »Entschlossen für Rußland sein – Tolstoi neu lesen!«, heißt es einmal. Andere Favoriten (seit jeher): Georges Bernanos, Heimito von Doderer oder Adalbert Stifter. Verblüffend diese Vielseitigkeit. Auch das Interesse an der bildenden Kunst ist ungebrochen, was die Lektüre des Kunsthistorikers Kurt Badt und dessen Cézanne-Interpretation zeigt. Am Rande erfährt man auch etwas über die musikalischen Präferenzen Handkes – von Haydn, Schubert, György Kurtág und – natürlich! – Van Morrison bis zu den gefeierten letzten Alben von Johnny Cash.
Nachdem sich Handke in der Vergangenheit mit der Mystik eines Meister Eckhart beschäftigt hatte, ist es nun Jakob Böhme. Vor allem jedoch wendet er sich den islamischen Sufis des 11. und 12. Jahrhunderts zu und entdeckt Parallelen zwischen islamischer und christlicher Mystik. Ausgiebig zitiert er Ibn al-FāridIbn ʿArabī und Al-Ghazālī und auch den Koran (nebst der Exegese einer Angelika Neuwirth). Dabei liest er die Schriften im arabischen Original (mit Wörterbuch) und erfreut sich an den Schriftzeichen, die er einmal mit Schneeflocken vergleicht. Mit Kamo no Chōmei, wird ein japanischer Schriftsteller des 12. Jahrhunderts, der sich dem Buddhismus zuwandte, rezipiert. Handkes Einlassungen hierzu sind selten theologischer, eher spiritueller und vor allem literarischer Art. Über allen Lektüren steht jedoch Johann Wolfgang Goethe, der die Notizen des Jahres 2015 dominiert. Handke liest immer wieder Goethes Briefe und gerät dabei in entdeckerisches Schwärmen. Aber es gibt auch Distanzierungen, wie etwas Goethes »losschreiben« von allem Mystischen. Oder seinen »Effekt der Altklugheit«. Das naturwissenschaftlichem Wirken kommentiert Handke halb seufzend halb ehrfurchtsvoll: »Lieber, lieber Goethe – du mit deiner grenzenlosen Tätigkeit!«
Der Schreiber
Obschon Handke das Leser-Sein als eine hohe literarische Daseinsstufe auffasst ist er natürlich auch Schriftsteller. Das Journal ermöglicht hier zuweilen einen Ausflug in die Werkstatt, etwa bei der Entstehung der Theaterstücke Immer noch SturmDie schönen Tage von Aranjuez und Die Unschuldigen, ich und die Unbekannte am Rand der Landstraße. Auch Die morawische NachtDer Große Fall  und die Versuche über den Stillen Ort  und den Pilznarren entstehen in dieser Zeit. Man ertappt ihn beim »hineinschwindeln» eines Wortes in einer Übersetzung. Handke arbeitet häufig an mehreren Schreibtexten gleichzeitig und so wird man unvermittelt Zaungast von Vorarbeiten zu einer bisher unpublizierten Erzählung mit unterschiedlichen Arbeitstiteln wie »Das letzte Epos« oder »Die Obstdiebin«. Zuweilen dauert es einige Jahre, bis solche Arbeiten in ein fertiges Werk münden, aber zumindest schimmert eine neue große Erzählung hervor.
Im Gegensatz zu den vorherigen Journalen finden sich nur wenige Notate zu Fernreisen (einmal Sierra Nevada und etwas später ein Bad im »Eiswasser« des Rio Bermejo). Häufiger geht es in seinen geliebten »jugoslawischen« Karst oder der serbischen Enklave Velika Hoča im Kosovo. Aber da sitzt nicht nur ein Hieronymus in seinem Niemandsbucht-Gehäus. Da sucht, entdeckt, horcht, und schaut auch noch ein (entfernter) Nachfahre von Franz von Assisi, der mit den sich verirrenden Fliegen, flatternden Faltern oder  summenden Käfern spricht, den Spatzen beim Baden in kleinen Wegpfützen zuschaut, die Amseln als »Dachrinnennomaden« hören kann, sich am wippenden Gang der Elstern begeistert oder einfach nur Blättern beim Fallen zuschaut (kein zweiter Schriftsteller kann das derart innig erzählen). Wo andere mit ihrem Smartphone fotografieren würden, schreibt Handke, dieser letzte Land- und Flurstreicher, die Phänomene auf seinen Exkursionen in Haus, Garten und den umgebenden Wäldern auf. Später kommt noch ein neues Peripherie-Domizil in der Picardie dazu und es ist aufregend, Handke beim Einleben zuzusehen.
Der Sammler
Handke ist ein Schauer, Hörer und ewig feilender Wortzusammenfüger, aber auch ein Sammler. Als ich ihn im Frühherbst 2014 besuchte, fanden sich überall Tische mit Nüssen, Äpfeln und anderen Früchten, die er im Garten und Umland »erbeutet» hatte. Und auch in diesem Buch gibt es solche Gabentische. Zum Beispiel die »Und«-Suchen, in denen zunächst scheinbar Unzusammenhängendes zu einer neuen Impression verbunden wird: »Die Begräbnisglocke schlägt, und ich lege für ihre Zeit das Buch beiseite«. Oder: »Der glückliche Tag und der Moment des Herzblutens«. Da ist die emphatisch-beschwörende Suche nach einem »11. Gebot» (»Du sollst Deinen Dämon mobilisieren!« lautet eines). Oder er fordert sich auf, »Unvergleichlichkeiten» zu sammeln. Sehr beeindruckend und sofort inspirierend für den eigenen Gebrauch die »Zeitschwellen«, die anhand von phänomenologischen Beobachtungen eine Jahres- und/oder Tageszeit definieren, wie die »Meisenzeit« oder »der Erdbeerrötungtag» im Sommer, die Zeit des »Rissigwerden[s] der Nußschalen« nebst den »am Morgen erstmals wieder sichtbaren Atemwolken» im Herbst.
Handke formuliert kleine Epitaphe »für« von ihm geschätzte Schriftsteller. Er erfindet zu Substantiven neue Verben wie zum Beispiel das »Verb für die Anmut: Sie 'existiert' (und 'läßt existieren')« oder »Verb für die Seele: 'formt', oder 'verformt'“ (je nachdem)«. Höchst ertragreich für den Leser sind die Wortfindungsideen in den »Statt – sag«-Kreationen (»Statt 'unverhofft' sag 'unversehens'«). Oder er initiiert »Gebete«, die er entweder als Imperative für (oder gegen) sich selbst formuliert oder als kleine (nicht immer ernst gemeinte) Pretiosen findet: »Entziffere Dich, Erdreich!« heißt es dann etwas pathetisch und gleich danach: »Vater, erlöse mich von deinem freudlosen Lachen!« und schließlich das drohende Pathos brechend: »Zeig mir Krankem von ferne ein Krankenhaus, und ich werde auf der Stelle gesund!«
Erstaunlich einige sehr persönliche Einträge, meist dann, wenn er sich in das »Zeit-Raum-Schiff aus der Kindheit« in sein Heimatdorf Altenmarkt in der Marktgemeinde Griffen begibt, jenen Ort, den er konsequent mit seinem slowenischen Namen Stara Vas bezeichnet. Er besucht seinen Halbbruder Hans, den er zeichnet (und der 2013 stirbt), erinnert sich an den Großvater oder die sterbende Großmutter von vor 50 Jahren und träumt von der Schönheit der Mutter. Einmal, wie aus dem Nichts, eine Kindheitsevokation: »Es war Krieg, und die Lieder, die wir sangen, waren leise, auch wegen der Verdunkelung«. Sich selber nennt Handke mit leicht bitterem Unterton einen »Vaterlosen«.
Der Sprachkritiker
Nein, er sei kein Existenzialist schreibt Handke an einer anderen Stelle, aber ein Essenzialist. Und im Nu ist er wieder bei der Literatur: Denn »zur Essenz gehört das Abweichen und Ausweichen, weitestmöglich, immerzu – das Epische«. Ansonsten gibt es eher selten Eindeutigkeiten. Es überwiegt das tastende Suchen und Finden, wobei die Formulierung des Gefundenen häufig nur vorläufig gültig ist. Umso froher ist Handke, wenn er in seinen alten Büchern wie »Die Hornissen» oder »Langsame Heimkehr« ein Kontinuum zur Gegenwart entdeckt. Und das ein oder andere Bonmot wird halb spielerisch, halb stolz mit »Habe ich das nicht schon notiert?« kommentiert (und fast immer hatte er). Daneben gibt es Skurriles, Heiteres und sogar manchmal Kalauerndes. Etwa wenn er das »scharfe ß« zu seinem persönlichen »Weltkulturerbe« erhebt. Oder er imaginiert, dass nach dem Schlusspfiff des Schiedsrichters die Fußballer einfach weiterspielen. 
Und trotzdem: Jeder Eintrag ist von Handke bewusst geformte Sprache. Das sind keine rasch hingekritzelten Aphorismen, die auf Affekte des Lesers hin komponiert sind. Und so grenzt Handke hart die dichterische Sprache von der journalistischen ab. Da ist ein Adorno-Diktum »Blödsinn« und wird umformuliert: »Es gibt keine wahren Sätze inmitten von falschen«. Und von da ist nur ein kleiner Weg zum kernigen Fluch auf die »Kurzsatzschreiber« und wenig später dann der Kritik an den »Verlautbarungssätzen« der Journalisten, die er den dichterischen Hauptsätzen entgegenstellt.
In den raren Stellungnahmen zu gesellschaftlichen oder politischen Fragen zeigt sich Handke eher als Skeptiker, etwa seine Bemerkung vom »faulen Frieden« der »westlichen Welt«, in der »Luxusköche und Tennis'cracks'« Helden spielen. Oder seine Rede von den westlichen Staatsmännern »u. –frauen…heute: 'Die Unschuldigen schreiten zur Untat', und schreiten und schreiten, und obwohl sie Tragiker sind, nein, Tragisches (an)tun, sind sie sich dieses Tragischen keinmal bewußt…» Auch das »lieblose Bürgertum« – »'vertreten' z. B. durch Th. Mann« wie es einmal süffisant heißt - kommt nicht besser davon. Einmal durchbricht Handke die reine Zeitschwellen- und Jahreszeitendatierung und nennt ein konkretes Datum. Es ist der 13.November 2015, der Tag der Anschläge in Paris, der Tag an dem »Schöpfungsmordbuben« »Massaker um Massaker im Namen des Barmherzigen« verüben.
Der Weltflüchtling
»Vor der Baumschattenwand nachts« ist zugleich ernster und unernster als die beiden letzten Journale. Ernster weil es melancholische und demütige Stellen gibt, zuweilen kleine, sanfte Abschiede (die hier nicht ausgeführt werden – lest und schaut selbst!). Unernst in den Augenblicken spürbar heiterer Gelassenheit des Autors. Ein für den Leser fordernder aber auch eminent fruchtbarer und erfrischender Kontrast.
Ein einer Stelle bekennt sich Handke offen zum »Weltflüchtling», was an eine Notiz aus den 1980er Jahren erinnert, in der er sich mit dem eskapistischen Flucht-Vorwurf auseinandersetzte. »'Flucht' in die Natur, der Vorwurf trifft zu, wenn ich mich von einem Problem wegflüchte in die Natur, statt das Problem in die Natur mithineinzunehmen. Aber sich in die Natur zu begeben mit dem Problem, das wäre die ideale Folgehandlung auf das Problem – das Gegenteil von Flucht».
Tatsächlich lebt Handke in einer anderen Welt. Einer Welt, die nicht von den medialen Erregungen des Internet kontaminiert ist. Eine Welt, in der die Natur, der Rhythmus der Jahreszeiten, noch Relevant besitzt und nicht nur schnöde »Umwelt« ist. Eine Welt der Geduld, des Sein-Lassens und das bedeutet, so Handke: »Wo nichts geschah, habe ich zeitweise am meisten erlebt«. Aber auch eine Welt, in der es selten Mitmenschen zu geben scheint, was er aber immer als Menetekel vor Augen hat, wenn er zum Beispiel zur Liturgie gegen den »Menschenekel« anhebt und sich selbst vergewissert, dass Menschenverachtung eine Todsünde sei.    
Und ja: Realisten, Empiriker, Spiegelonline-Kolumnenschreiber und, um aus einem Theaterstück von Handke zu zitieren, »Unablenkbare«, »halblustige Unernste» oder »Unbesiegbare« werden verloren sein für diese Welt und damit auch für dieses Buch. Für alle anderen ist es eine Schatztruhe, die auch noch beim zweiten oder dritten Lesen funkelt.

Artikel online seit 11.03.16
http://www.glanzundelend.de/Red15/h15/peter-handke-baumschattenwand-struck.htm

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Dresden. 
„Achtlosigkeit als Vorstufe zum Verrat?“ fragt da Peter Handke an einer Stelle in seinem neuen Buch „Vor der Baumschattenwand nachts“. Und antwortet sogleich: „Achtlosigkeit als Verrat“. Und man liest diesen knappen klaren Satz und verspürt sofort den Impuls, ein Ausrufezeichen dahinter setzen zu müssen. Natürlich nicht nur, aber gerade auch, weil er wie so viele Sätze in diesem Buch einer ist, hinter dem überhaupt kein Schlusszeichen steht. Kein Punkt, kein Frage- oder Ausrufezeichen. Nichts.
Man kennt das aus einschlägigen Arbeiten Peter Handkes, ist doch „Vor der Baumschattenwand nachts“ ein weiterer Band jener Reihe, deren erster („Das Gewicht der Welt“) vor nunmehr fast 40 Jahren erschien. Es sind Bücher, die insgesamt mit dem gern dafür verwendeten Gattungsbegriff „Journal“ nur unzulänglich umklammert sind. Im Œuvre des Autors gleichsam Zwischen- oder Parallelwerke, bilden sie ein autonomes, sich fortspinnendes und verzweigendes Sammelsurium an mit knappster Genauigkeit skizzierten Beobachtungen, aphoristischen Dialogfetzen, Lektüre-Reflexionen und Gedankengang-Notizen. Und entsprechen dabei letztlich auch in all ihrer Unterschiedlichkeit dem, was jetzt in der Unterzeile zur „Baumschattenwand“ so schön mit „Zeichen und Anflüge von der Peripherie“ beschrieben ist.
Aus den Jahren 2007 bis 2015 stammen diese Aufzeichnungen und wirken oft wie aus dem Augenwinkel wahrgenommen, wie ein Blick über die Schulter, innehaltend im Gehen: „Wenn das Gehen von alleine ein Pilgern wird, ohne Pilgerziel: Ideal“ heißt es da einmal, und es klingt wie ein Tipp auch für diese Lektüre, durch die man tatsächlich pilgern kann (und sollte), wie eben ein Pilger ohne Ziel.
Menschen begegnen einem dabei (der Regisseur John Ford, die Mystiker Jakob Böhme oder Ibn Arabi, die Schriftsteller Franz Kafka oder John Cheever, Goethe vor allem), des Weiteren unterschiedliche Landschaften, Bücher natürlich. Und dann immer wieder, hervorgehoben wie ein Wegweiser, das Bindewort „und“. Die Konjunktion, von Handke wie leitmotivisch umkreist, als Vermittler, Zwischenraum und Geheimnis: „Gewitterdüster und Zucken weißer Schmetterlinge“, „Schönheit und Aufatmen“, „Licht und Versprechen“ verfügt er da. Und ohne „und“ dann einmal die: „Morgenbrise, Taglichttaufe“.
Immer wieder gibt es solch Verknappungen und Wortfindungen, in denen sich Stimmungen, Bilder und Welten eröffnen (auch deshalb ja kein Schlusszeichen, machen die doch etwas zu, was hier offen bleiben muss), angesichts derer man manchmal nur staunen mag. Aber wie steht es geschrieben: „Das Staunen wird uns retten“ Und so staunt eben auch Handke selbst immer wieder. Zum Beispiel darüber: „Johnny Cash auf seiner letzten Platte: Ein Sterbender singt – aber wie!“ Klar: so ein Satz braucht – unbedingt! – ein Ausrufezeichen. Und Handke setzt es dann auch.
Süffisant oder garstig kann er freilich auch sein, gelegentlich: „Wie halten die Dummköpfe die eigene Blödheit bloß aus? Dank ihrer Blödheit“ Oder: „In der Metro: Die Schönen steigen aus und die Hässlichen bleiben, und bleiben“. Oder: „Die aktuellen Dichterhorden und ihre Lyrikfeste: falsche Sinnstifter“.
Die „falschen Sinnstifter“ nun, die professionellen Meinungsmeiner und krakelenden Bescheidwisser jedweder Art – sie allesamt sind ja vor allem auch eins: Achtlos. Und sind in ihrer Achtlosigkeit nicht nur Unachtsame, sondern darüber hinaus eben oft fern jeglicher Achtung vor und vorm Anderen überhaupt. Auch dem anderen Leben gegenüber.
Der 13. November 2015 ist ein Datum, das Handke festhält in diesem Buch, in dem Zeit sonst ein zyklisches Kommen und Gehen der Jahreszeiten jenseits fixierter Datierungen ist: „Massaker um Massaker im Namen des Barmherzigen“ notiert er am Tag der Pariser Terroranschläge. Und freilich: Auch hier steht kein Schlusspunkt am Ende des Satzes. Darf dort nicht stehen. Die Gründe sind bekannt. Und bitter genug.
Achtsamkeit. Darin steckt das Wort „achten“, wie im Wort Aufmerksamkeit „aufmerken“ steckt. Und „aufmerken“, als Steigerungsform des bloßen Bemerkens und Registrierens, lässt „Vor der Baumschattenwand nachts“ immer wieder. Aufmerken, innehalten, durchatmen. Ein Buch wider die Achtlosigkeit. Und kein Schlusszeichen an dessen Schluss! Man nimmt das gern als ein Versprechen.
Von Steffen Georgi
http://www.dnn.de/Kultur/Kultur-News/Neues-Buch-von-Peter-Handke
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