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AM FELSFENSTER MORGENS - NOTIZBUCH, 1984
... Beschreibung Am vorderen Vorsatz ist Handkes Salzburger Adresse mit Telefonnummer notiert, ... des Notizbuchs entsprechen die Textstellen in Am Felsfenster morgens , S. 225-371 Werkbezüge ...AM FELSFENSTER MORGENS - NOTIZBUCH, 1986
... Am Felsfenster morgens - Notizbuch, 1986 Tabellarische ...AM FELSFENSTER MORGENS - NOTIZBUCH, 1987
... des Notizbuchs entsprechen die Seiten 447-481 im Journal Am Felsfenster morgens . ...AM FELSFENSTER MORGENS - BLEISTIFTMANUSKRIPT, 1997
... erste vollständige handschriftliche Fassung von Am Felsfenster morgens . Der Titel auf dem Deckblatt des Manuskripts weicht mit ...AM FELSFENSTER MORGENS - NOTIZBUCH, 1986
... Beschreibung Am vorderen Vorsatz ist Handkes Salzburger Wohnadresse und die Datierung ... I) AmFelsfenster morgens - Notizbuch, 1986 Tabellarische ...AM FELSFENSTER MORGENS
Erscheinungsort: Salzburg und Wien Verlag: …AM FELSFENSTER MORGENS - NOTIZBUCH, 1982
... der Buchdeckel verwendet (vorderes und hinteres Vorsatz). Am vorderen Vorsatz sind Handkes Salzburger Wohnadresse und Telefonnummer sowie ... Zeit übernahm Handke in Auswahl auch für sein Journal Am Felsfenster morgens . Lektürenotizen und -zitate treten nur vereinzelt ...AM FELSFENSTER MORGENS - NOTIZBUCH, 1987
... des Notizbuchs entsprechen die Seiten 447-481 im Journal Am Felsfenster morgens . ...AM FELSFENSTER MORGENS - NOTIZBUCH, 1983
... Beschreibung In Am Felsfenster morgens (AF 109) verweist Handke auf dieses verlorene Notizbuch ...AM FELSFENSTER MORGENS - NOTIZHEFT, 1985
... des Notizhefts entsprechen die Seiten 285-286 in Am Felsfenster morgen
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Tages-Anzeiger; 1998-03-10; Seite 57
Kultur
Funkelnde Splitter im Geroell
Der Leser wird zum Feind und doch auch zum Freund des Dichters. Peter Handkes Aufzeichnungen aus den achtziger Jahren: Am Felsfenster morgens.
Von Joerg Lau
Peter Handke pflegt seit Jahren erfolgreich das Bild einer weltabgewandten Dichterexistenz. Er lebt im selbstgewaehlten Exil seiner Niemandsbucht draussen auf dem Lande vor Paris. Er wandert, wie wir aus seinen Romanen wissen, tagelang durch die Waelder und spricht mit den Pilzen, die er alle mit Namen kennt. Das sorgsam gehuetete Image dieses Autors kontrastiert auffaellig mit seinem sicheren Haendchen fuer einpraegsame Slogans: Publikumsbeschimpfung, Die Angst des Tormanns beim Elfmeter, Der kurze Brief zum langen Abschied, Die Stunde der wahren Empfindung. Viele von Handkes Buchtiteln sind Jetons der gebildeten Alltagssprache geworden. Man muss sich offenbar hueten, seinen Selbstinszenierungen auf den Leim zu gehen: Handke, der so gerne im Gewand des Dichter-Priesters daherkommt, hat auch etwas von einem gewieften Werbetexter.
Ein sanfter Unmensch
Ohnehin: Je naeher man hinschaut, um so staerker schillert dieser Autor - ein Dandy des Stadtrands, koketter Einsiedler, sanfter Unmensch, eiskalter Idylliker, empfindsamer Polterer. Er sucht die profane Erleuchtung und geraet darueber ins Froemmeln. Er hasst Meinungen und verfaellt doch immer wieder ins Leitartikeln. Er verabscheut den Unernst des ironischen Redens und weiss zugleich, dass Pathos ohne Selbstironie zur Laecherlichkeit verdammt ist. Er sucht eigentlich einen unschuldigen Blick, aber sein Horror vor einer falschen Versoehnung treibt ihn immer wieder dazu, sich willentlich und sehenden Auges ins Unrecht zu setzen.
In seinem neuen Buch findet sich der aufschlussreiche Satz: Im Laufe der Jahre habe ich mein Gefuehl der Schuld verloren. Ich bin unschuldig geworden. Was aber fange ich mit meiner Unschuld an. Hier liegt vielleicht der geheime Antrieb seiner poetischen Identifikation mit dem serbischen Aggressor im Jugoslawienkrieg: Lieber gibt Handke, der engagierte Unpolitische, sich fuer die Verteidigung einer moralisch und politisch unhaltbaren Position her, als hinzunehmen, dass niemand mehr sie ueberhaupt in Betracht zieht - auch eine Art, etwas mit seiner Unschuld anzufangen.
Aus einer unzugaenglichen Zeit
Das neue Buch kommt aus einer Zeit, in der an jene eigenartigen Allianzen nicht im entferntesten zu denken war, die sich in den letzten Jahren gebildet haben. Diese Zeit ist noch gar nicht so lange vergangen und mutet doch schon eigenartig verschlossen und unzugaenglich an. Am Felsfenster morgens versammelt Notizen aus den Jahren 1982 bis 1987. Handke hatte fuer diese Spanne seinen Wohnsitz aus Frankreich nach Salzburg verlegt, der Schulausbildung seiner Tochter wegen. Private, ganz idiosynkratische Motive bedingen also die Wahl des Zeitabschnitts. Aber es leuchtet im Rueckblick auch aus anderen Gruenden ein, den Schnitt so wie Handke zu setzen.
Es handelt sich bei diesem Zeitraum naemlich um die letzten Jahre vor der unerwarteten Rueckkehr der Geschichte in die stillgestellte Welt des Nachkriegs. Es war der Abschluss jener am Ende gespenstisch heiteren Phase, die wir Westeuropaeer unter der gut beheizten Glasglocke des atomaren Patts der Grossmaechte verbringen durften. Und es war die Zeit der sogenannten Postmoderne, deren radikalste Fuersprecher sich der Geschichte schon endgueltig ins Nachhistorische entkommen glaubten. Postmoderne, Posthistoire, nachmetaphysisches Denken, neue Unuebersichtlichkeit, Ende der grossen Erzaehlungen: Es ist heute gar nicht einfach zu sagen, was es mit den seinerzeit so erfolgreichen und unmittelbar einleuchtenden Schlagworten auf sich hatte.
Im Kern des Lebensgefuehls, das man mit ihnen zu beschreiben versuchte, war jedenfalls eine grosse Erleichterung zu spueren, eine Art froehliche Resignation, wie ein Durchatmen nach langen sinnlosen Kaempfen: Es liess sich auch ohne die Sicherheit letzter Werte, ohne die Hoffnung auf totale Revolution und ohne feste Identitaeten ganz anstaendig leben. Peter Handkes Buch hat mit dieser Zeit zu tun und gibt ueber sie Auskunft, wenngleich auf seinen ueber fuenfhundert Seiten kaum einmal direkt auf das Tagesgeschehen, geschweige denn auf Stimmungen und Moden des intellektuellen Betriebs Bezug genommen wird. Handke teilt mit den Postmodernen einen antirationalistischen Verdacht: Die Vernunftsfinsterlinge, duestere Soeldner gegen alles Weitere (dahin ist es gekommen).
Eine Komoedie?
Seine Zeitgenossenschaft ist dennoch kein Ergebnis von UEbereinstimmung. Sie ergibt sich vielmehr gerade aus dem hartnaeckigen Versuch, sich den Zeitlaeuften zu entziehen: Distanziertheit, Relativismus, Coolness und alle anderen Masken der zynischen Vernunft der achtziger Jahre sind ihm ein Greuel. Anfang 1987 notiert er: Der Idealzustand ist es wahrscheinlich, die Zustaende laecherlich und zugleich ertraeglich zu finden. Ein solcher Zustand aber ist ihm selbst nicht zugaenglich, wie seine Notizen zeigen.
Handke wuenscht sich vielmehr eine Verwandlung, er strebt nach Innigkeit, Glauben, Gewissheit, Epiphanie und Reinheit, irgendeine, aber Reinheit. Zugleich weiss er, dass die Stunde der wahren Empfindung sich nicht erzwingen laesst: Ein Grundproblem ist es, zu sehen und gelten zu lassen. Von den Versuchen, guenstige Bedingungen fuer solches Sehen zu schaffen, handeln seine Aufzeichnungen. Und weil dieses Unternehmen scheitern muss, ist aus dem Buch, das davon Rechenschaft ablegt, eine Komoedie der Wahrnehmung geworden.
Eine Komoedie? Zugegeben, das klingt unwahrscheinlich, wenn man an Handkes teils selbstverschuldeten Ruf denkt. Er sei ein Bewisperer von Graesern, ein verwoehntes Kerlchen, das seine Gereiztheiten als innere Verwerfungen ausstellt, so giftete Peter Ruehmkorf - selber ein Meister des literarischen Narzissmus - im Tagebuch gegen seinen bestgehassten Kollegen. Zwar muessen Flora und Fauna um Handkes Domizil auf dem Salzburger Moenchsberg so manches ueber sich ergehen lassen: Der Holunderbusch im Vorfruehling wird gar als Gefiederter Freund begruesst.
Aber es gehoert eben zu Handkes Programm, Peinlichkeiten nicht wegzuredigieren: Im Zustand der (seltenen) Erhabenheit hoffe ich, dass zugleich etwas Laecherliches an mir sei (und waere es ein verdrehter Rockkragen). Es ist diese Entschlossenheit, sich eine Bloesse zu geben, die dem Buch seinen einnehmenden Hauch von Komoediantentum gibt. Sie ist freilich nicht mit jener schonungslosen Offenheit zu verwechseln, die von der Kritik so gerne geruehmt wird. Handke kritisiert diese Leerformel: Kritikerwort: = = (als Lob). Die Kunst aber hat schonungsvoll zu sein. Sie ist die hoechste Schonung. Schonungslos duerfen nur Wichte sein.
Was Handke hier aus seinen Notizen ueber sich und seine Arbeit zu sehen gibt, ist keine im zitierfaehigen Zustand ueberlieferte Sammlung von Maximen und Reflexionen. Die Notizen geben vielmehr Einblick in einen Arbeitsprozess voller grosser Vorsaetze und herber Rueckschlaege, und sie verzeichnen Trotz, Niedergeschlagenheit, Euphorie, Wut und - selten genug - Glueck und Gelassenheit.
Friedlich umherschauen
Was Handke ueber die Arbeit an seinen Erzaehlungen schreibt, gilt auch fuer diese Notizen: Ich stelle mir keinen Leser vor beim Schreiben; ich beziehe ihn schreibend ein. So schreibt er ueber seine Poetik: Wenn ich romancierhaft die Dinge registrieren oder recherchieren will, gerate ich ungut ausser mich. Paradox: Nicht beobachten, nicht fixieren, nicht genau hinschauen als eine Grundregel, ex negativo, fuer mein Aufschreiben. Ich kann - ja, kann - nur =friedlich umherschauen =
Ein Jahr spaeter notiert er seinen Abscheu ueber das scheussliche, falsche Lachen in meinem Land: Einmal einen von euch Witze-Erzaehlern erschlagen. Handke rechnet mit einem Leser auf Augenhoehe, der solche Widersprueche nicht gegen denjenigen verwendet, der sie offenlegt: Ein Feind ist vor allem der, der aus zwar vorhandenen, mich aber nicht bestimmenden Eigenschaften von mir ein Bild macht. Ich dagegen will mein eigenes von mir durchsetzen. Freilich habe ich gar kein Bild von mir, sondern ein blosses Bild-Gefuehl. Dieses will ich durchsetzen.
Es ist demnach fast unmoeglich, als Leser nicht zugleich auch zum Feind dieses Autors zu werden. Und manchmal kann man geradezu den Eindruck bekommen, als lege er es darauf an, dass man sich endlich der Wut ueber seine Lieblingstorheiten ueberlasse: Immer wieder diese kokette Medienkritik (Schrumpfherz vom Zeitungslesen), immer wieder das Prahlen mit kleinwinzigen Beobachtungen am Wegesrand voller Zitronenfalter und blauer Blumen, immer wieder das vornehme Naseruempfen ueber die Ironie als eine Art Verrohung.
Die Bilder des Beobachters
Aber dann sind da ploetzlich diese funkelnden Splitter mitten im Geroell der Meinungen. Handke verzeichnet an der Cote d Azur die ungeheure Anmut im Gang der Kellnerinnen, wenn sie nach dem Dienst nachts vom Hotel heimgehen. Er beobachtet in Salzburg die drei alten Maenner im lindenduftenden Gastgarten die Faschistenzeitung lesend. Beim Weggehen liessen sie die Zeitung auf dem Tisch liegen. Sofort schickte ein junger dicklicher Mann vom Nachbartisch seine kleinkleinen Kinder nach dem Zeug und las dann den Dreck im Kreis seiner so lieblichen Kinder. Und er sieht im August 1987 ein neues Jugoslawien an den Tag kommen in ungeheuren Bildern der Menschenverachtung, wie etwa jenes der Klosettfrau im Busbahnhof, die hinter einem ihrer Kunden einen nassen Gummihandschuh =in effigie = auf den Kachelboden schmiss, =Dass es nur so klatschte = (es gaebe noch und noch solche Bilder aufzuzaehlen).
Genervt, beglueckt, verwirrt legt man dieses Buch zur Seite. Man stellt es nicht gleich zu den anderen Handkes der letzten Jahre. Noch einmal: Die Errungenschaft der Kunst bleibt wohl, dass sie von all den Meinungen erloest und zurueckfuehrt ins Offene. So ist es. Handke, der beglueckende Ungluecksmensch hat es wieder einmal geschafft, dass man sich von all den Meinungen ueber ihn erloest fuehlt und wuenscht, er moege noch und noch solche Bilder aufzaehlen.
Peter Handke: Am Felsfenster morgens. Residenz Verlag, 542 Seiten, gebunden, 58 Franken.
BILD CHRIS SATTLBERGER/ANZENBERGER
Im Lauf der Jahre das Gefuehl der Schuld verloren: Peter Handke.
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Narziss und sein Hunger nach Erloesung Grosse Reisen fanden keinmal statt: Peter Handke flieht aus der Welt und kommt nur bei sich selbst an Manchem Leser von Peter Handkes Journalen mag es ergehen wie beim Anblick einer dieser praechtigen Zimmerpflanzen, die ob ihrer demonstrativen Natuerlichkeit eine leichte Irritation ausloesen und sich schliesslich beim Naeherkommen, gar Betasten als reines Kunstprodukt aus Stoff und Draht entpuppen. In seiner Vorbemerkung betont der Autor denn auch hoechst nachdruecklich, dass er aus seinen salzburgischen Augenblicks- und Stundenmitschriften zwischen 1982 und 1987 zwar eine rigorose Auswahl getroffen (etwa drei Viertel seien weggefallen), dabei aber kaum ein Wort geaendert habe; wo er sich aber dennoch zu einer Korrektur habe hinreissen lassen, habe er sie in der Regel umgehend wieder rueckgaengig gemacht. So viele Beteuerungen machen misstrauisch. Auch dem Autor scheint es bei der abermaligen Lektuere seiner Aufzeichnungen nicht ganz wohl gewesen zu sein. Jedenfalls macht sich seine Unbehaglichkeit sogleich stilistisch bemerkbar - in so ungluecklichen Praegungen wie: Grosse Reisen fanden keinmal statt oder das Wegfahren dauerte jeweils nur fuer kurze Expeditionen. Stilblueten dieser oder hoeherer Art bietet der Tagebuchtext genug; auch wenn man sie als bewusst erhalten gebliebene Zeichen fuer die Spontanitaet der Niederschrift werten wollte, beruehren sie doch merkwuerdig inmitten eines Kontextes, der zum grossen Teil Reflexionen ueber die Sprache enthaelt und deren Autor von sich bekennt: Niemand glaubt mehr an die Sprache; ausser mir . . . Dass es sich dabei um einen hoechst verzweiflungsvollen Glauben handelt, wird zwar nirgendwo eingestanden, doch lassen die raunenden Beschwoerungen kaum einen anderen Schluss zu. Da ist von der Gnade des Sprachsinns, der Gnade des einen Worts die Rede, da mueht sich Handke - verzagend-unverzagt - um das Mysterium der Erzaehlung und behauptet schliesslich: Die Erzaehlung entringt sich mir. Doch so qualvoll das alles klingt, so gelaeufig rinnt es dem Autor aus der Feder, pardon: dem Bleistift - eine Art Hofmannsthalsches Paradoxon. Schon Handkes Kollege und Landsmann hatte das Versagen der Sprache in seinem beruehmten Chandos-Brief mit einer sprachlichen Virtuositaet ohnegleichen beschrieben. Auch wenn sein Nachfahr anderes im Sinne hat: Zugang zu seinen Tagebuchaufzeichnungen gewinnt man erst, wenn man seine larmoyant-skeptischen Gefuehlsanfaelle als das Rollenkostuem eines Dichters nimmt, der darin seinen egozentrischen Geist, seine Verletzlichkeit und Eitelkeit, seine Fremdheit und Ortlosigkeit verbergen moechte. Wenn er Lesen und Schreiben als die ihm wesentlichsten Formen der Existenz ruehmt (Gefuehl der Vollstaendigkeit: Ein Bleistift liegt neben mir.), Heimweh zwar nach einem nicht zu Ende gelesenen Buch, aber nicht nach den gleichzeitig verlassenen Menschen empfindet, wenn er den Geburtstag eines Tiers feiern moechte (nur noch nicht weiss wie) und Keine Frau! als Gebot der Gebote fuer einen Kuenstler erwaegt, so sind das alles Bestandteile einer Selbstinszenierung als Dichterpriester, um den Ausdruck Arno Schmidts zu benutzen, keine Selbstaussagen in dem radikalen Sinn, den sie zu haben vorgeben. Hinter der Fassade des einsamen Vorsichhindenkers, des ueber Katzen und Voegel, Kaefer und Schmetterlinge sinnierenden Spaziergaengers, der nicht blickt oder sieht, sondern schaut und standhaelt, oeffnet sich eine unsichere, von Chaos und Selbstzweifeln bedrohte Existenz, die ihr einziges Heil in der Flucht und in den unablaessigen Versuchen zu einem unzeitgemaessen Leben sucht. Die Bedeutung dieser Tagebuecher liegt in ihrer wohl nicht einmal intendierten diagnostischen Schaerfe. Zeitgeschichte, Politik und Gesellschaft kommen darin nur als Leerstellen zum Ausdruck, weil sie dem Lesenden und Schreibenden nichts mehr zu sagen haben. Die Existenz befriedigen (oder einen Vorschein solcher Befriedigung geniessen) laesst sich allein durch den konsequenten Exodus aus allem, was zeitgemaess ist. Aus seiner inneren Laehmung und Erstarrung findet das Individuum nur noch durch das Tor der Vergangenheit ins Leben zurueck. Ein Umweg, der den diaristischen Gruebler Handke vor der Leere und einer bloss narzisstischen Selbstverfangenheit bewahrt, auch wenn beides sein Tagebuch ueber weite Strecken bestimmt: Die Leere in der Banalitaet und im Pseudotiefsinn, die Selbstversessenheit in der Konsequenz, mit der alle anderen Individuen ausgespart oder auf ihre abstrakten Gattungsmerkmale reduziert werden (die Geliebte, das Kind, der Nachbar). Welt- und Geschichtsfuelle gewinnen Handkes Aufzeichnungen durch das Gespraech mit Kollegen aus nur scheinbar abgelebten Zeiten: mit den Vorsokratikern oder Plato, mit Spinoza oder Goethe, Nietzsche oder Hofmannsthal. Die Identifikation geht bisweilen so weit, dass sie schon wieder an Selbstueberhebung grenzt: Ich darf der Antike, in ihren Formen, nicht nacheifern; ich weiss ja, ich habe sie in mir. Noch in den trivialsten Beobachtungen des Alltags (Als ich die Blumen goss, bemerkte ich meinen Durst) und im Kitschstil der Ergriffenheit (Das Kind, das draussen auf der Strasse vorbeilief, lief ein paar Schritte lang durch mein Herz) offenbart sich ein metaphysischer Hunger, eine Sehnsucht, die Schwelle (eines der Schluesselworte des Journals) zwischen Hier und Dort, Zeit und Ewigkeit zu ueberschreiten, die Handke paradoxerweise dann doch wieder zu einem sehr zeitgemaessen Autor macht. Er spricht tastend, unfrei, fragmentarisch und nicht selten mit pubertaerer Larmoyanz aus, was den meisten fehlt, auch wenn sie sich selten darueber Rechenschaft ablegen. Die Einsicht, dass die Trivialitaet des Lebens nicht zu seinen Lasten, sondern zu Lasten des trivialen Erlebens der Welt geht, oeffnet einerseits den Zugang zu gnostischen und mystischen Ideen und fuehrt andererseits in die Sackgasse einer zwanghaften Sinnhuberei um jeden Preis - auch um den Preis stilistischer Praegnanz und gedanklicher Schaerfe. Immer schroffer zeigen Handkes Tagebuecher das Bild des Schriftstellers als Erloesungssuchers, den keine aesthetische Kritik mehr erreicht, weil sich der mystische Seinsdurchblick am Niedrigen und Hohen, Beilaeufigen und Geschwollenen gleichermassen gewinnen laesst und es nur auf das Ergriffensein (ein anderes Schluesselwort des Tagebuchs) und nicht seine artistische Praegung ankommt. Lesen und Schreiben werden derart zur Ersatzreligion, die freilich niemals ihren kuenstlichen Charakter verliert, weil ihre Elemente aus aller Herren und Literaturen Laender synkretistisch zusammengefuegt wurden. Peter Handke: Am Felsfenster morgens und andere Ortszeiten 1982-87. Residenz Verlag, Salzburg/Wien. 541 S., 58 Mark.
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Bund; 1998-07-02; Seite 9; Nummer 151
Feuilleton
Der Welt Bedeutung geben durch Langsamkeit
Literatur / Mehr besinnliche Innenschau als ausgreifender Ausblick nach aussen ist der neueste, die Jahre 1982 bis 1987 umfassende Band von Peter Handkes Tagebuch, =Am Felsenfenster morgens =
Charles Cornu
Peter Handke, der oeffentlichkeitsbewusste, sprachmaechtige Publikumsbeschimpfer von einst, der uebersensible und einzelgaengerische Selbst- und Weltbeobachter von heute, legt seit Jahren, Jahrzehnten =Augenblicks-, Stunden- und Tages- (oder Nacht-)Sammlungen = an, in denen er laufend notiert, was ihm ein- und was ihm auffaellt, was ihn beschaeftigt, beunruhigt, erfreut, verduestert und erhellt. Nach =Das Gewicht der Welt =, =Die Geschichte des Bleistifts = und den =Phantasien der Wiederholung = liegt nun der vierte Journalband vor: =Am Felsenfenster morgens =
Er umfasst die Zeitspanne von 1982 bis 1987, somit fuenf von insgesamt acht Jahren, die Handke, unterbrochen von seltenen und meist kurzen Reisen und Ausfahrten, in Salzburg verbracht hat. Viel mehr Innenschau als Ausblicke nach aussen sind demnach diese Lebens-Mitschriften (der Krieg im ehemaligen Jugoslawien, bei dessen Beurteilung sich Handke dann so sonderbar einseitig exponiert hat, steht zu diesem Zeitpunkt ja erst bevor); etwa drei Viertel der Aufzeichnungen, sagt er im Vorwort, sind ueberdies beim Auswaehlen und Abschreiben fuer die Veroeffentlichung weggefallen. Fast unvorstellbar ist das: Trotz den Kuerzungen ist naemlich ein Buch von weit ueber fuenfhundert Seiten entstanden! Ein Buch aber, dessen Saetze und Perioden - um mehr handelt es sich meist nicht - den Leser staendig zum Mitdenken und ebenso zum Mitempfinden anregen (manchmal, zugegeben, auch ein wenig aufregen, naemlich dann, wenn der Autor seine Sensibilitaet etwas gar selbstgefaellig zelebriert), ein Buch aber auch, das starke Bilder vermittelt, vielsagende Miniaturszenen des oeffentlichen Lebens weitergibt und immer wieder die Alltaeglichkeiten und Unscheinbarkeiten kleiner und kleinster Naturgeschehnisse als die wahren Bedeutsamkeiten des Daseins darzustellen vermag. Nicht zuletzt reicht es auch Fruechte der Lektuere und der Sprachergruendung mit eigener ueberzeugender gedanklicher Garnierung dar.
In die Jahre dieser Aufzeichungen fallen die vier Erzaehlungen =Der Chinese des Schmerzes =, =Die Wiederholung =, =Nachmittag eines Schriftstellers = und =Die Abwesenheit = sowie mehrere UEbersetzungen: Germanistische Seminarien werden ergruenden koennen, wie das eine ins andere wirkt, wie die schriftstellerisch formende Arbeit die tagtaeglichen Observationen begleitet und mitbestimmt und wie umgekehrt das aufmerksame Flanieren und Umsich- und Insichschauen ins schriftstellerische Oeuvre einfliessen. Anderes wird den unbefangenen Leser aber vielleicht noch mehr beschaeftigen, mitunter befremden und jedenfalls geistig unterhalten.
Die Leere
Es gibt Begriffe - oder eher muss man sagen: elementare Situationen und Konstellationen, die in diesen Tagesaufzeichnungen immer wieder in Erscheinung treten, ja eigentliche Fixpunkte im langen Flusse der Jahre und Zeiten darstellen. Die Leere ist ein solcher Topos, ja gewissermassen das Haupt-Biotop des Schreibens bei Handke. Bloss zwei Zitate aus wohl einem Dutzend moeglicher sollen dies belegen: =Wahrnehmer der Leere, das war ich von Anfang an; und im Wahrnehmen der Leere wurde ich zum Schreiber. Die DINGE zeigten sich mir erst mit der Zeit, und nur selten, ereignishaft. = Und viele Seiten vorher und also etliche Monate frueher notiert Handke: =Leerform: Scheues Sehnen erfuellt sie, Gier (zer)stoert sie (Spinoza und Sehnen?). Sehnen scheint mir den Koerper doch noch vollstaendiger zu machen als das Sich-Freuen. Sehnen geht in die Welt hinaus, WILL in die Welt hinaus; Freude bleibt, eher, fuer sich.
Hand in Hand mit der Wahrnehmung der Leere, die die Ausgangssituation fuer den Schreibenden ist, geht bei Handke die bewusste Langsamkeit. Die Langsamkeit ist es, die den Dichter ueberhaupt erst die Welt richtig entdecken und erfahren laesst. Auch dazu zwei Beispiele, eines aus der Anfangs-, das zweite aus einer spaeten Phase der Notizen: = Nur noch machen, was mir Freude macht. Und was macht mir Freude? Die Langsamkeit (Sag statt ,Freude vielleicht besser ,freudige Muehe ; denn die Muehe muss auch dabei sein, ,das Muehen ; ,du, die Natur und meine Arbeit, ihr drei seid meine Freude ). = Und: =Ich muss (kann) der Welt Bedeutung geben durch Langsamkeit. =
Der Kuenstler
Leere, Langsamkeit: der seelische Schreibraum fuer Peter Handke, kennzeichnend nicht nur fuer sein Kunstverstaendnis, sondern fuer seine Existenz als Kuenstler ueberhaupt. Und diese wird man, nach allem, was er hier und anderswo mit voller UEberlegung vermerkt hat, eine romantische, eine, nun ja, elitaer-einzelgaengerische und geniehafte nennen muessen. Gedanken ueber sein Leben als Dichter macht und notiert er sich zuhauf. Das toent dann beispielsweise so: =Zwei Adjektiva, essentiell fuer den Kuenstler: ,erschuetterbar und ,gewissenhaft = Und so: =Das Fremdsein ist die dauerhafteste Kraft des Kuenstlers. = Und ein drittes Beispiel aus diesem Erfahrensbereich: =Der fruchtbarste Zustand fuer einen Kuenstler und ueberhaupt fuer jemanden: die Bitterkeit; sie ist die Erhabenheit, im MASS (. . .). Bitterkeit ermoeglicht zudem Entschiedenheit, endlich einmal, und jetzt weiss ich es: DIE BITTERKEIT KEHRT MEINEN GRUND HERVOR. =
Aus solcher Gestimmtheit und, wird man hinzufuegen muessen, aus freigewaehlt haeufigem Alleinsein heraus sowie kraft seines empfindlichen Offenseins fuer Eindruecke jeglicher Art sind Handkes Dichtungen der reiferen Jahre entstanden; seine nachdenklich-freimuetigen Aufzeichnungen erschliessen einem wohl nicht ueberraschende, aber doch einblickreiche Wege zu ihnen. Wobei anzumerken bleibt; dass Stimmungen allein ja natuerlich kein Kunstwerk zustande bringen; es muessten darum in diesem Zusammenhang eigentlich noch Handkes Gedanken zum Problem des Stoffes und, dies vor allem, zur Frage der Form wiedergegeben werden. Doch das bleibe der Aufmerksamkeit der Buchleser ueberlassen.
Literatur - Natur
Die Selbstbeobachtung und die UEberlegungen zum Kuenstlertum machen indessen nicht mehr als einen Teil aus von den des Dichters Tage begleitenden Notizen. Bedeutenden Platz nehmen darin die Anmerkungen zur eigenen, sehr weit ausgreifenden Lektuere ein (von den Schweizer Autoren weiss er etliche zu schaetzen: Ramuz, Walser, Hohl, Gerhard Meier . . ., waehrend er beispielsweise seinem Landsmann Thomas Bernhard kritisch gegenuebersteht); was er dazu zu sagen hat, zeugt nicht nur von Aufmerksamkeit, sondern auch von der ehrlichen Bereitschaft, offen und anerkennend teilzuhaben am Denken und Schreiben anderer Autoren und anderer Literaturen, von den Griechen und vom Talmud bis zu den Zeitgenossen.
Aber eher noch wichtiger - jedenfalls umfangreicher hinsichtlich des Aufscheinens im publizierten Text - sind die kleinen, die unsensationellen Geschehnisse, die sich in der Natur vor Handkes Augen und Ohren abspielen. Hier zeigt sich, wie er auf, man darf wohl sagen: geradezu glueckhafte Weise mit allen Sinnen empfaenglich ist fuer jedes Vorkommnis, das rundum sich ereignet - vom hellen Tropfen der Eiszapfen vor dem Fenster bis zum Summen der Bier -, vom Rauschen des Windes bis zum sanften Regengeriesel irgendwo draussen. Hierin ist Handke ein juengerer Seelenverwandter unseres Niederbipper Dichters Gerhard Meier (dem er ja auch sonst in Sympathie verbunden ist).
Ein Satz zu dieser Art aufmerksamen Leben-Erlebens, den sich Handke notiert hat (fast hat man Hemmungen, diesen zu zitieren, so erhaben toent er) und doch muss er wohl stimmen) lautet: =Durchschauert vom Dasein: Das ist dein Gesetz. = In der Tat naemlich: Solche zarten und zaertlichen, solche bitteren und erregenden, solche empfindsamen und dann wieder nuechtern-klaren Schauer sind mitzuspueren, mitzuerfahren, wenn man sich mit der richtigen Aufmerksamkeit und der erforderlichen Geduld in Handkes Aufzeichnungen vertieft.
Peter Handke
=Am Felsenfenster morgens (und andere Ortszeiten 1982-1987) = Residenz Verlag, Salzburg und Wien. 540 Seiten. Fr. 52.50.
Weiss auch mit leisen Toenen umzugehen: Der oesterreichische Schriftsteller Peter Handke, geboren 1942 im kaerntnerischen Griffen.
Peter Peitsch
2001 / Der Bund Verlag AG, Bern und Autoren / www.eBund.ch
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https://www.welt.de/print/die_welt/kultur/article161485933/Versuch-ueber-das-verlorene-Buch.html
Das Buch ist ein Arbeitsjournal, ist ein Tagebuch. Es spielt zwischen den Jahren 1982 und 1987, als Peter Handke mit seiner Tochter in Salzburg lebte. Es sind nur Notizen, Träume, Gelesenes, Gespräche, Beobachtungen, Reflexionen, Aufgeschnapptes und Weggedachtes. Es ist ein Buch der Sesshaftigkeit: Es beschwört die Magie der Wiederholung, die Poesie des Alltags, die Schönheit des immer Gleichen.
Jahrelang ist Alem Grabovac mit Handkes „Am Felsfenster morgens“ um die Welt gereist. Dann geschah die Tragödie
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Jetzt ist es passiert. Ich habe das Buch in Neu-Delhi verloren. Es war eine Unachtsamkeit. Das Buch muss mir im Bus auf dem Weg zum Flughafen aus der offenen Seitentasche meines Reisegepäcks gefallen sein. Am Check-in-Schalter merke ich, dass ich das Buch verloren habe. Ich werde wütend, werde traurig: Jahrelang bin ich mit diesem Buch, bin ich mit Peter Handkes „Am Felsfenster morgens“ durch die Welt gereist. Aber jetzt ist es weg, das Buch. Es fährt jetzt in einem Linienbus durch Neu-Delhi. Ich frage mich, was mit dem Buch passieren wird. Was macht ein Inder mit einem deutschsprachigen Buch von Peter Handke? Wird der Finder oder die Finderin versuchen, es auf einem Markt zu verkaufen, um noch ein paar Rupien daran zu verdienen? Eher unwahrscheinlich, denke ich. Wird es einfach achtlos in den Müll geworfen oder möglicherweise als Brennmaterial zum Teekochen genutzt? Oder wird es gar als Toilettenpapier am Hintern eines Inders landen? Obgleich mir nicht zum Lachen zumute ist, muss ich über diese letzte Option schmunzeln. Der Bewohner des Elfenbeinturms, der poetische Innenweltphilosoph, der Schönheitssucher in der Natur, landet letztendlich mit seiner heiligen Literatur am Arsch eines Inders. Dieses Ende würde, so glaube ich es jedenfalls, sogar dem Handke gefallen.
Mein Schmunzeln hält nicht lange an. Ich bin sauer und wütend, stehe vor dem Indira Gandhi Airport in Neu-Delhi und will mein Buch wiederhaben. Es ist Mitte Oktober, es ist sehr heiß, ich rauche und denke, dass sich der Verlust des Buches bereits vor ein paar Monaten angekündigt hatte. Ich fuhr im georgischen Batumi – das ist so eine touristische Boomstadt am Schwarzen Meer – mit dem Taxi vom Busbahnhof zum Hotel. Der Taxifahrer wollte mehr Geld als vereinbart haben. Wir stritten uns, ich war wütend und gab ihm schließlich noch ein paar Laris. Just in dem Augenblick, als er mit quietschenden Reifen davonfuhr, fiel mir ein, dass meine Reisetasche noch in seinem Kofferraum lag. Und was war mein erster Gedanke? Mein erster Gedanke war: „Mist, jetzt ist das Buch weg.“ Das war ziemlich bekloppt. Ich hätte nichts mehr zum Anziehen und zum Waschen gehabt. Na ja, wie dem auch sei: Ich habe die Reisetasche zurückbekommen und war erleichtert. Das verloren geglaubte Buch war wieder da.
Erworben habe ich „Am Felsfenster morgens“ vor vielen Jahren zum halben Preis als Mängelexemplar in einem Berliner Buchladen. Es war die Taschenbuchausgabe von dtv: Auf dem Cover sieht man einen tiefgrauen wolkenverhangenen Himmel. Das Buch ist ein Arbeitsjournal, ist ein Tagebuch. Es spielt zwischen den Jahren 1982 und 1987, als Peter Handke mit seiner Tochter in Salzburg lebte. Es sind nur Notizen, Träume, Gelesenes, Gespräche, Beobachtungen, Reflexionen, Aufgeschnapptes und Weggedachtes. Es ist ein Buch der Sesshaftigkeit: Es beschwört die Magie der Wiederholung, die Poesie des Alltags, die Schönheit des immer Gleichen.
Und weil es ein Buch der Sesshaftigkeit ist, hat es so wunderbar, quasi als Kontrastfolie, zu all den neuen Erlebnissen und Eindrücken des Reisens gepasst. Es hat den Blick für das Kleine, das Abseitige, das nicht sofort ins Auge Springende geschärft. Es ist ein Buch, das einen lehrt, einen großen Bogen um die Touristenattraktionen dieser Welt zu machen, da die Touristenattraktionen dieser Welt einen sowieso nur dämlich und geschwätzig anstarren. Das Buch ist langsam, hat Zeit, findet die Schönheit im Augenaufschlag eines Kindes, im sommerlichen Staubbad der Spatzen, in der zärtlichen Geste einer Frau oder im schneebedeckten Vogelnest auf der Astgabel eines verkrüppelten Baumes.
Ich habe dieses Buch geliebt, war mit dem Buch in Samarkand, Belgrad, Biel, Istanbul, Rio de Janeiro, Tiflis, Paris, London und Neu-Delhi, bin mit dem Buch um die halbe Welt gereist. Das Buch war wie ein Talisman, mit dem Buch habe ich mich sicher und geborgen gefühlt, mit dem Buch war ich nie allein. Das Buch war der warmherzigste und treueste Wegbegleiter, den man sich nur vorstellen kann.
Ein paar schwarze Vögel mit gelben Augenringen landen auf der Flughafenmauer links neben mir. Ich schwitze, rauche und frage mich, wann ich zum letzten Mal in dem Buch gelesen habe. Ja, das muss vor zwei Tagen in Varanasi gewesen sein. Mark Twain hat einmal über diese Stadt geschrieben: „Varanasi is older than history, older than tradition, older even than legend, and looks twice as old as all of them put together.“ Und genau so war es. Am Ganges haben sie Leichname verbrannt, am Ganges stank es nach verbranntem Menschenfleisch. Die Kinder haben gebettelt, die heiligen Kühe fraßen sich durch den Abfall der Großstadt, die Affen tanzten auf den Balkonen und ab und zu kreuzte ein mit Haschisch zugedröhnter Sadhu, eine Art hinduistischer Mönch, meinen Weg. Die Hitze, die Menschenmassen, der ohrenbetäubende Verkehr, die Kühe, Affen und Ratten, all die uralten Tempel, Gebete, brennenden Leichname und bettelnden Kinder, all dies überforderte mich maßlos. Mir wurde schwindelig. Ich fuhr zurück zum Hotel und las im Buch, atmete durch, kam langsam wieder zu mir. Und wie lautete der letzte Satz, den du im Buch gelesen hast? Ja, jetzt erinnere ich mich wieder. Der letzte Satz hieß, so glaube ich es jedenfalls: „Das Kind sagte zum Vater: ‚Es hat Jahre gedauert, bis ich merkte, dass du blaue Augen hast.‘“ Und ich weiß noch, dass ich mich fragte, welche Augenfarbe mein verstorbener Vater eigentlich hatte.
Ich zünde mir noch eine Zigarette an und vermisse mein Buch. Klar, ich könnte mir das Buch einfach wieder kaufen. Aber es wäre eben nicht dasselbe Buch, wäre gar eine Art von Betrug. Das neue Buch wäre kalt, charakterlos, würde nach nichts riechen, wäre ordinär und ohne jede Haltung. Nein, das Buch ist verloren. Ich habe das Buch unwiederbringlich verloren. Es ist tot, das Buch!
Immerhin hast du, denke ich, während ich immer noch vor diesem Flughafen stehe, einmal ein anderes Buch vor dem Tod gerettet. Damals hatte mein Nachbar aus dem ersten Stock eine Bücherkiste auf das Fensterbrett vor unserem Haus gestellt. In dem Karton gab es schöne Bildbände über Florenz und Rom und lesenswerte Romane. Die Bücherkiste war jedenfalls randvoll und leerte sich peu à peu in den nächsten paar Tagen. Aber ausgerechnet einer meiner Lieblingsromane – „Das kurze Leben“ von Juan Carlos Onetti – wurde konsequent verschmäht. Wann immer ich nach Hause kam, schaute ich in die Kiste. Und wieder hatte niemand Onetti mitgenommen. Ich wurde langsam sauer. Eines Nachts, fünf Tage nachdem mein Nachbar die Kiste herausgestellt hatte, kam ich etwas angetrunken nach Hause. Es nieselte, es war kalt, und ich schaute in die Kiste, in der einsam und verlassen „mein Onetti“ lag. Jetzt reicht es mir, dachte ich. Ich nahm das kleine Taschenbuch behutsam an mich, stieg glücklich die Treppen zu meiner Wohnung hinauf. Ich hatte das Gefühl, mich um etwas Kostbares gekümmert zu haben. Als ich die Wohnungstür aufschloss, sagte ich zu meiner Freundin: „Schau mal, was ich gefunden habe,“ woraufhin sie mir entgegnete: „Aber das Buch hast du doch schon.“ „Ja, ja“, sagte ich. „Das verstehst du nicht.“ Ich ging zum Bücherregal und stellte Juan Carlos Onettis „Das kurze Leben“ neben Juan Carlos Onettis „Das kurze Leben“ und war mit mir und der Welt wieder zufrieden.
Der gewaltige Auspuffknall eines Busses hat die schwarzen Vögel mit den gelben Augenringen aufgeschreckt. Während sie davonfliegen, denke ich, dass mir der doppelte Onetti gar nichts bringt. Diesmal wirst du ohne Buch die Treppen zu deiner Wohnung hinaufsteigen. Ich zünde mir noch eine Zigarette an, trauere um mein Buch und habe plötzlich dieses Lied von Frank Sinatra in meinem Kopf und singe ganz leise: „Strangers in the night ... la, la, la, la, lovers at first sight ... la, la, la, la.“ Und dann denke ich, dass ich ein absolut hoffnungsloser Fall bin. Die Zigarette ist ausgeraucht. Es ist Zeit zu gehen. Ich drehe mich zum Abschied ein letztes Mal Richtung Neu-Delhi und sage: „Bon voyage, geliebtes Buch. Bon voyage.“