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1 Jedes
Land hat sein Samarkand und sein Numancia. In jener Nacht lagen die
beiden Stätten hier bei uns, hier an der Morawa. Numancia, im iberischen
Hochland, war einst die letzte Flucht- und Trutzburg gegen das
Römerreich gewesen; Samarkand, was auch immer der Ort in der Historie
darstellte, wurde und ist sagenhaft; wird, jenseits der Geschichte,
sagenhaft sein. Die Stelle der Fluchtburg nahm an der Morawa ein Boot
ein, ein dem Anschein nach eher kleines, das sich »Hotel« nannte, in
erster Linie aber, seit geraumer Zeit schon, dem Autor, dem ehemaligen
Autor, als Wohnung diente. Die Aufschrift HOTEL war bloße Tarnung: Wer
für die Nacht nach einem Zimmer, einer Kabine fragte, der wurde in der
Regel mit einem »Ausgebucht« beschieden. Die Nachfrage blieb freilich
nahe null, und nicht nur, weil das Boot jeweils an einer Flußstelle
ankerte, zu der es keine rechten Zufahrtswege gab. Wenn einmal sich
einer bis dahin durchschlug, dann höchstens angezogen von dem Namen des
»Hotels«, der weithin durch die Finsternis der Flußauen leuchtete:
MORAWISCHE NACHT. Das Boot war
nicht verankert, sondern bloß so an Bäumen oder Strommasten vertäut, und
zwar derart, daß die Taue leicht und schnell zu lösen waren – eben zur
Flucht, oder auch nur zum Mir-nichts-dir-nichtsWeiterfahren oder Wenden,
flußauf oder flußab. (Die Morawa war zu jener Zeit, nach vielen Jahren
nicht allein kriegsbedingter Versandung und Verschlammung, dank einer
selbst die Grenzen unseres zur Kümmerecke Europas verkrachten Landes
überschreitenden und – fast – allesheilenden Wirtschaft, auf große
Strecken, bis hin in die Quellgebiete der Südlichen und der Westlichen
Morawa in Maßen wieder schiffbar geworden.) In
der Nacht, da wir auf das Boot gerufen wurden, hielt dieses zwischen
dem Dorf Porodin und der Stadt Velika Plana. Velika Plana liegt zwar
näher am Fluß. Aber der Ruf kam vom Porodiner Ufer, von einer Stelle
weitab von der die beiden Orte verbindenden Brücke, und so zickzackten
wir, ein jeder für sich, aus dem Dorf, kreuz und quer, jetzt nach links,
jetzt nach rechts abbiegend, tungwechselnden Ackerwege. Da wir uns alle
gerade in Porodin oder in den Nachbardörfern aufhielten, verstreut in
den Gehöften, fanden wir, des früheren Autors Freunde, Gefährten, ferne
Nachbarn, Mitspieler – und jeder einzelne, für jeweils eine Etappe, sein
Reisebegleiter –, uns bald zu einer Art Kolonne zusammen, in Autos, auf
Fahrrädern, auf Traktoren, und der eine und der andere zu Fuß, womit er
querfeldein ebenso schnell vorankam wie die Fahrenden auf den
holprigen, immer wieder vom Ziel weg in ein Nirgendwo führenden und dort
endenden Wegen. Freilich hatten auch die Fußgänger, obwohl es zur
Leuchtschrift MORAWISCHE NACHT ein bloßer Katzensprung schien, da und
dort vor einem unversehens tiefeingeschnittenen Kanal jäh abzubiegen und
in der Folge, vor einer undurchdringlichen Wildhecke, gleich ein
zweites Mal. Warum hatte unser
Bootsmann gerade die Gegend von Porodin zu seinem Wohnort gemacht? Wir
konnten nur rätseln: Die einen meinten, das komme von der balkanweit
verbreiteten Geschichte zwischen den Kriegen – es war da immer, wenn
nicht Krieg, so »zwischen den Kriegen« gewesen –, wonach in dem
Gemeindegebiet ein Hausierer mischen ermordet wurde, worauf das ganze
Dorf dafür an jedem Jahrestag Sühne leistete. Andere glaubten, er sei
umgesiedelt eher der Morawa wegen, um auf den Fluß zu schauen, vor allem
auf dessen schimmernde Biegungen, die eine flußauf, die nächste gleich
flußab. Und wieder andere mutmaßten, es seien vordringlich die vielen
Scheidewege und Kreuzungen in dem großen Dorf gewesen, wo er auf der
Terrasse einer der balkanischen Eckbars einfach so dasitzen wollte, in
der Ferne die himmelan weidenden Schafe und vor sich den erztrüben Wein. Es
war noch lang vor Mitternacht. Wir hatten uns, wie auf Verabredung,
besonders früh zu Bett gelegt und, als der Ruf kam, schon fest
geschlafen. Trotzdem waren wir dann auf der Stelle hellwach. Kein Moment
einer Schlaftrunkenheit oder Taumeligkeit. Geweckt worden waren wir auf
verschiedene Weisen, vor allem durch das Mobiltelefon. Aber es gab auch
ein oder zwei, bei denen ein Bote an das Hoftor geklopft oder einen
Kieselstein gegen das Fenster geworfen hatte – ein einziges kleines
Klopfen und ein einzelnes Steinchen genügten. Und einer, aufschließend
zu der Kolonne, erzählte dann, er sei auf seinem Bett in dem Schlaf
geschreckt worden von einem wie gebieterischen Angeblinktwerden durch
die Leuchtschrift fern in den Morawa-Auen, so wie der nächste der
Aufschließenden angab, aufgeschreckt zu sein durch ein Signal, das eher
von einem Schiff zu kommen schien als von einem Hausboot. Aufgeschreckt?
Vielleicht. Aber das war kein gewöhnlicher Schrecken gewesen. Und so
oder so war das Wecken ohne Worte vor sich gegangen. Und so oder so:
Jeder von uns fühlte sich von dem Rufen hinten am Schopf gepackt, so
unsanft wie sanft. Die Telefone hatten nur kurz angeläutet. Und bei dem
einen von uns, der, geistesgegenwärtig wie eben allein aus einem
gewissen Schlaf heraus, sich schon einen Sekundenbruchteil vorher
meldete, kam dann nichts als ein Lachen an, ein sehr kurzes, kaum
wahrnehmbares, an der Schwelle zwischen Tiefschlaf und Hellwach, dafür
umso klareres, und das hieß, ohne Worte: »Auf!« Melodisch war das
Lachen, und es war nicht das Lachen unseres Freundes vom Boot, sondern
eindeutig das einer Frau; was den so aus dem Schlaf Gerufenen freilich
keineswegs verwunderte. Nichts wunderte ihn in jenem Augenblick und
nichts auch dann noch auf dem Weg über die Felder und das gespielten
neuen Ökonomie, die Brache um sich – hin zur MORAWISCHEN NACHT. Rein gar
nichts wunderte uns alle in dem Moment des Aufwachens lang vor
Mitternacht. Und ebenso in der Folgestunde, beim Holpern und Stolpern
über Stock und Stein: kein Moment einer Verwunderung. Die Empfindung,
die vorherrschte: die einer großen Frische, welche, wie von der
Nachtluft draußen, so auch von tief innen her kam; einer umfassenden
Frische.
Note that the title refers to the river Morava and
not to Moravia in the Czech Republic. Handke uses a Germanised form of
the Czech word, rather the usual German word, March. The Moravan Night
is a houseboat. It used to be a floating hotel but has been converted
for use as a personal houseboat of the author or, rather, as the
narrator quickly points out, the ex-author (he has not written for ten
years) who is the focus of this novel and who may or may not be, at
least in part, based on Handke himself. At the beginning of the book, a
group of people - friends, associates, like much in this book it is not
entirely clear - come to the boat, which is moored on the Morava river
(though we do not know exactly where or, indeed, in what country). They
are sat at individual tables. As well as the ex-author, there is a woman
there. Who is she? We do not know. We learn from him some of his life,
in particular how he had to flee from a woman who was out to kill him
(we will learn about her later) But we also learn of strange journeys he
made.
The
first journey is a strange one through an enclave (he uses the term in
German) which may or may not be Kosovo. All we know is that they goes
through Porodin. They are a group of a people on a bus (an old bus, with
Cyrillic writing on the side). The ex-author (we never learn his name,
he is known only as the ex-author) generally keeps himself to
himself and so do the others but there are occasional interactions, such
as we when they all start asking him awkward questions or when the
driver criticises the people of small ethnic groups struggling for their
independence, and not just the ones in former Yugoslavia. The road
takes them through ruined towns though some are still inhabited and
occasionally they are greeted by the inhabitants or followed by the
police. They even see tanks. But they also see buildings destroyed,
waste all over the place and dead animals. Some villages are completely
uninhabited. Both the descriptions of the landscape and the reactions
and thoughts of the ex-author and some of the passengers are haunting
and masterly told, as only Handke can.
But
we also follow his other, earlier travels. He spends time on an island
in the Adriatic, which he calls Cordura (named after the film They Came to Cordura),
though that is not its real name. Here he lives a life of isolation,
mixing only with the fishermen. He goes to Spain, starting with
Numancia, where he attends a conference on noise and meets the poet Juan
Lagunas, who tells him that we no longer have an association with a
place any more and that this is something irretrievably lost. He travels
around, particularly in Galicia, seeing places, meeting people and
going to football matches. It could be boring with a lesser writer but
Handke keeps our interest going at all times. He then goes to Germany,
specifically to a small town in the Harz mountains where his father had
lived. He had barely known his father and wanted to discover his roots
but his visit did not help. The (naturally unnamed) town did not seem
German to him but could have been any where. This may partially have
been because it was near the East German border but also because he felt
more Balkan than German. He looks for his father's grave in the
cemetery but it is not there. When he inquires at a nearby flower shop
he learns that graves for which the upkeep had not been paid were dug
up, to allow space for the recently died. He remembers only his father's
death, suddenly keeling over and telling his wife, Lina, that he was
dying. The narrator points out that this is the only German name he
mentions during his story.
This
points to one of the key themes of this work. Later in the novel, the
ex-author narrator will comment on this issue of belonging, of place as
well as talking about the land and languages and cultures. This is now
all confused, citing the example of an Asian and Turkish immigrant
talking to one another in a strong Austrian dialect. We are part of this
whole - our language, our land, our culture - but we are individuals as
well and this has also taken a terrible blow in the post-Yugoslavia
conflict. There is a telling image of the narrator ex-author going to a
conference and visiting a cemetery called the Cemetery of the Nameless, a cemetery where unknown corpses and the corpses of suicides were buried. There is even a gravestone which reads simply Nameless. Never to be Forgotten.
(It reminds us, of course, of the father's grave which has now gone.)
It is ironic, of course, but also, for Handke, deeply sad that these
people have been forgotten. But, in the end the Porodin Enclave is no
longer an enclave and Porodin is now Porodin and no longer Породин.
This
book, unfortunately, is not available in English (nor, as far as I can
see, in any other language). Handke is one of the most important authors
writing tody, even if you find his views on Serbia somewhat disturbing.
Yet, of the eighteen books published by him since 2000, only two are
available in English. Yes, some of his works are long (this one is 560
pages but still much shorter than Der Bildverlust (Crossing the Sierra de Gredos)) and yes, he is very prolific but more, much more of his work should be available in English, including this one.
======================================= AN INTERESTING PIECE ON HANDKE'S ESSAY ABOUT THE "QUET SHIT HOUSE" INTERESTING ONCE WE PASS TE AUTHOR'S OWN RECOLLETIONS NE OF THESE DAYS IT WILL APPEAR IN ENGLISH https://radiergummi.wordpress.com/2018/01/01/peter-handke-versuch-ueber-den-stillen-ort/
=======================================
"http://oe1.orf.at/artikel/319453 ""Es war, als bestehe der kleine Raum aus nichts sonst als Düsternis, einer ebenso klaren wie stofflichen. Es war diese klare schimmernde Düsternis, die mich schon seit jeher im Innersten aufgerührt hatte; aufgerührt, etwas zu unternehmen. Was? Nichts Bestimmtes oder Gezieltes, einfach tätig zu werden, aufzubrechen werweißwohin, werweißwieweit, oder an Ort und Stelle zu bleiben und stante pede etwas zu machen. Was? Etwas Schönes; etwas Erstaunliches; etwas, das zu der Stofflichkeit wie auch Innigkeit solchen Düsterlichts die Entsprechung wäre." "Es war, als bestehe der kleine Raum aus nichts sonst als Düsternis, einer ebenso klaren wie stofflichen. Es war diese klare schimmernde Düsternis, die mich schon seit jeher im Innersten aufgerührt hatte; aufgerührt, etwas zu unternehmen. Was? Nichts Bestimmtes oder Gezieltes, einfach tätig zu werden, aufzubrechen werweißwohin, werweißwieweit, oder an Ort und Stelle zu bleiben und stante pede etwas zu machen. Was? Etwas Schönes; etwas Erstaunliches; etwas, das zu der Stofflichkeit wie auch Innigkeit solchen Düsterlichts die Entsprechung wäre. Für die Recherche zu seinem Buch hat Handke Bildbände über die Toiletten der Welt durchgeblättert und dort Abbildungen gefunden von den Klos in den Todeszellen und von Astronautenaborten in Raumstationen und Raketen. Daneben erzählt er auch von einer Toilettenanlage auf Neuseeland, in "tausendundeiner Farbe" und ohne rechten Winkel, dem letzten Entwurf von Friedensreich Hundertwasser. Die mittlerweile vier Versuche Handkes bieten derart aber nicht nur Fundstücke, sondern lassen sich auch als Teil eines autobiografischen Projekts verstehen, denn der Schriftsteller erzählt hier mit schonungsloser Offenheit, was ihm diese Phänomene, Gegenstände und Orte bedeuten, und wie er, manchmal aus der Bahn geworfen, mit ihrer Hilfe wieder ins Leben zurückgefunden hat. Das Sehen im Gehen Genauso gehört es zum Programm, dass Handke den Akt des Schreibens selbst mit einfließen lässt und so erfährt der Leser, dass der "Versuch über den Stillen Ort" in einem kleinen Dorf nordwestlich von Paris entstanden ist in nur zwei Wochen im Dezember 2011. Unterbrochen hat er sein Schreiben nur für ausgedehnte Spaziergänge, die aber für den Rhythmus des Buches sorgen. Einen Rhythmus des Sehens im Gehen, der Handkes Schreiben und auch seinen "Versuch über den Stillen Ort" so einzigartig macht in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. 08.10.2012
KLAPPENTEXT
1989 veröffentlichte Peter Handke den Versuch über die Müdigkeit, ein Jahr danach folgte der Versuch über die Jukebox. Den vorläufigen Abschluß dieser erzählerischen Umkreisungen des Alltags bildete der Versuch über den geglückten Tag. Zwanzig Jahre später legt er einen neuen Versuch vor: Versuch über den Stillen Ort. "Lang lang ist es her, daß ich einen Roman des englischen Schriftstellers A.J. - Archibald Joseph , wenn ich mich nicht irre - Cronin gelesen habe, in einer deutschen Übersetzung, mit dem Titel 'Die Sterne blicken herab'. Es war ein ziemlich dickes Buch, aber es liegt nicht an dem Autor und seiner Geschichte, die mich damals mitgenommen und begeistert hat, daß ich mich an kaum welche Einzelheiten erinnern kann. Was mir von dem Roman geblieben ist, neben den Sternen, die fortwährend herabblicken: Eine englische Bergwerksgegend und die Chronik einer darbenden Bergleutefamilie, abwechselnd mit jener von betuchten Besitzern (wiederum: wenn ich mich nicht irre). Viel später, angesichts des Films 'Wie grün war mein Tal', von John Ford, gaukelten, im guten Sinn, die Bilder der Gesichter und Landschaften mir vor, daß es sich da, obwohl ich's doch besser wußte, nicht etwa um eine Verfilmung von Richard Llewellyns 'How Green My Valley was', vielmehr von Cronins 'The Stars Are Looking Down' handelte. Dabei habe ich doch von dem Epos der herabblickenden Sterne eine einzige Einzelheit behalten. Aber diese geht mir bis zum heutigen Tag nach, und sie ist es auch, welche den Ausgangspunkt für mein nun fast schon lebenslanges Umkreisen und Einkreisen des Stillen Orts und der stillen Orte bildet, und mit der jetzt hier dementsprechend der Anfang des Versuchs darüber gemacht werden soll." (Peter Handke)
================================= Die Kunst des Beginnens und immer wieder Neu-Beginnens ist vielleicht seine größte Kunst. Auch jetzt wieder, beim Lesen von Peter Handkes bisher letztem Buch, dem „Versuch über den Stillen Ort“, hat man das Gefühl, dass es wieder so leicht und neu anfängt, wie ein allererstes Werk. Obwohl er mit so tiefem Greisenatem anhebt, dass man beim einleitenden „Lang lang ist es her“ schon an den Beginn von Thomas Manns „Joseph“-Romanen denken kann, kommt doch schon in der dritten Zeile ein schlenkernd selbstbezweifelndes „wenn ich mich nicht irre“ dazwischen, und das neue Erzählen beginnt.
Das WC bietet Peter Handke Asyl: ""Versuch über den Stillen Ort"
Es
gibt Schriftsteller, die produzieren einen Haufen Scheiße. Peter Handke
gehört nicht zu ihnen. Der kann selbst über seine Erfahrungen auf der
Toilette schreiben und es kommt große Literatur heraus. Im Ernst! Sein neues Buch heißt „Versuch über den Stillen Ort“ und gemeint ist wirklich: das Klo.
Schon als Kind sei es ihm zu einem „Asylort“ geworden, der Gang auf den
Stillen Ort zu einem „antisozialen Akt“.Noch heute entziehe er sich so
den Menschen. „Einsilbig geworden durch die Worte wie Wörter der
andern“, wie er schreibt. „Von ihnen zum Schweigen gebracht – angeödet –
verödet.“ Sozusagen als „Ausdruck, wenn nicht von Gesellschaftsflucht,
so doch von Gesellschaftswiderwillen, von Geselligkeitsüberdruss“.
Herrlich! Seit Handke 1966 mit seinen „Publikumsbeschimpfungen“ die Bühne betrat und wenig später den gestandenen Autoren der Gruppe 47 „Beschreibungsimpotenz“ vorwarf, setzt dieser Mann seine Wut in Kunst um. Gerade ist er 70 geworden, doch sein Menschenverdruss ist ungebrochen.
Monomanisch spürt er persönlichen Beschädigungen nach. Von
einem Zitat des schottischen Autors Archibald Joseph Cronin („Die
Sterne blicken herab“) ausgehend, erzählt Handke vom stillen Örtchen
seines Großvaters in Kärnten, auf dem das Klopapier aus slowenischen
Zeitungen bestand. Wie er sich als Junge am ersten Tag im Internat in
die Hosen machte und auf eine abgelegene Toilette rettete. Oder wie er
Jahre darauf „in einer Art Halbkreis um die Klosettmuschel geringelt“
die Nacht auf dem Bahnhof von Spittal an der Drau verbrachte, nachdem er
mit Seesack von Daheim losmarschiert war.
Das Buch knüpft an die „Versuchsreihe“ der Jahre 1989 bis 1991 an
(„Versuch über die Müdigkeit“, „Versuch über die Jukebox“ und „Versuch
über den geglückten Tag“), und der Österreicher beweist darin mehr
Ironie denn je. Natürlich geht es nicht nur ums Klo. Es
geht wie immer bei Handke um alles: den Ernst des Lebens, um
existentielle Erfahrungen, das Wiederfinden der Sprache und ums
Schreiben. Erst sehr viel später, so wischt Handke in einem Satz
wie nebenbei hin, sei ihm auch das Lesen zu einem stillen Ort
geworden.
Text: Welf Grombacher tip-Bewertung: Lesenswert
Peter Handke: „Versuch über den Stillen Ort“
Suhrkamp, 110 Seiten, 17,95€
„Seit dem Morgen in der Tempelgartentoilette von
Nara [Japan] – über zwanzig Jahre ist das nun her –
begleitet mich der Stille Ort, über das Ding und den Platz
hinaus, als Idee. Mit anderen Worten: Er ist seitdem ein
Vorwurf, oder ins Altgriechische zurückübersetzt, ein
Problem, ein reizvolles – in seiner ersten Bedeutung ein
‚Vorgebirge‘, etwas zu Umfahrendes, zu Umkurvendes, wobei
das Schiff, der das Boot, oder der Nachen in diesem Fall die
Sprache ist, die des umkreisenden oder umreißenden
Erzählens.“
Nach seinen „Versuchen über die Müdigkeit“
(1989), über die „Jukebox“ (1990) und „[Ü]ber den geglückten
Tag“ (1991) greift Peter Handke nach über zwanzig Jahren auf
das Format des Essays mit stark autobiografischen Zügen
zurück. Dabei geht es weniger um das Rekapitulieren
sinnlicher als vielmehr kognitiver und poetischer
Erfahrungen und die Auseinandersetzung mit der
Eindringlichkeit der Stille auf dem Abort; diesem „leicht zu
übersehen[den]“ Unort. Das Anliegen des „Versuchs“ ist daher
nicht eine Kulturgeschichte des Aborts zu zeichnen, sondern
Handkes Verhältnis zum stillen Ort neugierig zu
artikulieren. Im Zuge seiner Recherchen, erzählt Handke,
hätten nämlich gerade „die historischen, völkerkundlichen,
soziologischen Lektüren“ seine Spur eher „zu verwischen
gedroht“. Entsprechend frei ist der Text erzählt – immer
wieder durch gedankliche Einschübe zersetzt –, ohne einen
wie auch immer gearteten wissenschaftlichen Anspruch. Im
Gegenteil. Da Handke aus seinen Erinnerungen schöpft, wird
der Text gelegentlich sogar szenisch. Als er sich
beispielsweise eines Tages alleine auf der Toilette der
Fakultät Gesicht und Haare wäscht, kommt unverhofft ein
Professor, mit dem er im argen Zwist liegt, durch die Tür
herein. „Kein Wort fiel, kein Blick wurde gewechselt.“
Unversehens beginnt der Dozent sich ebenfalls das Gesicht zu
waschen, kämmt sich und bindet sich die Krawatte neu, sogar
die Nasenhaare trimmt er sich, alles in Anwesenheit des
klatschnassen Handkes und in vollkommenere Stille. Es sind
Szenen, die sich nur schwer einordnen lassen, die aber vor
allem das Faszinosum des Aborts verdeutlichen können. Als
Ort der Diskretion, als Ort des Schweigens.
Anhand der verschiedenen Episoden seines Lebens
schildert Handke, wie er eine regelrechte Kultur des
Rückzugs zum stillen Ort entwickelte und was dies für Folgen
auf sein Denken und nicht zuletzt seine Literatur hatte. Das
ist das Wunderbare an diesem Buch. Nämlich die Bewegung,
welche Handke über einhundert Seiten hinweg skizziert: vom
Rückzug in die Stille und wie sich aus der Stille Sprache
generiert und aus der Sprache letztlich Literatur.
Handkes besondere Beziehung zum stillen Ort
beginnt bereits während der Schulzeit. Da seine
Altersgenossen ihn langweilen und ihm die Teilnahme am
Gespräch reizlos scheint, flüchtet er sich in die
Abgelegenheit; ein Habitus, den er bis heute kultiviert.
Seine ersten Rückzüge auf den Abort seien also in erster
Linie ein „antisozialer“ Akt gewesen, eine Fluchtbewegung.
Dabei bleibt es jedoch nicht. Aus dieser sozialen Abkehr, so
rekapituliert Handke, speiste sich innerhalb des stillen
Raumes eine kontemplative Intelligenz. Denn der stille Ort
sei keine reine Isolation für Handke gewesen, sondern eher
eine Filterung der Außenwelt auf das Akustische.
„Fast jedes Mal – nicht immer – wurden dort an
den fernen Stillen Orten der Lärm, das Gelächter, das
Stimmengewirr, wie das durch die Mauern, Wände und Türen
herüberdrang, zu etwas nicht gerade Klangvollem, so doch in
den Ohren mich Anheimelndem und es zog mich […] zu dem
Lärmen, dem Krach, dem, gebe Gott, unendlichen Getöse der
Räume zurück.“ Die gewonnene Stille gebärt Raum für das
Sinnieren: „Dennoch bin ich an den Stillen Orten […] immer
neu ins Anschauen, Betrachten, und zu guter Letzt Sinnieren,
Fantasieren und Imaginieren gekommen.“
Ein Ort also auch des freien Bewusstseinsstrom,
den das Textgewebe selbst in sich verkörpert. Was folgt ist
das Zuwortkommen, vom Stummsein „zur Wiederkehr der Sprache
und des Sprechens“, denn kaum „verschwunden im Stillen Ort:
Die Sprache. Und Wörterquelle springt frisch aus, frischer
vielleicht denn je zuvor“.
Das letzte Glied dieser kognitiven Kette ist das
Entstehen von Literatur. So sei eine bestimmt
Bahnhofstoilette in seinem Leben die unmittelbare Vorlage,
die Keimzelle für seine ersten literarischen Stoffe (unter
anderem die Erzählung „Die Wiederholung“) geworden. Sowohl
motivisch, als auch figürlich. „Jahre später erst kam der
Moment, da ich, nicht mündlich, vielmehr im Aufschreiben,
jene Nacht teilweise weitererzählen konnte, verwandelt, eine
Verwandlung, die nicht gedacht war, sondern wie von selbst
geschah, eben im Aufschreiben.“
Handke will mit diesem Büchlein keine Theorie für
irgendjemanden anders als sich selbst niederschreiben. Seine
Befunde betreffen in erster Linie ihn, wenn andere eigene
Gedankengänge darin ausmachen können, dann ist dies eher
eine zufällige Folge. Und so gilt etwas Ähnliches wie das,
was Wittgenstein im Vorwort des Tractatus so treffend
beschrieben hat: „Dieses Buch wird vielleicht nur der
verstehen, der die Gedanken, die darin ausgedrückt sind –
oder doch ähnliche Gedanken – schon selbst einmal gedacht
hat. – Es ist also kein Lehrbuch. – Sein Zweck wäre
erreicht, wenn es einem, der es mit Verständnis liest,
Vergnügen bereitete.“
Der Leser, der jedoch noch kein Verhältnis zu
Handkes Arbeiten hat, wird sich womöglich die Frage stellen,
was das soll. Denn ist doch bemerkenswert, dass Handke bei
Suhrkamp anklopfen und sagen kann: „Ich habe hier auf
einhundert Seiten über die Toiletten meines Lebens
nachgedacht, schaut doch mal.“ Beneidenswert. Für
eingesessene Handke-Leser oder Leser mit Zugang zum
Gedankenmaterial hingegen könnte es nichts Geringeres als
ein Einblick in Handkes sprachliches Selbstverständnis und
seine Textgenese sein. Eine Frage also eher von Ernst und
Unernst, von Dichte und Distanz als von gut oder schlecht.
Zu seinem Geburtstag verleiht Peter Handke dem Klosett eine poetische Aura.
Seite 1 von 4
Am
6. Dezember wird Peter Handke siebzig Jahre alt. Aber wirkte er denn
eigentlich nicht immer schon so alt, wie er heute ist? Oder, richtiger:
Wirkte er in den letzten vierzig Jahren nicht eigentlich immer gleich
jung? Seit 1972 nämlich, dem Jahr, in dem kurz nacheinander die beiden
Romane „Der kurze Brief zum langen Abschied“ und „Wunschloses Unglück“
erschienen waren? Zwei im Grunde sehr private Texte, deren sprachliche
Intensität und nicht-private Perspektive hunderttausende Leser denken
ließen, gerade diese Bücher hätten ihnen, ganz persönlich, etwas
Wichtiges zu sagen.
Die
Theater-Aufregung um Handkes Stück „Publikumsbeschimpfung” und das
öffentliche Spektakeln des Jung-Genies jedenfalls waren vorbei, die 1966
mit einer überraschenden Schock-Aktion auf der Tagung der Gruppe 47 in
Princeton eingesetzt hatten: Der deutschen Literatur-Elite hatte Peter
Handke dort „Beschreibungsimpotenz“, der Kritiker- Elite wiederum die
himmelschreiende Unfähigkeit vorgehalten, diese zu erkennen. Von da an
war Handke ein Name in der literarischen Szene gewesen, ohne noch je ein
Buch veröffentlicht zu haben. Die landesweiten Aufführungen der
„Publikumsbeschimpfung” (1966) hatten das Bild vom krawallfreudigen und
arroganten Pop-Jüngling dann nur bestätigt. Die sprachvertüftelten und
leicht angestrengten Romane „Die Hornissen“ (1966) und „Die Angst des
Tormanns beim Elfmeter“ (1970) standen diesem Image zwar entgegen,
setzten ihre Leser aber auf andere Weise in Ängste: Sollte künftig so
geschrieben werden? Keine Erzählungen mehr also, die ihre Leser im
Innersten anrührten?
Solche
Befürchtungen schienen seit dem Doppelerfolg von 1972 dann, wiederum
überraschend, gegenstandslos. Peter Handke wandte sich in seiner
literarischen Arbeit nach innen – der Titel des 1969 erschienenen
Gedichtbands „Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt“ hatte bereits
programmatisch angezeigt, wohin die literarische Reise gehen sollte. In
der innenweltlichen Ansicht der Außenwelt schien er auch selbst dann
noch zu verharren, als in den neunziger Jahren sein Kreuzzug für die der
Kriegserklärung, Brandschatzung, Massenvergewaltigung und des
versuchten Völkermords in seinen Augen zu Unrecht beschuldigte
ex‑jugoslawische Republik Serbien begann: Alles, was Handke zu diesem
Themenkomplex schrieb, wurde aus der Innen- Perspektive seines
persönlichen Wahrnehmungskosmos gesehen, aus dem Blickwinkel eines
Sensualisten, der Wirklichkeit beschreiben kann wie sonst niemand in
deutscher Sprache – der diese stupende Fähigkeit nun aber (plötzlich,
nach dreißig Jahren, doch wieder ein literarischer Wutbürger) auf die
ehemals jugoslawische Welt anwandte. Die „andersgelben Nudeln“, an deren
Anblick er sich auf einem serbischen Markt nicht hatte sattsehen
können, während es ihm andererseits nicht gelang, in der Region um
Srebrenica auch nur einen einzigen Zeugen zu finden, der die Leichen
nach dem versuchten Genozid hätte den Fluss hinabtreiben sehen (also gab
es womöglich gar keine Leichen?) – diese „andersgelben Nudeln“ wurden
zum teils spöttischen, teils hasserfüllten, teils aber auch
schwärmerischenCatch Cryder verschiedenen Fraktionen unter den Handke-Lesern.
Dabei
zeigt das Gespräch mit Heinz Ludwig Arnold aus dem Jahr 1975 (siehe S.
15), dass das frühe literarische Selbstverständnis Peter Handkes in
seinen prägenden Grundzügen seit Anfang der siebziger Jahre durchgängig
Geltung behalten hat; auch die Beweggründe für den späteren
Serbien-Furor waren dort schon mit eingeschrieben. „Ich weiß ganz genau,
was ich möchte“, sagte Handke damals: „dass (die Leute) auch das
verstehen, was sie nicht verstehen wollen, was sie abwehren, was sie
immer abgetan haben.“ Und: „Ich glaube, dass Literatur nur dann
verbindlich wird, wenn sie in die äußerste Tiefe des Ich hineingeht.
Daraus bestehen meine Bücher: aus der äußersten Oberfläche und aus dem
äußersten Verbohrten.“ Gerade, dass dies alles sich bis heute so
verhält, ruft vermutlich den Eindruck der Alterslosigkeit des Jubilars
hervor: Seine Wutbereitschaft wie seine (Selbst-)Beobachtungslust sind
ungebrochen, substanzielle Veränderungen in diesem literarischen Projekt
gibt es nicht. Oder vielleicht doch? Zu seinem 70. Geburtstag hat Peter
Handke sich jetzt ein Buch geschenkt, einen „Versuch über den Stillen
Ort“ – eine Wendung zur Selbstironie?
Mit
seinem Titel und seinem Umschlag ruft das nur 109 Seiten umfassende
Buch sogleich die Erinnerung an seine drei Vorgänger wach, die Handke
zwischen 1989 und 1991 veröffentlichte: „Versuch über die Müdigkeit“,
„Versuch über die Jukebox“ und „Versuch über den geglückten Tag“.
Allesamt waren sie Meditationen über verschiedene Medien und Formen des
gesellschaftlichen Rückzugs wie der Rückgewinnung der Konzentration des
Schreibenden gewesen. Das Ziel all seiner Beobachtungen, Überlegungen
und Erinnerungen: sich selbst und der Welt die Geschichte des eigenen
Schreibens wie der eigenen Arbeitsweise zu verdeutlichen und, nicht
zuletzt, die Kraft zu sammeln, sich der lärmenden, das Individuum
zerfasernden äußeren Wirklichkeit neu wieder zuwenden zu können – nach
den eigenen Maßgaben, aus wiedergewonnener Beschreibungsstärke, einer
geschärften, vertieften, gewissermaßen innigeren Distanz.
Auch
der „Versuch über den Stillen Ort“ scheint sich dieser Reihe
umstandslos einzuschmiegen, Zurückgezogenheit ist auch hier das zentrale
Motiv. Wäre da nicht der Ort, um den es geht: „das Klosett (‹wie der
Name schon sagt›)“. Macht sich der Autor da, indem er „die Toilette, den
Abtritt, den Abort“ zum Gegenstand nimmt, einen Jux auf Kosten des
Innerlichkeits-Meisters? Das, tatsächlich, wäre ein ganz neuer Handke.
Doch so ist es natürlich nicht. Nicht nur wird das Klo alsbald seiner
abstoßenden und peinlichen Begleiterscheinungen entkleidet – „Geräusche,
gleichwelche, taten und tun nichts zur Sache. (Geschweige denn tun
Gerüche, seltsam, oder auch nicht)“ –, es muss auch, wie der Titel es
signalisiert, vom trivialen „stillen” zum emphatischen „Stillen Ort“
erhoben werden, einem Platz der Besinnung und höheren Einsichten: Ein
antiauratisches „00“ ist hier undenkbar.
Und
so beginnt Handkes persönliche Abort-Geschichte, nach einer poetischen
Reminiszenz an einen Roman mit dem Titel „Die Sterne blicken herab“
sowie einem kleinen ironischen Schlenker zum seit je hoch verehrten
Regisseur John Ford, im Märchenton: „Es war an der Schwelle zwischen der
Kindheit und dem Heranwachsendenalter, daß der Stille Ort mir etwas zu
bedeuten begann über das Übliche oder Gewohnte hinaus.“ Worauf folgt,
was man aus den vorherigen „Versuchen“ als Formprinzip schon kennt: ein
Mäandern zwischen eigenen Phantasien wie denjenigen anderer,
Erinnerungen, Assoziationen, Erfahrungen, Wunschträumen. Der
Gedankenstrom kreist verschiedene Orte der „Stille“ ein – den
Beichtstuhl etwa, das Krankenzimmer im Internat, die Waschräume der
juristischen Fakultät an der Universität Graz, Flugzeug- und
Eisenbahntoiletten –, bis der Erzähler schließlich den Stillen Ort
überhaupt erreicht, die „Tempeltoilette“ im japanischen Nara. Wobei es
zum Erzählverfahren gehört, dass mehrere Anläufe unternommen werden
müssen und Handke den Ort, den er zunächst als „Friedhofstoilette“
erinnert, immer wieder mit anderen Geschichten einfasst, bis er endlich
doch am gewünschten Ziel anlangt. „Hier liegt alles in meiner Hand, ihr
Leser“, scheint der Erzähler zu sagen, „ihr müsst mir schon glauben.
War’s eine ‹Friedhofstoilette›? Ach nein, doch lieber eine
‹Tempeltoilette›“!
Je
weiter der Text von Ort zu Ort vorankommt, umso deutlicher zeigt sich,
dass der Leser hier einem Spiel, einer Art Aufführung beiwohnt:
Dargeboten werden Lebensstationen des Schriftstellers in ihrer
Vernetzung, Verzwirbelung und Vertäuung mit dessen Werk. So sieht man,
wie „der Äuger“, dem schon auf dem Plumpsklo im Großvaterhaus die
slowenischsprachige Zeitung „Vestnik“ begegnet, das Schauen lernt: durch
seine Lebensumgebung in der „Dorfheimat“, nicht zuletzt aber eben durch
jenes Licht, das durch die Bretter-Ritzen im Toilettenverschlag dringt;
eine Seh-Schule, die den Schreibenden mit seinen einmal erlernten
Blickrichtungen durchs Leben und Schreiben begleitet. Diese
Lebens-Etappen werden vom Autor aber nicht nur kommentiert. Mal
spielerisch, mal provozierend geht der „Versuch“ vielmehr immer wieder
auch diejenigen mit kleinen Kopfstößen an, die Peter Handke im Laufe
seiner langen Autorenlaufbahn mit den unterschiedlichsten Vorwürfen
konfrontiert haben.
Er
sei ein Narziss? Da stellt er sich doch gleich – in einer längeren
Passage unter der Leitfrage „Wer war ich?“ – vor den Spiegel des
Universitäts-Waschraums und wendet den Gedanken um und um, dieser junge
Mann könne von sich selbst „nicht genug bekommen“. Das Ergebnis der
äußeren Selbstbesichtigung: „Nicht besonders. Gar nicht so übel.
Vielleicht nicht so ganz mit dem gewissen Etwas, aber auch nicht ganz
ohne.“ Und die kleine Narzissmus-Attacke schließt: „Na, so was. Ja, da
schau her. Da schaust du, wie? Schau, schau. Ja, schau nur. Schau!“
Oder
man unterstellt ihm „Gesellschaftsflucht“, „Geselligkeitsüberdruss”,
Defekte als „Gemeinschaftswesen“? Da fängt der Erzähler eine
umständliche, leicht höhnische Erwägung über die Lebenszeichen an, die
Raucher mit ihren Kippen auf öffentlichen Toiletten hinterlassen und
ernennt sich zum „Geometer“, der diese Stillen Orte „ermisst“ und „als
solcher tunlichst seinen Dienst ausüben (möge). Wenn der nicht von
Gemeinnutz war, was sonst, oder?“ Und obwohl er sich zur Ordnung ruft
(„Schluß jetzt mit der Ironie“), muss er doch noch einmal nachsetzen:
„Und da habt ihr das Gemeinnutzsiegel für den Geometer der Stillen Orte,
bekundet hiermit von ihm höchstselber!?“
Peter Handke: "Versuch über den Stillen Ort", Suhrkamp Verlag, Berlin 2012, 109 Seiten
Peter
Handke nutzt die Toilette als biografische Konstante, als Metapher der
eigenen Zurückgezogenheit. Das Klo ist Aufhänger für Geschichten, vom
großväterlichen Plumpsklo bis zur japanischen Tempeltoilette. Aber auch
von stillen Orten - in Kleinschreibung - ist die Rede.
Mehr
als zehn Jahre nach der Trilogie der "Versuche" - über die Müdigkeit,
über die Jukebox und, als letzten und schönsten, über den "geglückten
Tag" - liegt von Peter Handke nun wieder ein "Versuch" vor, diesmal
"über den Stillen Ort". Der Titel klingt ein wenig nach Selbstparodie,
wie ein ironisches Echo auf all die Selbstbefragungen und
autobiografischen wie topografischen Erkundungen, die Handkes gesamtem
Werk zugrunde liegen. Dass sich in der genauen Betrachtung - und
Beschreibung! - einzelner, manchmal sehr banaler Dinge die wesentlichen
Erkenntnisse einstellen: Das ist es, was Handkes prozessuales Schreiben
für seine Leser so ertragreich macht. Der Stille Ort als erkenntnisträchtiges Objekt
kommt dennoch überraschend. Der Ab-ort, vulgo: das Klosett, die
Toilette, besitzt zwar einen gewissen Ruf als Ursprung des Denkens und
der Klugheiten; aber bei solcherlei Plattheiten hat sich Handke noch nie
erwischen lassen. Er benutzt den Stillen Ort eher als biografische
Konstante, als Metapher der eigenen Zurückgezogenheit ebenso wie als
Aufhänger, um verschiedene Lebensstationen zu rekapitulieren. Das fängt
beim großväterlichen Bauernhof mit seinem Plumpsklo an und reicht bis
zur ruhevollen Ästhetik einer japanischen Tempeltoilette. Auch den stillen Orten in Kleinschreibung, also
ganz neutral gefasst und ohne jede anrüchige Anspielung, gehört ein Teil
dieses Versuchs: den verlassenen Geländen und leeren Schuppen der
Kindheit etwa, die dann allein durch die jederzeit abrufbare Erinnerung
und Vorstellung zur inneren Zuflucht des Erwachsenen werden können, "von
Fall zu Fall, inmitten eines Tumults (gerade im Tumult). Inmitten von
dem zeitweise noch ungleich stärker geisttötenden Gerede". Luxuriöser natürlich ist der Rückzug in die
Natur, wie ihn Handke oft genug beschrieben und geradezu gefeiert hat.
Das tut er auch hier und schildert seine Schreibsituation, in einer
stillen ländlichen Gegend in Frankreich, ohne Menschen, Tumult und
Gerede. Dennoch: Der Stille Ort ist nicht metaphorisch zu
verstehen, auch wenn die zugehörigen Geräusche und Gerüche ausgespart
werden. Natürlich stellt man sie sich beim Lesen trotzdem vor, während
Handke die ausgeklügelte Geometrie der Nasszelle akribisch vor Augen
führt, in die Brandmuster vertieft ist, die brennende Zigaretten auf
Deckeln hinterlassen haben und mit einer Hymne an den geradezu
joyceanischen Einfallsreichtum endet, der sich, kaum ist der Riegel
vorgeschoben, am Stillen Ort auftut. Der gelegentliche Wunsch nach selbst gewählter
Einsamkeit, nach den Momenten des "Ganz-bei-sich-Seins", ist letztlich
ebenso alltäglich wie der Ort, der sich in unserem Kulturkreis
naheliegenderweise dafür anbietet. Dass dies auch der traditionelle Ort
zweckfreien Sinnierens ist, ist ja kein Zufall. Besprochen von Katharina Döbler Peter Handke: "Versuch über den Stillen Ort" Suhrkamp Verlag, Berlin 2012 109 Seiten, 17,95 Euro Mehr Informationen zu Peter Handke: Peter Handke wird in Mülheim als "Dramatiker des Jahres" geehrt "Stationen, Orte, Positionen: Peter Handke": Tagung des Deutschen Literaturarchivs Marbach
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23.11.2012|21:11
Ein Weltgeräusch
KönnerschaftPeter
Handkes „Versuch über den Stillen Ort“ ist einfach ein sehr guter Witz.
Aber er ist natürlich noch viel mehr: Die brillante Erzählung eines
Zu-sich-Kommens
"Länger habe ich später nur noch einmal in solch einem Stillen Ort ausgeharrt"
Foto: Môsieur J. / flickr
Mit
dem Genre des „Versuchs“ hat Peter Handke seine ideale Form gefunden.
Anders als im Roman braucht er hier nicht fiktive und doch glaubhafte
Charaktere zu entwickeln, die einen zu fesseln vermögen, was nun
wirklich nicht seine Stärke ist. Vielmehr kann er seinem Dasein eine
Form geben, suchend, tastend, im Schreiben erprobend. Versuch, darin
schwingt der Essay mit, der übersetzt ja nichts anders heißt als eben:
Versuch.
Noch
radikaler als in der herkömmlichen Essayistik erarbeitet sich Peter
Handke ein Thema aber nur ganz am Rand in der Auseinandersetzung mit
dem, was andere von einer Sache gedacht und geschrieben haben, in erster
Linie ist es das leibhaftig Erfahrene und dann Erinnerte und Erzählte;
HandkesVersuchesind eine Sonderform der Autobiografie.
Im kommenden Dezember wird der Schriftsteller 70, derVersuch über den Stillen Ortist der vierte publizierteVersuch. Thematisch erinnnert er an seinenVersuch über die Jukeboxvon
1990, im Untertitel „eine Erzählung“. Schon damals konnte ein
herbstlich gestimmter Leser melancholisch werden; sein Gegenstand, die
Jukebox, war gerade dabei, ein für allemal aus der Welt zu verschwinden
und mit ihr ein Ort, an dem nicht nur der Erzähler, sondern auch viele
Leser mit Popmusik eine unverwechselbare Bekanntschaft gemacht haben,
vor allem deshalb – das war ja der Clou in Handkes Buch –, weil sie mit
ihr an Orten Bekanntschaft machten, die wie die Dorfkneipe noch nicht
popkulturell beherrscht waren. Im Übrigen hätte man von einer Band wie
den Flippers wohl nie erfahren, hätte es nicht die Jukebox gegeben.
Unterwegssein
Auch der aktuelleVersuchpasst
zur Stimmung des Herbstanfangs. Natürlich, seine Notdurft wird der
Mensch wohl für immer in Räumen verrichten, in denen meist nicht viel
mehr als eine Kloschüssel steht, aber wer sagt uns, dass auch in Zukunft
einer da ist, der sie als „Stiller Ort“ im vollen Wortsinn versteht und
aufschreibt? Der sie, ähem, weiht. Ja, das ist eigentlich ein Wort aus
dem Vokabular der Dichterpriester, also aus einer Zone der Literatur, in
der es humorfrei und unerträglich wird.
Es
ist bei Peter Handke aber zum Glück komplizierter. An einer zentralen
Stelle des Buches erinnert sich der Erzähler, wie er auf einer
Japan-Reise die Tempelstadt Nara besucht. Aber es ist dann nicht ein
Tempel, der dem Erinnernden das tiefste Erlebnis gebracht hat, sondern
das Dämmerlicht in der Tempeltoilette, das ihn endlich in der Fremde
ankommen ließ, ihn zugleich ruhig machte und belebte. Wenn bei diesem
Buch von Dichterpriester gesprochen werden kann, dann also nur im
modernen und einzig noch akzeptablen Sinn, dass hier einer aus dem
Ephemeren, dem Geringen und Abseitigen schöpft.
Man hat in solchen Fällen schnell das Wort „schräg“ parat, in diesem Fall passt es, denn natürlich ist dieser vierteVersucheinfach auch ein guter Witz, und keiner soll mehr Peter Handke als humorlosen Autor bezeichnen.
„Über
zwanzig Jahre“ sei der Besuch der Tempeltoilette in Nara nun her,
seither beschäftigte den Erzähler, oder sagen wir doch einfach: Peter
Handke, die Idee des Stillen Ortes. Man kann sich gut vorstellen, wie es
ihn amüsierte, wenn er daran dachte, dass die Kritiker bald
einen-Versuchüber den Stillen Ort in der Hand halten würden und damit eben wirklich die Toilette gemeint ist. Nichts anderes.
Oder
natürlich doch, denn vom Gestank will dieses Buch ausdrücklich nichts
wissen. Nicht dass diese Orte unsinnlich erscheinen, es ist vor allem
das Gehör, das von ihnen geschärft wird. Darüber hinaus sind die Stillen
Orte wie die Jukeboxen in der spanischen Pampa und anderswo Wegmarken
auf der Lebensreise dieses Schriftstellers, die ganz konkret ein stetes
Unterwegssein bedeutet.
Unterwegssein
auch im Kleinen. Es ist ja ganz einfach: Man geht auf ein Klo, weil man
muss oder weil man einer Gesellschaft für eine Weile entfliehen will,
manchmal kommt beides zusammen. Während der Zeit im Internat wird das
Klo für Handke sogar zum „möglichen Asylort“.
Einmal
mehr erzählt Peter Handke also vom Aufbrechen und Entfliehen, aber
diesen Fluchten aus der Welt von Familie und Schule, diesen Aufbrüchen
in ein unbekanntes Terrain, haftet nichts Heroisches (mehr) an. Selbst
das Einzelgängerische und Eigenbrötlerische, das Handke in seinen
früheren Büchern ja ganz gerne nach außen gekehrt hat, wird hier ein
wenig relativiert.
Um die Klosettschüssel
Die
Schulkameraden, so erfahren wir, hätten ihn „sämtlich“ gerne mit bei
einer Reise durch Jugoslawien und Griechenland dabeigehabt, aber aus
irgendeinem Grund ist er in Kärnten geblieben und dann mit einem Seesack
„aufgebrochen“. Weder sei er weit gekommen noch lange unterwegs
gewesen, die letzte Nacht verbrachte er in der Bahnhofstoilette in
Spittal an der Drau. Am Boden liegend, um die Klosettmuschel gekrümmt,
war er dann ganz Ohr, gerichtet auf die vorbeirauschenden Güterzüge
ebenso wie auf die „allerleiseste Böe von einem der Bahnhofsbäume. Von
einem Stillen Ort konnte während jener immer wieder vollkommen stillen
Nachstunden nicht die Rede sein.“ Diese Episode, so erfahren wir, wird
er später im Schreiben verwandeln, in derWiederholungwird aus der Toilette ein Eisenbahntunnel nach Jesenice.
Auch in seinem viertenVersuchist
Peter Handke ein Meister der unaufdringlichen Komposition. Wie von
selbst gleitet der Text vom Erzählen der Stillen Orte in die Stille
eines Niemandslands zwischen Paris und der Normandie. Hier wurde der
Text im vorigen Jahr geschrieben, wie in einer Art integriertem Epilog
berichtet wird. Geschrieben in der „Periode, von der es heißt, es sei
die dunkelste des Jahres“, in der Handke, wenn er nicht schrieb, das
tat, was er auch in seinenVersuchenso
oft tut, nämlich, wie soll man es nennen, wandern?, aber das trifft es
nicht, eher herumgehen, durchstreifen. Und dem „chronischen Regen“ zum
Trotz wird das nun ein heiteres Buch, das auf ein paar locker
geschriebenen Seiten die Natur selbst in einen Stillen Ort verwandelt,
anders gesagt, in ein „Weltgeräusch“
Peter Handkes "Versuch über den Stillen Ort"Des Dichters Feuchtgebiete
Man könnte es für einen Scherz der Titanic-Redaktion halten: Wenn Peter Handke,
der Pilz- und Sinnsucher der deutschen Literatur, dieser
Sensibilissimus und Sonderling, Schamane und Schmerzensmann, nun ein
Buch über den stillen Ort vorlegt, liegt der Verdacht nahe, es handle
sich dabei um Satire. Denn Handke, der ob der weihevollen Esoterik, mit
der er die Epiphanien des Alltags beschwört, seinen Spöttern noch stets
eine offene Flanke bot, versteht diesen stillen Ort nicht etwa im
übertragenen Sinne - das auch -, sondern es geht ganz indiskret um die
Toilette, wenn auch vom Gestank ausdrücklich "keine Rede" sein soll.
Peter
Handke ist also seinen Parodisten zuvorgekommen mit diesem Bändchen,
das zwanzig Jahre nach dem vorläufigen Ende seiner kleinen Reihe wieder
anknüpft an das Genre der erzählerischen Hommage, diesmal mit einer
Hommage an einen denkbar profanen Gegenstand.
Begonnen
hatte es 1989 mit dem "Versuch über die Müdigkeit", war ein Jahr später
fortgesetzt worden mit dem "Versuch über die Jukebox", bevor der
"Versuch über den geglückten Tag" 1992 die Trilogie abschloss. Obwohl
schon die jüngsten Bücher Handkes von einer neuen Entspanntheit zeugten,
ist es ihm nun nicht darum zu tun, seinen Hang zum Pathos das Bächlein
inkontinenter Selbstverspottung hinunter gehen zu lassen. "Schluss jetzt
mit der Ironie", heißt es da, "nicht zum ersten Mal erkenne ich, daß
die, zumindest im Schriftlichen, nicht meine Sache ist".
Wohl
wahr, aber überraschender als diese Einsicht ist die Offenheit, mit der
sie geäußert wird. Und es gibt einige überraschend deutliche
Selbstauskünfte mehr in dem schmalen Bändchen. So etwa erzählt Handke,
dass seine erste große Wanderung eben nicht die nach Jugoslawien war,
die für ihn und die Nachkriegsliteratur so wichtig wurde. Vielmehr
scheiterte der Aufbruch zunächst kläglich, als Handke, nach dem Ende der
Schulzeit in Kärnten, allein sich aufmachte. Die dritte Nacht brachte
er in einem Bahnhofsklo zu, "in einem Halbkreis um die Klosettmuschel
geringelt", um am nächsten Morgen zu beschließen: "nichts wie heim". In
seiner Erzählung "Die Wiederholung" hat er dieses Erlebnis dann ins
Heroische abgewandelt .
Man
erfährt neben solchen Korrekturen an Leben und Werk, dass Handke, der
Autor der Innerlichkeit, von dem man meinte, er schöpfe seinen Stoff
einzig aus sich selbst, durchaus recherchiert. Nur hat er die "nicht
wenigen" Bücher "zum Bedeutungswandel der Notdurftverrichtung", die er
konsultierte, dann doch wieder beiseite gelegt, weil sie ihm bei seinem
Thema nicht weiterhalfen. Statt dessen orientiert sich die Reise durch
die Welt der Feuchtgebiete an den selbsterlebten stillen Orte, vom
bäuerlichen Plumpsklo des Großvaters bis zum japanischen Friedhofs- oder
Tempelklo. Denn das Erkenntnisinteresse dieses "seltsamen Forschers"
besteht darin, die "Stillen Orte" wörtlich zu nehmen und groß zu
schreiben, als "Zuflucht, Asyl, Verstecke, Rückzugsgebiete,
Abschirmungen, Einsiedeleien", als Orte, "wo der Geist im wahrsten Sinne
Ruhe findet", ja als utopische "Ab-Orte" innerer Einkehr.
Verräterisches Rinnsal unter den Füßen
Auch
hier zeigt sich Handke ungewohnt selbstkritisch, wenn er sich fragt, ob
sein jäher Drang, den stillen Ort aufzusuchen, nicht einer
Gesellschaftsflucht gleichkomme, Ausdruck von "Gesellschaftswiderwillen"
sei, von "Geselligkeitsüberschuss", "ein asozialer - ein antisozialer
Akt?" im Grunde. Dabei ist er "versucht, ,Ideal Standard' - nicht die
Warenmarke, sondern das Wort - auf mein Problem anzuwenden", dieses
dringende Bedürfnis, sich abzusondern.
Ein
Schlüsselerlebnis ist da die Episode, wie Handke als Neuling im
Internat nicht die Toilette findet oder sich nicht traut, danach zu
fragen, so dass er gleich zum verspotteten Einzelgänger wird, als sich
im Speisesaal ein verräterisches Rinnsal unter seinen Füßen bildet. Es
geht aber jenseits der Notdurft um "eine ganz andere Not", die
Langeweile "als die andere; die umgekehrte Zeitnot", vor allem jedoch um
die Sprachnot. Zum Schweigen gebracht "durch die Worte wie Wörter der
anderen", entzieht er sich mit einem "ich muss kurz verschwinden!". Und
erfährt: "die Sprach- und Wörterquelle springt frisch auf",
zurückkehrend ins "Grölen, Gellen, Toben und Kreischen", ist er wieder
"vielsilbig, voll von der Redelust".
Dass
der große Dichter Peter Handke ausgerechnet zu sich selber kommt, wenn
er mal für kleine Jungs muss, hätte seine Leser-Gemeinde vielleicht so
nicht erwartet. Dass er aber selbst diesem heiklen Sujet einen
wunderbaren Essay abgewinnt, macht ihm keiner nach. Diese wahrscheinlich
stillste Neuerscheinung mag eine Beckenranderscheinung des
Bücherherbstes sein, sie dürfte dennoch für Gesprächsstoff sorgen,
zumindest an den stillen Orten der Frankfurter Buchmesse.
Peter Handke: Versuch über den Stillen Ort. Suhrkamp Verlag, Berlin 2012. 109 Seiten, 17,95 Euro. =========================
Ein Moment ist viel oder: Als ob der Regen stiefelte
Peter Handkes eindringlicher »Versuch über den Stillen Ort«
Der
Stille Ort, das ist tatsächlich: das »stille Örtchen«. Peter Handkes
»nun fast schon lebenslanges Umkreisen und Einkreisen des Stillen Ortes
und der stillen Orte« ist Buch geworden. Dessen Ausgangspunkt: ein Roman
von A. J. Cronin, darin der Kinderheld auf der Toilette Zuflucht sucht
vor der Erwachsenwelt. Der Ab-Ort als schöne Chance zur besänftigenden
»Nächstenferne«, wo der Junge »nichts tut, als der Stille dort zu
lauschen«. Und die Sterne blickten herab - was dem Roman den Titel gab:
»The Stars Look Down.«
Die
Toilette beim Großvater in Kärnten, im slowenischen Dorf. Die Toilette
im Schulinternat, wo das Getön der Mitzöglinge endlich »nicht mehr als
Gegell und Gebrüll ankam« - ein Asylort wie der Beichtstuhl. Oder das
schulische Krankenzimmer: Lob der »Aus- und Alleinzeit«. Handke ist am
Millstädter See oder in einer Tempelgartentoilette in Japan, er erinnert
sich an viele Stille Orte, und aus diesem vielleicht kurios zu
nennenden Anlass des Buches erwuchs ein wunderbarer Text über
»Augenblicke von Ver- und Geborgenheit« inmitten blökender Welt.
Es
ist dies der vierte »Versuch« des Dichters, er schrieb bereits Versuche
über die Müdigkeit, die Jukebox, den geglückten Tag. Um-Schreibungen,
Um-Kreisungen, beobachtend, erzählend - essayistisch möchte man gar
nicht erst sagen, das nähme Leben aus diesen Büchern, Atem, die große
anmutige Um-Sichtsfreude. Wieder diese Armut an Zwischenfällen als
Reichtum des Erschauten. Als »Äuger« bezeichnet sich Handke: Wo es
scheinbar um nichts geht, liegt doch alles vor Augen. Dieses Nichts, das
immer nur ein Fast-Nichts ist, kann ein Werkzeugschuppen sein, »ein
über Nacht leerstehender Bus, ein wenn auch halb eingestürzter
unterirdischer Bunker aus werweißwelchem Krieg«. Rückzugsgebiete, sagt
Handke, und schon ein Blick zu Boden kann das sein, »hinein in die
Straßenbahnschienen«. Naturbild und Menschenspur in wundersamem
Beieinander. Die wahren Schatzsuchergeschichten.
Es
gibt keinen Dichter, der mit solchen Exerzitien der Anschauung, mit
solcherart Sehnsucht nach dem Ereigniszittern des »bloßen Anblicks« in
den Tag und in die Nacht, ins Licht und in die Schatten tritt. Was er
mit Beben schaut, »ein Moment ist viel!«, das ist inmitten der Mauern,
der Verschleierungen, der so vielen Wände und Absperrungen des Daseins
eine Feier der Luftdurchlässigkeit. Der Stille Ort und die stillen Orte
als »Heimkehr- oder Einkehr- oder Abbiegestätten« im überall
»geisttötenden Gerede«.
Das
Einfache? Beleidigungswort. Im Gegensatz zu: Einfalt. Ja, in der
Literatur dieses Märchenbruders geschieht - Einfalt. Das ist etwas aus
der Zeit Gestoßenes. Einfalt ist Grundfläche, kaum mehr auffindbar in
heutiger Kultur, die zwar allem den Schleier entreißt und dann doch nur
immer auf Oberfläche stößt. Einfalt ist Versöhnung mit Ursprüngen. Es
ist Befreiung. Ist »der Blick über die Schulter ins Leere«. Wie es
Handke von Ben übernommen hat, dem Helden aus Wolfes »Schau heimwärts,
Engel«, der »sooft er Gerede, Streit, Unsinn, Krieg usw. der Familie
oder sonstwessen wieder einmal über hat, den Kopf über die Schulter
zurück in einen leeren Winkel des Hauses oder sonstwohin wendet und zu
seinem ›Engel‹ dort sagt: ›Nun hör dir das an!‹«
Friedhöfe.
Kirchen. Toiletten. Stille Orte. Ja: Bedürfnisanstalten. Hier macht das
Bedürfnis nach einem ungebrochenen »Hiesigkeitsgefühl« Anstalten, sich
zu befriedigen. Sich befriedigen zu lassen vom Geist der
Unverwundbarkeit, inmitten doch des Verwitterns der Dinge, der Stunden.
Ein Verwittern, gegen das die Welt hamsterrädrig ihr wieselndes
»Weltbedeutungsspiel« setzt, über das der Dichter nur lächeln kann.
Anmut
geht von diesem Text aus, Anmut als Ausdruck von Würde. Anmut als
Aufruhr gegen die Fesseln des Althergebrachten. Asozialität also,
Beseeltsein davon, den Geheimnissen des inneren, unbewussten Lebens
näher zu kommen. Handke ist nicht mutig, sondern weit mutiger: Er ist
furchtsam. Das Schreibziel (Wortwerdung als Weltschöpfung!) ist denn
doch zu hochfein, als dass es sich je ganz fassen ließe. Das macht jene
Unsicherheit und Unruhe aus, die auch diesem »Versuch« eingeschrieben
ist. Meistens ist ja erst dann, wenn eine Sache aufhört, ein Ton da, der
in uns nachklingt. Hier ist der Ton schon die Sache selbst. In ihm kann
man sich aufgehoben fühlen und an so etwas wie Bewahrung glauben. Als
sei die Welt schon vollständig erzählt, man muss nur immer warten, bis
das Unerforschliche die Augen aufschlägt. Bewahrungsgefühl. Das ist
angesichts jener Deutlichkeit, mit der rundum Vernichtung und Vernutzung
protzen, doch etwas sehr Wärmendes.
Wer
im Beton sitzt, von der Stadt verschlungen, der möge die letzten zehn
Seiten dieses Büchleins lesen. Handke schreibt über den Dezember, in dem
er diesen Text schrieb, in einer »ziemlich menschenleeren Gegend in
Frankreich«. Geht durch die Nässe, von früh bis spät bilden einzig
Wolken den Horizont, er singt ein Lied auf die Gummstiefel, es ist, als
ob selbst »der Regen stiefelte«. Wie er so grandios innig und leichthin
Landschaft beschreibt, und Tiere, das birgt eine Chance: Immer, wenn man
gerade wieder mal alles durch die schmutzige Brille der Gewohnheit
sieht, könnte man plötzlich einer Stimmung gewahr sein, könnte auf einen
Anruf aufmerksam werden, den man vielleicht noch nicht ganz begreift,
dem man aber sofort folgt, indem man die Gleichgültigkeit für ein paar
Atemzüge überwindet - eine Freude vielleicht um einen Gran vermehrt
fühlend, einen Schmerz um eine Schwingung heftiger empfindend.
Solcherart
sind die Wirkungen von Handke-Wellen. Der zum Schluss den wahren Grund
seiner Stillort-Obsession offenbart. Es ist gar nicht so sehr die Stille
an sich, nein, sie muss eingebettet sein zwischen Abschied (von der
Welt) und neuerlichem Willkommen (in der Welt). Es treibt den Dichter
dieser immer wieder Notdurft werdende, also notwendige Übergang zur
Stille - bei dem ihm dann Sprache zurückkehrt. Zurückkehrt wie ein
Staunen, es »nimmt mich entgegen«. Und derart gestärkt dann wieder
hinaus!
So
zürnte sich vor Jahren, im Theaterstück »Untertagblues«, der
U-Bahnfahrgast durch die Stationen der Welt, tobend gegen die arge,
gehasste Mitmenschenschaft - um am Ende flehend zu ihr zurückkehren zu
wollen. Bloß weg - um dann wieder heimzukehren. Der Hass erzählt von -
Sehnsucht nach Liebe. Die Einsamkeit ist die Schwester der -
Weltumarmung.
Peter Handke: Versuch über den Stillen Ort. Suhrkamp Verlag Berlin. 110 S., geb., Leinen, 17,95 Euro
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Mo 22.10.2012
Buch
Peter Handke: "Versuch über den stillen Ort"
In seinem neuen Buch fokussiert Handke seine Poetik auf das Klosett als Ort der Abgeschlossenheit, des Rückzugs
Bewertung:
Der "Stille Ort", um den es Peter Handke in seinem neuesten Buch geht, ist tatsächlich das stille Örtchen: das Klosett. Mit fast siebzig Jahren lässt sich der in Frankreich lebende österreichische Autor noch einmal durch den Kopf gehen, was die (groß geschriebenen) Stillen Orte in seinem Leben bedeutet haben und immer noch bedeuten. Er abstrahiert alle naheliegenden Assoziationen der Notdurft, der Gerüche und der notdürftigen Sprüche an den Wänden; die sich aufdrängenden Gedanken an Unflat und Schmutz, Heimlichkeit und Scham lässt er gar nicht erst aufkommen, weil es ihm um Anderes geht. Seine Klosetts sind reine Räume der Stille, des Rückzugs, der Abgeschlossenheit und Abgeschiedenheit, des Zu-sich-Kommens – Asyl-Orte vor dem Welt- und Menschenlärm.
In seinemVersuch über den Stillen Ortmischt Handke Erinnerung, Selbstbeobachtung, Lektüre und essayistische Nachdenklichkeit beim Umkreisen seines Themas – und der französische Begriff "Essai" meint ja nichts anderes als einen "Versuch". Insofern führt der neue Essay wie selbstverständlich Handkes frühere Versuche fort – seine Trilogie der Versuche von 1989/90: über dieMüdigkeit, über dieJukeboxund über dengeglückten Tag. Mit dieser Trilogie sah Handke bewusst ab vom Weltgetöse, das die Umbrüche und Umstürze des epochalen Exzess-Jahres 1989 begleitete, indem er seine ganze in sich gekehrte Aufmerksamkeit auf das Unscheinbare und Nebensächliche richtete, auf das Periphere und Marginale, auch auf verschwindende Dinge wie eben die Jukebox.
Nichts anderes tut Handke auch mit diesem neuen Text. Er ruft sich die Stillen Orte wieder ins Gedächtnis, die für ihn Bedeutung gewannen. Es geht ihm um die episodische Nacherzählung der Stillen Orte seines Lebens, um Geschichten und Bilder, die in seiner Erinnerung wieder aufsteigen. Das beginnt mit dem bäuerlichen Plumps-Klo seiner Kindheit im Hause seines Großvaters in Kärnten, einem hölzernen Abort, in dem die zerschnipselte slowenische Wochenzeitung des Großvaters als Toilette-Papier diente. Im geistlichen Internat dann wurde das Klosett dem grüblerischen und einzelgängerische Zögling wirklich zum Asyl-Ort, zum Zufluchtsraum, anders als der Beichtstuhl, den er Heranwachsende meist nur aufsuchte, um sich aus der Langeweile der Messfeier wegzustehlen.
Handke erinnert sich an die Nacht, die er auf seiner missglückten einsamen Abitur-Reise in der Kabine einer Bahnhofs-Toilette einer Kärntner Kleinstadt verbrachte, "in einer Art Halbkreis um die Klosettmuschel geringelt", mit seinem Seesack als Nackenpolster auf dem gekachelten Boden. Zum leichten Nachtwind, der durch die Sommernacht strich, denkt er sich den "Geißblattduft" hinzu, "wie das Südstaaten-und-Mississippi-Geißblattt in den Büchern William Faulkners". Erst viel später sollte Handke diese Nacht in verwandelter Form in seine ErzählungenDie HornissenundDie Wiederholungaufnehmen.
Und er erinnert sich vor allem an die Toilette im Tempelbezirk von Nara in Japan, die ihn begeisterte wegen des klaren, schimmerndenDüsterlichts, das die feingemaserte kleine Holzkabine durchwirkte. Handke schreibt: "Seit dem Morgen in der Tempelgartentoilette von Nara begleitet mich der Stille Ort, über das Ding und den Platz hinaus, als Idee." Diesen Ort gelte es zu umfahren oder zu umkurven wie ein Vorgebirge, und das Boot sei in diesem Fall "die Sprache, die des umkreisenden oder umreißenden Erzählens". Und genau dies wäre die Definition des essayistischen Erzählens, wie Handke es hier in souveräner Gelassenheit vorführt: eine ihren Gegenstand, ihre "Idee", sanft umkreisende Sprachform.
Im Verlaufe von Handkes betrachtenden Erinnerungen erfährt der Stille Ort als "Zuflucht, Versteck, Rückzugsgebiet, Abschirmung oder Einsiedelei" auch mancherlei Verwandlungen und Weiterungen. Der Autor übt sich in mannigfachen Rückzugs-Strategien, die keineswegs nur auf den Abort beschränkt bleiben. Manchmal genügt ihm schon "ein Innehalten, ein Umkehren, ein Rückwärtsgehen, ein bloßes Atemanhalten", um sich das Welt-Getöse vom Leibe zu halten. Auch leere Kirchen oder Friedhöfe in ihrer Lärmabgeschirmtheit erfüllen diese Funktion. Dass auch das Lesen ein Stiller Ort ist, nennt Handke "fast eine Binsenweisheit".
Worum es ihm geht, ist der Stille Ort als "das Grundandere", über das er sich hier aufs Neue Klarheit zu verschaffen versucht. Und darum dreht sich Handkes Schreiben seit jeher: Es geht um Techniken der Selbstbesinnung und Selbstvergewisserung, mittels derer sich die Sinne schärfen lassen für die Stille hinter dem Allerweltsradau. Diese Poetik des "Grundanderen" durchwirkt Handkes gesamtes Œuvre. Diesmal allerdings fokussiert er sie eben auf das Klosett als Ort der Abgeschlossenheit, in dem das Verriegeln der Tür in eins geht mit einem großen Aufatmen: "Endlich allein!"
Handke fragt sich nun ernstlich, ob dieser Rückzugs-Impuls, dieses "wortlos brüske Aufstehen und Sichentfernen", vielleicht Ausdruck von "Gesellschaftswiderwillen, von Geselligkeitsüberdruss" sei, gar "ein antisozialer Akt?" Und er kommt zu dem Bekenntnis: "Ja, das war, und ist, zeitweise unabstreitbar der Fall." Und doch sieht er sich als Gesellschaftswesen: Erst kraft Rückzug in die Stille findet er zurück zur Sprache, zur Kommunikation mit den anderen: "Das Grölen, Gellen, Toben und Kreischen draußen: verwandelt in Volksgemurmel und Weltgeräusch. Los, auf, zurück zu den anderen, vielsilbig, voll von der Redelust."
VON LOTHAR SCHRÖDER -zuletzt aktualisiert: 30.10.2012 -
02:30
Düsseldorf (RP).Die große
literarische Geste des Peter Handke ist wahrscheinlich der
Versuch: das bewusste Herantasten an einen Gegenstand also,
die Weigerung, zu behaupten, dass etwas so und nicht anders
ist, sowie eine Grundskepsis gegenüber der Sprache. Letzteres
wiederum zählt literaturgeschichtlich mittlerweise schon zur
österreichischen Folklore.
Und so hat der 1944 in Kärnten geborene,
seit vielen Jahren bei Paris lebende Dichter bereits drei
solcher Versuche unternommen: mit dem "Versuch über die
Müdigkeit", über die Jukebox sowie über den geglückten Tag. Über
20 Jahre ist das schon her. Und nun Handkes nächster Versuch,
einer über den sogenannten stillen Ort.
Wer aber bei einem der feinsinnigsten, zur
Esoterik neigenden und den Schmerzen zuneigenden Dichter
deutschsprachiger Literatur sich jetzt irgendetwas Überhöhtes
vorstellt, muss enttäuscht werden: Peter Handke geht es diesmal
tatsächlich ums Klo, den Abort, den Donnerbalken, die
öffentliche Bedürfnisanstalt, je nachdem halt, wo und zu welcher
Zeit sich die Besichtigung dieser Lokalität gerade ereignet.
Allerdings muss man bei Handke auch nicht
befürchten, dass es nun irgendwie unappetitlich wird. Aber auch
eine ästhetische Überinszenierung bleibt aus. Vielmehr ist
dieser Versuch eine rührende wie selbstredend sprachmächtige
Begegnungsgeschichte des Autors mit dieser Stätte der Notdurft.
Dazu gehört, wie er zu Beginn seiner
Internatszeit verzweifelt und vergeblich ein Klo sucht, wie die
Toilette für den Einzelgänger zum Asylort wird, bedrückend auch
die Schilderung der einsamen Reise des jungen Abiturienten, der
in einer Bahnhofstoilette übernachtet und dort fast ein Büßer
wird: gekrümmt auf dem harten Steinboden liegend, den Kopf auf
den Seesack gebettet und "vor Augen nichts als das Spiegelweiß
des Klosettsockels". Das Klo als Versteck, als Einsiedelei, als
Rückzugsgebiet und – in der weihevollen Tonlage Peter Handkes –
als "etwas Grundanderes".
Das ist ja die Leistung des Österreichers,
bekannten Dingen Neues, Ungeahntes abzuringen. Wie tief die Ruhe
plötzlich wird, wenn Handke die japanische Tempeltoilette von
Nara würdigt, oder wie er die "konzentrierte Geometrie" der
Klosetts betont und deren Raum- und Zeitferne preist. Und wer
wusste schon, dass die letzte Arbeit des Architekten
Friedensreich Hundertwasser eine Toilette auf Neuseeland war?
Zur Häme bietet der Essay dennoch keinen
Anlass; die stillen Orte sind nicht des "Dichters
Feuchtgebiete". Sein Hohes Lied auf den schmutzigen und
ekelhaften Raum gilt allein der Sprache. Schon am Anfang rühmt
Handke den ausgiebigen Kloverbleib, "um nichts mehr zu hören von
dem Gerede".
In dieser Welt verstummt Handke, wird
sprachlos, einsilbig. Und ausgerechnet am stillen Ort – abseits
von "Volksgemurmel" und "Weltgeräusch" – beginnt seine Sprach-
und Wörterquelle wieder zu sprudeln. Das muss man nicht allzu
wörtlich nehmen. Nur dies: dass Handke als Dichter nur in
rigoroser Weltabkehr existieren kann. Darum ist dieser Essay
auch kein Klo-Buch, sondern eine intensive, literarische
Selbstauskunft. "Der Versuch über den Stillen Ort" ist ein
Versuch über Peter Handke.
Jenseits der Latrinenkunde und des Lärms der Zeit: Peter Handkes Gedanken und Einsichten über die Einsiedelei Von Ulrich Weinzierl
Große Ereignisse werfen ihre Schatten voraus. Am Nikolaustag, dem 6.
Dezember, wird Peter Handke siebzig. Daher lud Österreichs
Staatsoberhaupt Heinz Fischer bereits jetzt zu einem Abend für den
Dichter. Und der kam tatsächlich in die Hofburg: in die Josephskapelle
des Leopoldinischen Trakts, von deren Existenz die meisten Wiener gar
nichts wissen. Ein Maultrommelvirtuose spielte virtuos, und nicht nur
der beste Rezitator des Landes, Peter Matić, sondern auch begabte Laien,
darunter der Bundespräsident, lasen aus Handkes Werk. Ungeachtet des
sakralen Ambientes weder Hochamt noch Society-Peinlichkeit, eher eine
Geste der Wertschätzung und des Respekts, fast der Freundschaft. Peter
Handke revanchierte sich beim Gastgeber mit einem druckfrischen Exemplar
seines Buches "Versuch über den Stillen Ort". Zu Kaisers Zeiten wäre
die Gabe eine Majestätsbeleidigung gewesen, in unseren republikanischen:
bloß eine hübsche Pointe. Denn der "Stille Ort" ist naturgemäß nichts
als, mit der Definition aus dem virtuellen Konversationslexikon gesagt:
"die sanitäre Vorrichtung zur Aufnahme von Körperausscheidungen
(insbesondere Kot und Urin)". Solch keimfreier Diktion befleißigt sich
ein waschechter Schriftsteller freilich nie und nimmer, lieber spricht
er, halten zu Gnaden, vom "Scheißhaus". Das tut auch Peter Handke
einmal.
Wie er das tut, kann sich hören und sehen lassen. Kein anderer Autor der
Gegenwart brächte derlei zuwege: das Mit- und Ineinander von
spottferner Ironie und Ernst, von Pathos und Poesie; im Verknüpfen des
vermeintlich Höchsten mit dem vermeintlich Niedrigsten. Es ist in der
Tat wieder einmal eine Erkundungsreise, zu der uns Handke hier verführt.
Vor zwei Jahrzehnten hat er sich zyklisch, in einer kleinen Trilogie,
mit dieser Form auseinander gesetzt: Auf "Versuch über die Müdigkeit"
(1989) folgten "Versuch über die Jukebox" (1990) und "Versuch über den
geglückten Tag" (1991). Lauter sehr persönliche Essays, ein stetes
Erwägen und Abwägen, eine behutsame Annäherung auf vielen Abseitspfaden
an das jeweilige Thema.
Der nunmehrige Versuch eines Versuchs enthält den höchsten
autobiografischen Anteil von allen. Erfahrungssplitter aus später
Kindheit und früher Jugend, die sich zu fragmentarischen Geschichten
weiten, verdeutlichen, wie sehr Handke den "Stillen Ort" als
Rückzugsraum, ja als eine Art Asyl benötigte. Er war und ist in erster
Linie Beobachter, der Betrachter schlechthin, oder wie es da heißt: ein
"Äuger", kein Riecher. Also bleibt uns jeglicher Hinweis auf die im
Abort-Bezirk unvermeidliche Geruchsbelästigung verwehrt, beziehungsweise
erspart. Um Missverständnisse zu vermeiden: Der Sprachversucher Handke
leidet nicht unter einer Latrinen-Obsession, und von einer Häusel-Elegie
ist sein erzählender Essay ebenso weit entfernt wie von
kulturanthropologischer Feldforschung. Zweifellos hat er diesbezüglich
eine Menge Wissenswertes recherchiert – und dann verworfen.
Sein "lebenslanges Umkreisen und Einkreisen der Stillen Orte und der
stillen Orte" beginnt mit einer literarischen Reminiszenz: an A. J.
Cronins Erfolgsroman "Die Sterne blicken herab". Einer der jugendlichen
Helden, einzig und allein daran vermag sich Handke zu erinnern, sucht
des Öfteren das Klosett auf, und zwar "ohne Not". Er will sich einfach
absentieren, der "Stille lauschen". Und weil der Abtritt kein Dach hat,
passt der Titel auch auf diese Szene: "The Stars Look Down".
Abgeschlossenheit, "Nächstenferne", Ruhe, Ver- und Geborgenheit sind die
Begriffe, die magische Wirkung auf ihn ausüben. Ein Schlüsselerlebnis
hatte er einst in einer japanischen Tempelgartentoilette: Er verspürte
so etwas wie den Augenblick der wahren Empfindung, die Energie der
Stille, die ihm das fremde Land und dessen Leute, den "Fernen Osten",
plötzlich nahe brachte. Peter Handkes Schriften handeln auch und gerade
von Momenten der Epiphanie des "Grundanderen", die alles, ein ganzes
Leben in neues Licht zu tauchen imstande sind. Mit esoterischen
Anwandlungen hat derlei wenig zu tun. Auf seinen Ein-Mann-Expeditionen,
den buchstäblichen und den geistigen, sammelt er unermüdlich Eindrücke:
Er zieht sie an sich, formt sie um, verleiht ihnen dauerhafte Gestalt.
Er zeigt uns die Dinge, wie wir sie vorher nicht wahrgenommen hatten.
Der übergenaue Blick des Künstlers, der er ist, hat die Macht des
Verzauberns.
Handkes "Versuche" entstanden in der Regel im Winter, auch der "über den
Stillen Ort". Er wurde in der zweiten Dezemberhälfte 2011 geschrieben,
im Département Val-d’Oise, einer "ziemlich menschenleeren Gegend". Peter
Handke frönte seinen Lieblingsbeschäftigungen: dem einsamen Gehen
querfeldein, dem Innehalten und dem Innewerden. Er grüßt einen aus der
Wildnis ragenden "tausendjährigen Kirchturm". Mit Fug und Recht, möchten
wir ergänzen, könnte er doch von Van Gogh gemalt worden sein. Er
entdeckt eine "Wildschweinfamilie, die, nachdem sie wieder einen Jagdtag
überlebt hatte, in der Nacht vielstimmig grunzte im Unterholz gleich
neben der Landstraße, wo kein Jäger sie vermutete, sich vielrückig aus
dem Fastdunkel sich buckelte und, nein, nicht grunzte, sondern
tuschelte, tuschelte und sich buckelte." Und im Wandern und Nachsinnen
wird ihm endgültig klar, worin für ihn der Reiz der stillen Orte liegt,
auch jener mit Großbuchstaben. Es ist die gelebte Utopie eines Gegenorts
zum ohrenbetäubenden Gelärm der Zeit. "Draußen: Verstummen,
Verstummtheit, Sprachloswerden, Sprachlosigkeit, Sprache verlieren.
Sprachverlust. Einsilbig geworden durch die Worte wie Wörter der andern,
von ihnen zum Schweigen gebracht – angeödet – verödet." Drinnen jedoch,
am Stillen Ort der Stille, nichts als Erleichterung, Befreiung von
innerem und äußerem Druck: "Die Sprach- und Wörterquelle springt frisch
auf". Honni soit qui mal y pense. Das "Grölen, Gellen, Toben und
Kreischen draußen: verwandelt in Volksgemurmel und Weltgeräusch." Und
den temporären Einsiedler überkommt die Lust, wenn er seiner Fantasie
Beine und Flügel gemacht hat, sich unter die sonst so störenden Leute,
die die Seinen sind, zu mischen. Aber das ist eine andere Geschichte.
Peter Handke feiert die Toilette als Zufluchtsort für Einzelgänger. Das Lesen preist er auch als stillen Ort
Seit 1990 lebt Peter Handke in Chaville. Ein stiller Ort, wie man meinen möchte. Ab und an fährt er mit der Vorortbahn in die nahe Großstadt Paris und kriegt dabei, wie er unlängst erzählte, schon mal Ärger mit der Polizei, weil er die Füße aufs Polster legt. Zweimal habe er deswegen Strafe zahlen müssen. Als ob die nichts Besseres zu tun hätten. „Ich geh da sofort auf hundert hinauf!“ Ein Beamter zog sogar die Pistole. „Da ist viel Frustration bei diesen jungen Typen.“ Wo der Dichter doch extra eine Zeitung unter die dreckigen Schuhe gelegt hatte.
So kennen wir Handke. So lieben wir den eigenbrötlerischen Erfolgsschriftsteller, dessen hoher Ton aus der deutschen Literatur seit seinen „Publikumsbeschimpfungen“ 1966 nicht wegzudenken ist. Im Dezember steht sein 70. Geburtstag an. Dieser Tage kommen gleich drei neue Titel von ihm auf den Markt. Bevor im November sein „Tagebuch Nr. 4“ und „Der Briefwechsel“ mit Siegfried Unseld erscheinen, macht der „Versuch über den Stillen Ort“ den Anfang. Er knüpft an die „Versuchs“-Reihe aus den Jahren um 1990 an – „Versuch über die Müdigkeit“, „Versuch über die Jukebox“, „Versuch über den geglückten Tag“. Und Handke gibt sich gewohnt provokant. Ist mit dem stillen Ort doch keinesfalls Chaville gemeint, sondern der Stille Ort, groß geschrieben. Ja, die Toilette!
„Nicht wenige Bücher habe ich gelesen, viele Fotos habe ich betrachtet als Vorarbeit für diesen Versuch über den Stillen Ort. Aber kaum etwas davon hat in diesem seinen Platz gefunden.“ Es geht, wie so oft bei Handke, wieder mal monomanisch um ihn selbst. Weil „Literatur nur dann verbindlich wird“, wie er einmal sagte, „wenn sie in die äußerste Tiefe des ICH hineingeht“.
Von einem Zitat des schottischen Autors Archibald Joseph Cronin („Die Sterne blicken herab“) ausgehend, spürt Handke seinen ureigenen Erfahrungen nach. Erzählt vom Örtchen des Großvaters in Kärnten, auf dem das Klopapier aus slowenischen Zeitungen gerissen war. Wie er sich später als Junge am ersten Tag im Internat in die Hosen machte und auf eine Toilette flüchtete. Oder noch ein paar Jahre darauf „in einer Art Halbkreis um die Klosettmuschel geringelt“ die Nacht auf dem Bahnhof von Spittal an der Drau verbracht hat, nachdem er mit Seesack von daheim losmarschiert war.
Weit über seine Schulzeit hinaus sei ihm das Klo zu einem „Asylort“ geworden. Der Gang auf den Stillen Ort zu einem „antisozialen Akt“. Ein „Ausdruck, wenn nicht von Gesellschaftsflucht, so doch von Gesellschaftswiderwillen, von Geselligkeitsüberdruss“. Noch heute entziehe er sich so Menschen. „Einsilbig geworden durch die Worte wie Wörter der andern, von ihnen zum Schweigen gebracht – angeödet – verödet.“ Um allein in der Stille mit neuen Wörtern aufzuwachen. Gerade um die Übergänge vom „Geschlagensein mit Stummheit zur Wiederkehr der Sprache“ gehe es. Erst später sei ihm das Lesen zu einem stillen Ort geworden.
Jeder, der mit Menschen zu tun hat, weiß, was gemeint ist. Die Leichtigkeit aber, mit der Peter Handke den eigenen Beschädigungen nachspürt, ist unerreicht. Schon in seinen letzten Texten ließ der Mann, der von sich selbst immer behauptet, er könne nicht lustig sein, eine ganz eigene Art der Ironie aufblitzen. Und dennoch geht es bei diesem Autor immer um alles. Den Ernst des Lebens. Um ganz existenzielle Erfahrungen. Und natürlich ums Schreiben.
Die bald 70 Lenze merkt man seinen Texten nicht an. Seine Sprache ist modern, schön, direkt. Wer sie einmal laut vorgelesen hat, weiß, wie sehr sie klingt. Es ist immer wieder ein Genuss, Handke zu lesen. Selbst, wenn der von seinen Erfahrungen auf der Toilette schreibt. (Von Welf Grombacher)
Peter Handke: Versuch über den stillen Ort. Suhrkamp.
Eine schöne erzählerische Orientierung jenseits alltäglicher GeschäfteVon Günter Ott
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Mit BB hat Peter Handke nicht viel am Hut. Dennoch überrascht ein Blick in Brechts Gedichtsammlung „Hauspostille“, genauer in „Orges Gesang“. Dort steht: „Orge sagte mir: Der liebste Ort/Auf Erden war ihm immer der Abort“. Und weiter: „Dies sei ein Ort, wo man zufrieden ist/Daß drüber Sterne sind und drunter Mist...“
Handke begleitet – zu Beginn seines „Versuchs über den Stillen Ort“ – den jugendlichen Helden eines Romans von A.J.Cronin auf den Abort. Dann heißt es: „Da dort blicken die Sterne herab.“ Die Parallele zwischen BB und PH soll hier nicht strapaziert werden, aber zumindest von einem schönen Zufall darf man ausgehen.
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Wir machen jenen Ort, den Handke in einladender Gelassenheit umkreist, gern klein: zum „stillen Örtchen“. Ganz anders Handke. Indem er das Adjektiv „still“ groß schreibt, löst er den Ort aus allen alltäglichen, anrüchigen Assoziationen. Noch eines: Er setzt ihn in den Plural und entdeckt allenthalben „stille Orte“ – etwa, im Blick auf seine Kindheits- und Jugendjahre, auch den Beichtstuhl und das Krankenzimmer. Und was ist Handkes Schreibort in Chaville (bei Paris) und der angrenzende Wald zu Meudon anderes? (Dort gibt es keine Löwen, weswegen dem Einsiedler eines Tages ein Igel unter den Schreibtisch kriecht!)
Vom Plumpsklo bis in den Tempelbezirk
Handke, ein bekennender „Orts-Schriftsteller“, knüpft an seine Folge der Jahre 1989 bis 1991 an, die allesamt wohlgeratenen Versuche über die Jukebox, den geglückten Tag und die Müdigkeit.
Zunächst fällt auf, wie oft sich der ortskundige Erzähler ins Wort fällt: „Wenn ich mich nicht irre“; „jetzt aber fällt mir auf“; „oder täusche ich mich“; „anders als oben behauptet...“. Das hemmt den Fluss weniger, als dass Handke seine Erinnerung befragt. Er nimmt die Spur vergangener Erlebnisse im Schreiben auf (= „Wieder-Holung“), und er formt sie. Erinnerung ist immer auch Erfindung. Dazu Handke in seinen Notaten „Gestern unterwegs“: „Die Redensart: ,Das ist so lange her, daß es schon nicht mehr wahr ist’ – von einigem kann ich sagen, es sei schon so lange her, daß es inzwischen wahr geworden ist.“
Der Schriftsteller sucht die Stillen Orte seiner jungen Jahre auf, das Plumpsklo mit dem sauber geschnittenen Packen Zeitungen (als Klopapier); die Flucht aufs Klo im Internat, da der Neuankömmling am Esstisch das Wasser nicht mehr halten kann (Handke findet das schöne Wort „klammnaß“); die Nacht auf der Bahnhofstoilette; die Klo-Anlage in der Uni, wo der Icherzähler seinen Doppelgänger trifft; schließlich den Stillen Ort im japanischen Tempelbezirk.
So kommt der Leser um die Welt, fällt vom Dunkel ins Helle, vom Ernst in die Heiterkeit, von der Klaustrophobie in die Himmelsweite, geführt auf wunderbar leichte, ja lichte Art.
Autobiografische Schilderungen, Anschauungen, Selbsterforschungen, allesamt jenseits des „Üblichen und Gewohnten“; Orte der „Aus- und Alleinzeit“, erzählerisch illuminierte Schwellenorte (das sind eh Handkes Favoriten), an denen sich Innen und Außen, Ruhe und Rauschen, Ich und Wir tauschen – vor allem Stummheit und Wiederkehr der Sprache.
Handke, der Wesentliches aus seinem Leben und Schreiben in die Erzählung einfädelt (den Freund Hermann Lenz, Grundbücher wie „Hornissen“ und „Wiederholung“), knüpft eine Kette, die am Ende im Schriftsteller selbst kulminiert, im „Anschauen, Betrachten, und zu guter Letzt Sinnieren, Phantasieren und Imaginieren“. Das alles umschreibt den Energie- und Umkehr-Ort, die „Sprach- und Wörterquelle“. So schafft Handke am Ende einen doppelten stillen Ort – sein Buch und dessen Lektüre.
»Peter Handke: Versuch über den Stillen Ort, Suhr- kamp, 109 Seiten, 17,95 Euro
Um es vorwegzunehmen: Der Versuch ist gelungen. Handke lässt seinen Leser nicht nur schmunzeln, er lässt ihn über sein Verhältnis zur Welt nachdenken. Und das ist schon ein Kunststückchen.
Der Dichter nähert sich dem Gegenstand vom Wort her: Der "Stille Ort" - er schreibt ihn wie einen Eigennamen groß - impliziert ja eine Stätte des Schweigens, eine Rückzugsmöglichkeit. Geräusche mag es hier zwar auch geben, aber sie "tun nichts zur Sache. Geschweige denn tun es Gerüche". Handke verweigert sich jedem Pennälerhumor, der bei einem solchen Thema heute fast zwangsläufig erwartet wird.
Die Toilette ist ein Ort, an dem man sich vor der Welt verschließt. Es gibt viele Menschen, die die Toilettentür auch dann gewohnheitsmäßig verriegeln, wenn sie allein in der Wohnung sind und eine Störung folglich nicht zu befürchten hätten. Klo kommt von Klosett, was "abgeschlossener Raum" bedeutet, und ist mit der "Klause" verwandt, welche der Duden definiert als "Behausung eines Einsiedlers", "Klosterzelle", "Ort des Ungestörtseins" oder auch "Bergschlucht".
Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass gerade der oftmals heftig angefeindete Handke dem Stillen Ort große Sympathie entgegenbringt. Der kleine Raum bietet jedem Weltflüchtling willkommenes Asyl - "Ich muss mal kurz wohin", sagt man ja und ist dann erst mal verschwunden. Sicher, diese Form des Ausreißens ist zeitlich eng begrenzt, aber dafür ist sie nahezu jederzeit möglich und wird fast immer akzeptiert.
Ist der Stille Ort ausnahmsweise einmal nicht zugänglich, wird seine überragende Bedeutung sofort offensichtlich. Alles andere tritt dann in den Hintergrund. Handke selbst erinnert sich, wie er als Kind an seinem ersten Tag im Internat nicht nach der Toilette zu fragen wagte, obschon er ihrer dringend bedurfte.
"So standen wir Neulinge, Wildwüchslinge aus den entferntesten Landwinkeln, und standen, und beteten nach, und der kalte Abendregen klatschte jenseits der verschlossenen Refektoriumstüren heftiger und heftiger auf die Kieswege draußen im Schlosshof, wo, oder täusche ich mich?, dazu noch der Schlossspringbrunnen dazwischenplätschert." Was passiert wohl als nächstes? Natürlich, alsbald flutet ein Rinnsal über den Steinfußboden, "klammnaß wie an den Beinen".
Durchaus nachvollziehbar, dass der Autor seit jeher immer ein Gefühl der Erleichterung, ja der Geborgenheit und Aufgehobenheit verspürt hat, wenn er die Tür des privatesten aller Räume hinter sich absperren konnte. Nach der Schulzeit hat er auf einer Wanderung auch mal eine ganze Nacht im Bahnhofsklo zugebracht, "in einer Art Halbkreis um die Klosettmuschel geringelt". Zwar teilte er sich die Schlafstatt mit Weberknechten an den Kabinenwänden, zwar fiel sein Blick direkt auf das "Schmieröl, oder was es war, rund um die Schrauben, mit denen der Kachelsockel im Boden befestigt war", doch "um nichts in der Welt" hätte er tauschen mögen. Auch der Abort kann Sehnsuchtsort sein.
(Peter Handke: Versuch über den Stillen Ort, Suhrkamp Verlag, 109 Seiten, 17,95 Euro, ISBN-13 978-3518423172)
Eines man spürt man von Anfang an, mit jeder Zeile: Handke breitet seine Gedanken in einer wunderbar melodiösen, harmonischen, anmutigen Sprache aus. Und er zerlegt dabei viele Details in ihre Elemente und nimmt dann in den allermeisten Fällen das schönste Teilchen davon und betrachtet es genauer. Lässt die weniger gut beschreibbaren Aspekte weg.
Das kündigt sich ja bereits im Titel an: “Stiller Ort” ist eben weit sanfter, sauberer, freundlicher, als es “Toilette” oder gar “Klosett” jemals sein könnten.
Die oft mehrfach ineinander verwobenen Texte erfordern dabei die volle Aufmerksamkeit, will man den Gedanken, der vielleicht auf der vorherigen Seite begonnen hat sich auszubreiten, bis zu seinem Ende mitverfolgen. Welches vielleicht erst auf der nächsten Seite, zum Abschluss eines einziges Gedanken-Satzes, kommen wird.....
Handkes "stille Orte" stinken nicht (an Gestank hat er "keine Erinnerung"), und sie haben auch nicht die ihnen sonst üblicherweise zugeschriebene Funktion. Sie sind "Zuflucht, Asyl, Verstecke, Rückzugsgebiete, Abschirmungen, Einsiedeleien", ein "Ab-Ort" und noch viel mehr. Bei seiner ersten Reise übernachtet er, als ihm das Geld für die Jugendherberge ausgeht, am Bahnhofsklo "in einer Art Halbkreis um die Klosettmuschel geringelt". Als Student pflegt er seine Haare in Waschmuscheln der Uni-Toiletteanlagen zu waschen.
Das klingt zwar alles ein wenig schräg, der bekannte hohe Erzählton des Dichters adelt aber gleichsam den sonst tabuisierten Ort.
Peter Handke brilliert und amüsiert mit seinem "Versuch über den Stillen Ort"
Berlin/Wien - Selbst bei Suhrkamp hat man nicht mehr geglaubt, dass den binnen zweier Jahre entstandenenVersuchen ein weiterer folgen könnte: Gleich mehrfach wurden jene über die Müdigkeit (1989), die Jukebox (1990) und den geglückten Tag (1991) unter dem Titel Die drei Versuche in einem Band veröffentlicht.
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Aber nun, zwei Jahrzehnte später, hat Peter Handke, der Schelm, die Trilogie zur Tetralogie erweitert: mit einem amüsanten, kurzweiligen Versuch über den Stillen Ort. Gemeint ist allerdings nicht so sehr der Ort der Stille, über den der Autor immer wieder sinniert, sondern das stille Örtchen.
Handke, ein gewissenhafter Rechercheur, beschäftigte sich als Vorbereitung eingehend mit der Kulturgeschichte der Toilette. Sein Versuch ist aber eher eine Art Autobiografie: Der Autor erzählt sein Leben recht chronologisch anhand prägender Toilettenerlebnisse nach. Und weil wohl jeder Erwachsene ähnliche Erfahrungen machen musste oder durfte, fällt es fast leicht, sich mit dem Schriftsteller, der am 6. Dezember 70 Jahre wird, zu identifizieren.
Die Geschichte beginnt mit dem Plumpsklo seines Großvaters Gregor Siutz in Griffen: Der senkrechte Schacht "vom Sitzloch hinab Richtung Misthaufen" erschien dem Kind ungewöhnlich lang. Das Spezielle jenes Ortes aber war das Licht, das durch das Holz des Verschlags schimmerte. Von "Gestank" weiß Handke nichts zu berichten, ihm fällt aber eine örtliche Anekdote ein: dass ein Kind dem Pfarrer im Auftrag der Eltern Birnen brachte - "Birnen vom Scheißhausbaum", wie es sagte.
Bekanntlich besuchte Handke ab 1954 auf eigenen Wunsch das Marianum in Maria Saal; am ersten Tag wagte er es nicht, nach der Toilette zu fragen: Er machte sich im Speisesaal, nachdem der Präfekt den Segen gesprochen hatte, in die Hose. Starr saß er bei Tisch. Und dann flüchtete er "zu der entlegensten und verstecktesten Toilette" im Internat: "Erstmals war ich es, war es meine Person, um die es ging an dem Stillen Ort." Die Toilette begann "Fluchtraum" und "Asylort" zu werden.
Mit Leichtigkeit erzählt Handke, wie er, erstmals allein unterwegs, in Spittal eine Nacht in der Bahnhofstoilette verbrachte: Obwohl er die Eintrittsgebühr (einen Schilling) entrichtet hatte, empfand er sich als "Illegaler", der kein Recht hatte, hier zu liegen.
1961 ging Handke nach Graz, um Jus zu studieren. Als Untermieter fand er die Tür zum Badezimmer oft verschlossen: In der Not wusch er sich mitunter die Haare auf der Fakultätstoilette. Eines Doppelgängers ansichtig, bemerkte er, dass er gar nicht so "einzelgängerisch und außenseiterisch" war, wie er geglaubt hatte. Und Mitte der 1960er-Jahre wurde er zum Popstar der Literatur, Handke begann zu reisen: Wäre der Versuch über den Stillen Ort ein Film, dann wäre die Sequenz jener Jahre rhythmisiert "von Blicken durch noch und noch Zugtoilettenlöcher hinab auf noch und noch Schienenstränge".
Die Idee vom Stillen Ort, der weit mehr ist als nur Zuflucht und Rückzugsgebiet ("Endlich allein!"), kam Handke Anfang der 1980er-Jahre in Japan - in der Tempelgartentoilette von Nara. Hier nun stößt man wieder auf das Programm, das Handke in der Langsamen Heimkehr (1979) und in Die Lehre der Sainte-Victoire (1980) entwickelt hat. Er stellt fest, dass er am Klo zum "Raumvermesser" wird, wie sein damaliges Alter Ego, Valentin Sorger, einer war. Und im Dämmerschimmer jener Toilette von Nara verwandelte er sich "flugs in jemand Sorglosen". Ihm kam der faustische Wunsch nach Dauer. (Thomas Trenkler, DER STANDARD, 9.10.2012)
Peter Handke: Versuch über den Stillen Ort. 18,46 Euro / 110 Seiten. Suhrkamp, Berlin 2012
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Aborte des Lebens
12.10.2012 | 18:36 | Von Klaus Kastberger (Die Presse)
In seinem „Versuch über den Stillen Ort“ beschäftigt sich Peter Handke
mit seinen ganz besonderen Rückzugsräumen: den Klosetts.
Und nähert sich dabei zugleich dem Schreiben selbst. )
Um
gleich die eine Frage zu klären: Ja, bei dem Stillen Ort, um den es in
diesem Buch geht, handelt es sich um das Klosett. Der Versuch, den Peter
Handke dazu unternimmt, fokussiert auf jenen groß geschriebenen Stillen
Ort sogar hauptsächlich, auch wenn uns der Text – da und dort – auch
noch andere stille Orte bietet. An einer Stelle fällt für den Stillen
Ort der derbe Begriff. Warum, so fragt sich der Schreibende, fällt ihm
gerade jetzt, da er vom Abort im Haus des Großvaters (einem gezimmerten
Brett mit Blick auf den Misthaufen) spricht, eine Anekdote ein, die
seine Mutter erzählt hat. Ihr zufolge soll einstmals ein Kind dem
Dorfgeistlichen einen Korb wunderschön geformter Früchte übergeben haben
mit der Bemerkung: „Herr Pfarrer, ich soll Sie grüßen von meinen Eltern
mit diesen Birnen vom Scheißhausbaum!“
Der
Ironie entschlägt sich der Autor ganz. Nur einmal versucht er es kurz
damit, kommt aber rasch zum Schluss, dass die Ironie, zumindest im
Schriftlichen, nicht seine Sache sei. Den Einbettungen, die das Thema
hat, und den Gefahren, die es bietet, entgeht Handke durch eine
besondere Ernsthaftigkeit des Schreibens. Am Stillen Ort steht quasi
seine Reputation als Schriftsteller auf dem Spiel. Das ist kein geringer
Einsatz und verleiht dem Versuch von vornherein Stärke und Kraft.
Gerade
auch im Sinn der Abweichung vom Gängigen setzt der „Versuch über den
Stillen Ort“ die drei früheren Versuche des Autors fort, jenen über die
„Müdigkeit“, den über die „Jukebox“ und den über den „geglückten Tag“.
Diese Texte sind 1989/90 entstanden, den großen europäischen Umwälzungen
jener Jahre setzten sie eine besondere Hinwendung zum Peripherien,
Entlegenen und Unbeachtet-Gebliebenen entgegen. Frappant ist die
Begeisterung für Dinge, die gerade im Entschwinden begriffen oder schon
lange verschwunden sind.
Der
„Versuch über den Stillen Ort“ bietet zunächst eine Bestandsaufnahme
jener Stillen Orte, die im Leben des Autor von Bedeutung waren. Aber
schon dabei kommt es weniger auf eine Beschreibung der konkreten
Örtlichkeiten an, sondern auf eine Darlegung der Ideen, die sich bis
heute mit ihnen verbinden. Was Handke in seinem Buch zunächst erzählt,
ist tatsächlich die Geschichte seiner Klosetts. An die frühkindlichen
Phasen in Berlin kann er sich nicht mehr erinnern, in Griffen dann lag
auf dem Klo die slowenische Zeitung des Großvaters. Ein wichtiger
Zufluchtsort war die Toilette im Internat. Höchst eindrücklich und ohne
jegliche Scham schildert der Autor seinen ersten Tag an jenem Ort. Beim
langen Sitzen im Saal habe er sich angemacht, bei den Mitschülern war er
von da an unten durch, das Klo dann ein Ort der Befreiung.
In
Handkes Werk bereits eingegangen (nämlich in die Bücher „Die Hornissen“
und „Die Wiederholung“) ist die Bahnhofstoilette in Spittal an der
Drau. Dort hat der Heranwachsende einst mit seinem Seesack eine ganze
Nacht verbracht, um gleich am nächsten Tag, nach Abbruch der geplanten
großen Fahrt, ins Elternhaus zurückzukehren. Anschließend dann die Zeit
in Graz, widergespiegelt in einer Toilette an der Uni, in der der Autor
seine Haare zu waschen pflegte und dabei einmal mit einem seiner
Professoren eine erzählenswerte Begegnung hatte. Mit der Engführung von
Lebensgeschichte und Abort ist an diesem Punkt allerdings Schluss. Nicht
eine Enzyklopädie der Stillen Orte, sondern eine Erzählung darüber legt
Handke vor, wobei er auch die Methoden und Hilfsmittel beschreibt,
deren er sich in der Entstehung des Textes bedient hat. Jahrzehntelang
schon habe ihn das Projekt verfolgt, von zahlreichen Toiletten überall
auf der Welt habe er Fotos gemacht, kulturgeschichtliche Abhandlungen
gelesen und Freunde und Bekannte befragt.
Dies
alles half ihm beim Schreiben nicht weiter. Präzise wie noch in keinem
seiner Versuche beschreibt Handke die zugrunde liegende literarische
Form. Seit dem gut 20 Jahre zurückliegenden Besuch einer
Tempelgartentoilette im japanischen Nara, die in sich nichts als reine
Geometrie war, habe ihn der Stille Ort „über das Ding und den Platz
hinaus, als Idee“ verfolgt. Seitdem sei der Plan, darüber zu schreiben,
für ihn zu einer Art „Vorwurf“ oder, wie Handke sagt, „ins
Altgriechische übersetzt“, zu einer Art „Vorgebirge“ geworden, das im
Schreiben zu umkurven sei, wobei das gedachte Schiff in diesem
Zusammenhang die Sprache selbst verkörpert als die eines ständig
umkreisenden oder umreißenden Erzählens.
Die
Definition, die Handke hier gibt und die seinen Versuch in allen
Details bestimmt, entspricht ziemlich exakt jener Antwort, die Theodor
W. Adorno auf die Frage gegeben hat, wie denn ein Denken und Darstellen
auszusehen hätte, das den Gegenstand seiner Begierde sanft umkreist und
mit ihm kokettiert, anstatt ihn methodisch und begrifflich zu
exekutieren oder etwa auch vor ihm in Anbetung zu erstarren. Der Essay
in seiner abendländischen Tradition sei jene Form, die genau das vermag,
und einen glänzenden Essay genau in diesem Sinn hat Handke geschrieben.
Der Stille Ort in ihm ist letztlich ein erzählerisch konstruierter Ort,
denn nur in der Art und Weise, in der Handke von ihm erzählt, gewinnt
er Form und Kontur.
Am
Ende des Versuchs wird klar, um was für einen Ort es sich handelt. Es
ist ein Ort der Abgeschiedenheit und des Rückzugs, den ein jeder
jederzeit aufzusuchen vermag mit dem einfachen Satz: „Ich muss schnell
mal raus!“ Nicht um die Herstellung von Weltabgeschiedenheit geht es
dabei, sondern darum, dass vom Stillen Ort Wege auch wieder in die Welt
zurückführen. Eingepasst in eine Welt neuer Medien, die heute überallhin
reichen, ist der Stille Ort gerade auch ein Ort der klassischen Medien
von Handschrift und Buch.
Geschrieben
an einem speziell abgeschiedenen Ort in Frankreich (der kleinen
Gemeinde Marquemont im Vexin) zu einer speziellen Zeit (den vermeintlich
dunkelsten Wochen des Jahres im Dezember) und in einer speziellen Form
(Bleistift), wird für den Schreibenden das Schreiben selbst zu jenem
Stillen Ort, an dem er sich versucht. Über den realen Toiletten seines
Lebens errichtet er so einen imaginären Raum, der in sich eine
unerbittliche Verteidigung des Lesens und Schreibens ist. Niemand muss
mit diesem wunderbaren Buch aufs Häusl gehen, um das zu verstehen. ■
Man macht viel durch
Jedenfalls präsent in Frankfurt ist Peter Handke mit seinem neuen Buch, und er wird damit wohl alle überraschen. Nach drei "Versuchen" ("Über die Müdigkeit"/1989, "Über die Jukebox"/1990, "Über den geglückten Tag"/1991) nun also ein "Versuch über den Stillen Ort". Und es ist, was der Titel verspricht: eine Gedankensammlung über Toilettenerlebnisse. Das Plumpsklo des Großvaters Gregor mit dem "Sitzloch hinab Richtung Misthaufen", geschenkte "Birnen vom Scheißhausbaum". Eine volle Hose am ersten Tag im Maria Saaler Internat samt schamvollem Asyl am "Ab-Ort" . . . Ja, ein Mensch macht im übertragenen wie im eigentlichen Sinn viel durch. Die Berichte über Örtchen der Hochnotpeinlichkeit werden durch Handkes Erinnerungsschärfe, seinen hohen Erzählton und auch seine Ironie zur unpeinlichen philosophischen Klolektüre.
Wohin Peter Handke vor Lob und Hudel zu seinem bevorstehenden 70er am 6. Dezember flüchten wird, wissen wir nicht. Das Grazer Literaturhaus etwa böte guten WC-Schutz. Dort hat man jedenfalls vor, den Dichter ab 30. November mit einer Fotoausstellung von Lilian Birnbaum über sein Sandsteinhaus in Chaville südwestlich von Paris zu ehren sowie mit einer Lesung, in der Martin Ku?ej und dessen Frau Sophie von Kessel das Gewicht von Handkes Welt messen werden.
Peter Handke. Versuch über den Stillen Ort, Suhrkamp, 109 Seiten, 17,95 Euro.
Bei Peter Handke geht es natürlich immer um alles – die Existenz und das Schreiben. Aber Ironie kann er auch.
Düsseldorf.An Peter Handke kommt dieses Jahr keiner vorbei. Nicht mal in Düsseldorf. Mag man da auch seit der peinlichen Posse um den Heinrich-Heine-Preis nicht mehr gern an ihn erinnert werden – 2006 sollte ihm die Auszeichnung erst zu–, dann wieder abgesprochen werden, weil er eine Rede am Grab von Serbenführer Slobodan Milosevic gehalten hatte. Am Ende verzichtete Handke auf den Preis.
Am 6. Dezember steht sein 70. Geburtstag an. Gleich drei Bücher erscheinen im Vorfeld. Bevor Anfang November sein „Notizbuch Nr. 4“ und „Der Briefwechsel“ mit Siegfried Unseld herauskommt, hat er gerade „Versuch über den Stillen Ort“ veröffentlicht.
Der Schriftsteller legt sich in der Bahn regelmäßig mit der Polizei an
Seit 1990 lebt Handke im französischen Chaville. Ein stiller Ort, wie man meinen möchte. Ab und an fährt er mit der Vorortbahn ins nahe Paris und bekommt dabei, wie er im Interview unlängst erzählte, schon mal Ärger mit der Polizei, weil er seine Füße aufs Polster (und auf eine Zeitung) legt. Zweimal habe er deswegen Strafe zahlen müssen. Als ob die nichts Besseres zu tun hätten. „Ich geh da sofort auf hundert hinauf!“ Ein Beamter zog sogar die Pistole. „Da ist viel Frustration bei diesen jungen Typen.“
So kennen wir Handke. So lieben wir Handke. Auch im aktuellen Buch, mit dem er an die „Versuchs“-Reihe der Jahre 1989 bis 1991 („Versuch über die Müdigkeit“, „Versuch über die Jukebox“, „Versuch über den geglückten Tag“) anknüpft, gibt sich der Österreicher provokant. Ist mit dem stillen Ort doch nicht Chaville gemeint, sondern der Stille Ort – ja, wirklich die Toilette!
„Nicht wenige Bücher habe ich gelesen, viele Photos habe ich betrachtet als Vorarbeit für diesen Versuch über den Stillen Ort. Aber kaum etwas davon hat in diesem seinen Platz gefunden.“ Es geht wie so oft bei Handke monomanisch um ihn selbst. Weil „Literatur nur dann verbindlich wird“, wie er einmal sagte, „wenn sie in die äußerste Tiefe des ICH hineingeht“.
Das Örtchen bot immer wieder Zuflucht für ganz verschiedene Nöte
Peter Handke, geb. 1942 im österreichischen Griffen, schaffte mit dem Stück „Publikumsbeschimpfungen“ 1966 den Durchbruch. Seitdem hat er zahlreiche Preise, 1973 auch den Büchner-Preis, gewonnen. Zu den bekanntesten Werken zählen „Die Angst des Tormanns vorm Elfmeter“ (1970) und „Wunschloses Unglück“ (1972). Zuletzt erschien im Frühjahr das Theaterstück „Die schönen Tage von Aranjuez“.
Er erzählt vom Örtchen des Großvaters in Kärnten, auf dem das Klopapier aus slowenischen Zeitungen gerissen war. Wie er sich als Junge am ersten Tag im Internat in die Hosen machte und auf eine abgelegene Toilette flüchtete. Oder Jahre später „in einer Art Halbkreis um die Klosettmuschel geringelt“ die Nacht auf dem Bahnhof von Spittal an der Drau verbracht hat, nachdem er mit Seesack von daheim losmarschiert war.
Weit über seine Schulzeit hinaus sei ihm das Klo zu einem „Asylort“ geworden. Der Gang auf den Stillen Ort zu einem „antisozialen Akt“. Ein „Ausdruck, wenn nicht von Gesellschaftsflucht, so doch von Gesellschaftswiderwillen, von Geselligkeitsüberdruss“.
Den eigenen Schädigungen spürt er mit unerreichter Leichtigkeit nach
Noch heute entziehe er sich so den Menschen. „Einsilbig geworden durch die Worte wie Wörter der andern, von ihnen zum Schweigen gebracht – angeödet – verödet.“ Später sei ihm das Lesen zum stillen Ort geworden.
Jeder, der mit Menschen zu tun hat, weiß, was gemeint ist. Die Leichtigkeit aber, mit der Peter Handke den eigenen Beschädigungen nachspürt, ist unerreicht. Schon in seinen jüngsten Texten ließ der Mann, der von sich selbst immer behauptet, er könne nicht lustig sein, eine eigene Art der Ironie aufblitzen. Und dennoch geht es bei diesem Autor immer um alles. Den Ernst des Lebens. Existenzielle Erfahrungen. Und natürlich ums Schreiben. Die bald 70 Lenze merkt man seinen Texten nicht an. Seine Sprache ist modern, schön, direkt. Wer sie mal laut vorliest, weiß, wie sehr sie klingt. Es ist immer wieder ein Genuss, Handke zu lesen. Sogar bei diesen sehr privaten Erfahrungen.
MICHAEL ROLOFF
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exMember Seattle Psychoanalytic Institute and Society
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