THIS IS AN ASSEMBLAGE OF REVIEWS OF immer noch storm
still storm WHICH IS UNDER DISCUSSION AT:
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The reviews assembled here cover a variety of performances, starting with the premiere
at the 2011 Salzburg Festival, to Wiesbaden, to the Muehlheim Festival and onward
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Von Hans-Dieter Schütt
07.05.2015
Was erzählt wird, stirbt nicht
»Immer noch Sturm« von Peter Handke an den Kammerspielen des Deutschen Theaters Berlin
Fast flüsternd besänftigt: Markwart Müller-Elmau als Erzähler-Ich; hinten Judith Hofmann als Mutter
Foto: Arno Declair
Er steht da, der Ich-Erzähler, er schaut, sinniert, weissagt, predigt,
schwört ein. Peter Handke schaut, sinniert, weissagt, predigt, schwört
ein. Dichtung ist die Einrednerin, zu uns hergeschickt von den Märchen,
sie soll mitten unter uns versuchen, die uralte Lüge durchzubringen: Die
Dinge könnten, trotz allem, gut ausgehen. Sie gehen nicht gut aus. Wir
nennen’s Geschichte. Aber, sagt die Poesie: Wir halten durch, wir halten
aus. Wir halten einander fest? Wir halten inne, damit wäre schon viel
gewonnen. Innehalten, das ist das große, schöne, einsame, gute,
bittende, betende Hauptwort.
»Immer noch Sturm« von Peter Handke, von Frank Abt in den
DT-Kammerspielen inszeniert. Handke lässt dem Erzähler, hier einem alten
Mann, die toten Vorfahren erscheinen, und mit ihnen scheint sie auf:
die Geschichte der Kärntner Slowenen, ihr Existenzkampf im 20.
Jahrhundert, ihr ewiger leidvoller Krieg mit den Deutschen, ihr
Widerstand, ihre Tragödie bis heute. Slowenen vom Jaunfeld, die in
Hitlers Krieg mussten, in diesem Krieg Österreichs Résistance waren und
mit dem Frieden doch wieder in die Verlorenheit getrieben wurden; die
Sprache geschmäht, der soziale Stand entwürdigt.
Da sind die hierarchischen Plänkeleien in der Familie, noch einmal die
Feldpostbriefe, die Todesnachrichten, noch einmal das Herausschreien der
Liebe zum Bauernhof, des Hasses auf den Bauernhof, das Lob des Heims,
der Ekel vor der Enge, das Schwelgen im bescheidenen Slowenischen, der
Traum vom Reichwerden im Westen. Die Sitzbankidylle. Die
Apfelsortenfülle. Die Alten und die alte Sprache, die Jungen und ein
junger Geist - Sippe ist Pakt und Problem, ist rettender Klump und
rettungsloser Konflikt, ist Fest und Fluchtimpuls.
Trauer und Tat. Die Trauer kreist um gefährdete, verlorene Ursprünge,
und was wäre die Tat? Mit den Verlierern fühlen; durchdrungen sein vom
Adel des Geringen; sich durch Schüchternheit und Ungelenkbleiben
herzhaft, ja: blamieren!, wenn die geschichtlich allzu Geschmeidigen
aufspielen, nämlich sich selber. In diesem Stück ist eine jede Gestalt
ganz Kontur, aber niemand eigenmächtig; es gibt für niemanden Ruhe vor
dauernd drängenden Fragen, aber just in den Fragen kommt doch ein jeder
zu einem gar nicht so leicht zu beschreibenden Frieden: Was erzählt
wird, stirbt nicht. Und möge sich im faden Gegenwartsschwelgen kein
Mensch vor den weiter wühlenden Vergangenheiten geschützt wähnen: Immer
noch Sturm! Immer noch Sturm!
Markwart Müller-Elmau als verständnisinniger, gesetzter, fast flüsternd
besänftigter Erzähler. Er begegnet seiner leidenden Mutter, verachtet
von den Ihren, weil sie sich mit einem »Deitschen« einließ (Handke als
der zwischen den Welten und Staaten Geborene). Da sind auch deren
Brüder, die im Krieg bleiben. Einer der Brüder und eine Schwester:
Partisanen; Tapfere, mit einem Mut für Menschlichkeit, der barbarisch
hart auch in den eigenen Reihen wütet - das jakobinische Genossen-Gen.
Die Großmutter von Johanna Matz: Mag das Greise immer gebrechlicher
werden - es holt doch die Kindlichkeit wieder ein. Michael Gerbers
Großvater: freier Ausschwung für den Polter-Pegel. Ole Lagenpusch,
Thorsten Hierse, Marcel Köhler: die Brüder - Balancen zwischen
jungsfroher Kraft, kriegsgenährten Zynismen, geschwisterlicher Treusorge
und übermütigen Konkurrenzspielen. Simone von Zglinicki als Partisanin,
auch sie endet im Tod: das Klagen, das Weh tief verschlossen, ganz nach
innen genommen - wo es umso lauter schreit.
Das kleine runde Podest, das sich dreht wie eine Spieluhr (Bühne:
Steffi Wurster): Holzwände trennen enge Zimmerchen, da sitzen sie alle
und hocken und reden und schweigen, die Spieler selbst nehmen im Laufe
der zwei Stunden die Wände aus den Verankerungen, die Spielfläche nun
leer, als gehe man den Weg vom Konkreten ins Allgemeine; die kleine Welt
trotzdem ausladend: ein Palast des unverlierbaren Gedächtnisses. Poesie
ist hier Pflicht zur Zuversicht: dass dieser Erinnerungs- und
Bewusstbleibens-Raum jeden Sturm übersteht. Vor Jahren inszenierte
Dimiter Gotscheff das Stück für Salzburgs Festspiele und Hamburgs
Thalia. Unvergesslich groß. Handkes slowenische Ader, Gotscheffs
balkanischer Herzgrund: Es war, als träfe Sophokles’ streng chorische
Archaik auf Tschechows wund versprengte Seelen. Handkes Sprache
schwingt, singt, das Wort weitet sich wie ein frei atmender Brustkorb,
auf diesem Atem jagt Zorn, tanzt Zartheit. Die Verkleinerung der
szenischen Dimensionen, hier, vor dem Publikum auf der Hinterbühne der
Kammerspiele, nimmt der Sprache die wuchtige und wehe poetische Kraft,
aber diese Verhäuslichung des Ganzen schafft doch andererseits eine
berührende Nähe. Gotscheff sah durchs Teleskop; die Herzen ein Wummern
im Universum. Frank Abt dreht das Fernglas um, wir schauen in den
kleinen Kreis familiärer Zuwendungen und Zwiste. Aber doch immer noch:
Kosmos.
Nächste Vorstellungen: 8., 26. Mai
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Vorfahrt der Vorfahren
Andreas Nathusius macht aus Handkes zwiespältiger Selbsterkundung „Immer noch Sturm“ ein packendes Spiel.
Der Erzähler (Matthias Hermann), der bei Handke nur „Ich“ heißt, inmitten seiner Ahnen, die er in der Erinnerung beschwört.
Lübeck.
Die Inszenierung von Peter Handkes Theatertext „Immer noch Sturm“ in
den Lübecker Kammerspielen erfährt eine denkwürdige Aktualität: Von
einer slawischen Volksgruppe ist da die Rede, die in dem Land, dem sie
irgendwann zugeschlagen wurde, fremd bleibt und bedrängt wird, und die
sich schon wegen der Sprache dem Staat jenseits der Grenze verbunden
fühlt. Bewaffneter Widerstand ist eine der Konsequenzen.
Wir befinden uns hier natürlich nicht in
der Ukraine und auch nicht im Jahr 2014. Das Erzählte ist bereits
historisch, es führt in die „Knickerbocker-Zeit“ zurück. Handke hat aus
seiner Familiengeschichte — seine Vorfahren mütterlicherseits gehörten
der slowenischen Minderheit im österreichischen Kärnten an — eine
theatralische Suche nach Heimat und Erinnerung verfasst.
Da tritt ein „Ich“ vors Publikum, stellt
sich und dem Publikum eine Naturlandschaft vor, eine Heide mit einem
Apfelbaum und einer Bank, und in der Inszenierung von Andreas Nathusius
genügt tatsächlich eine spärlich beleuchtete, mit schütter Laub bedeckte
Schräge mit einem Stuhl am Rand, um einen Erinnerungsraum entstehen zu
lassen.
Matthias Hermann verkörpert das
Handke-Ich mit schlafwandlerischer Bedächtigkeit, erträumt sich eine
Ahnengalerie, die dann auch aus dem Dunst der Vergangenheit wie
Scherenschnitte hervortritt und auf Obstkisten Platz nimmt: Großeltern,
Mutter, Tanten und Onkel, eine Gesellschaft, die bäuerlich geprägt ist,
ärmlich gekleidet, ortsverwurzelt und doch vom Weltgeschehen gestreift:
Der Zweite Weltkrieg steht vor der Tür und mit ihm die Okkupanten —
Deutschländer, Schwaben, Preußen, Reichsdeutsche.
Die Vorfahren begrüßen den Abkömmling
eher gleichmütig („Ach der!“ — „Dobar dan!“), doch der, der sich mit
ihnen auf eine Zeitreise begibt, fühlt sich als Bastard gemieden — denn
sein Vater soll einer jener verhassten Deutschländer sein.
Alle aus der Sippe haben ihren Auftritt.
Benjamin, der jüngste der Geschwister, der sich vor Raum und Zeit und
Heimat ekelt, der aber schon im Nachbardorf vor Heimweh umkommt; die
Mutter des Ich- Erzählers, die sich wie ihr Bruder, ein
Apfelbaumzüchter, ans glücklich Jahr 1936 erinnert, als ihre Welt noch
in alter Ordnung war; die finster gestimmte Ursula, die andere
Erinnerungen hat — an Mühsal und ans Fluchen — und sich später wie ihr
Bruder, der sanfte Pomologe, den Partisanen anschließen wird.
Regisseur Nathusius hat Handkes Text zwar
um fast die Hälfte gekürzt (drei Stunden Spielzeit bleiben übrig), doch
folgt er dem Autor beim Ringen um Heimat, Herkunft, Gedenken. Eine
antimoderne Gemütslage wird deutlich, wenn die Randständigen ihr Los
beklagen die Begriffe Vaterland oder Muttersprache mit dem Adjektiv
„heilig“ versehen werden — Pathos mit Soße, trübe Verklärung des
Eignenen gegenüber dem Fremden.
Da scheint eine Obsession Peter Handkes
durch: Er stilisiert sich gerne zum gepeinigten Außenseiter und hegte
zuweilen Sympathien für Balkan-Nationalisten. Befremdend bei einem
weltläufigen Schriftsteller, der in Düsseldorf, Paris oder Salzburg
zuhause war und durch Verbindungen zu Diven wie Libgart Schwarz, Jeanne
Moreau oder Katja Flint auffiel.
Nathusius illustriert das enge Universum
Handkes umsichtig — mit einem Personal aus derb-fürsorglicher Großmutter
in sieben Röcken (Katrin Aebischer), einem knochigen, Apfelschnitze
verteilenden Großvater (Robert Brandt), einem in seiner Apfel-Liebe
versponnenen Gregor (Thomas Schreyer), einer verhärmten Ursula (Susanne
Höhne, warum sie anfangs ein Akkordeon mit sich schleppen muss, bleibt
rätselhaft), einem verwirrt in die Welt schauenden Benjamin (Julius
Robin Weigel), einer fürs Dorf zu koketten Mutter (Sara Wortmann) in
inzestuöser Nähe zum zweiten Bruder Valentin (Jan Byl).
Das intensive Spiel des Ensembles — keine
Figur lässt einen gleichgültig, sie zeigen alle auch garstige Seiten —
macht die Lübecker Version von „Immer noch Sturm“ zum beunruhigenden wie
auch sinnlichen Ereignis. Herausragend Matthias Hermann als Spielleiter
der Handkeschen Eingebungen. Wenn bei der Premiere nach der Pause
einige Plätze leer blieben, lag das sicherlich nicht an den Darstellern.
Das Einzige was den Schrifststeller Peter Handke mit Schiller verbinden dürfte, ist ein Zitat vom Anfang des Don Carlos, das Handke für sein Stück Die schönen Tage von Aranjuezverwendete. Aber nicht den 2012 am Wiener Akademietheater uraufgeführten "Sommerdialog", der ein Jahr später auf der Probebühne des Berliner Ensembles seine Deutsche Erstaufführung erlebte, hat sich der junge DT-Regisseur Frank Abt ausgesucht, sondern Immer noch Sturm, die mit fiktiven Elementen angereicherte Familiengeschichte des österreichischen Autors mit slowenischen Wurzeln.
Das Stück gastierte in der Hamburger Uraufführungsinszenierung von Dimiter Gotscheff im Juni 2012 bei den Autorentheatertagen im Großen Haus des Deutschen Theaters. Diesen großen Schatten wird die kleine, kammerspielartige Inszenierung von Frank Abt, die auch noch auf die Hinterbühne der DT-Kammerspiele verbannt wurde, leider den ganzen Abend über nicht los. Sie wirkt dann auch in Ästhetik und Darstellungsweise eher wie für die Probebühne des BE konzipiert. Und das ist sehr schade, bietet sich das Stück doch vor allem für eine expressive Ausweitung in den leeren Theaterraum an, was Gotscheff auf der großen Bühne damals auch bestens gelungen ist.
Immer noch Sturm am DT - Foto (c) Arno Declair
Frank Abt interpretiert Handkes Familiensaga aus dem Zweiten Weltkrieg aber wesentlich intimer. Peter Handke wurde 1943 als unehelicher Sohn einer Kärtner Slowenin und eines Wehrmachtsoldaten geboren. Seine Mutter hat den Vater lange in Deutschland gesucht und schließlich einen anderen Deutschen geheiratet. Davon hat Handke erst sehr spät erfahren, eine Tatsache, die ihn sein Leben lang beschäftigt hat. Als Ich-Erzähler tritt er nun in Immer noch Sturm - auch dies ein Klassiker-Zitat, diesmal aus Shakespeares König Lear - wie ein Beschwörer der Geister aus seiner Vergangenheit in Erscheinung und schlägt ein Kapitel der tragischen Geschichte der Kärtner Slowenen als unfreiwillige Protagonisten zwischen den damaligen Weltmächten wie ein Familienalbum vor uns auf.
Regisseur Abt macht daraus eine Art naturalistisches Leporello, das er zunächst in einem kurzen Prolog vom Ende her aufblättert, indem er den Erzähler (Markwart Müller-Elmau) detailliert vom Selbstmord seiner Mutter berichten lässt. Es ist eine Passage aus Handkes Erzählung Wunschloses Unglück, in der er bereits in den 1970er Jahren die Geschichte seiner Mutter verarbeitet hat. Für die Geisterbeschwörung Handkes hat Steffi Wurster eine schmal unterteilte Miniaturwohnkulisse aus spitzwinkligen Wände auf eine runde, drehbare Scheibe gestellt. Darin sitzen in zeitgemäßer Kostümierung die Vorfahren des Ich-Erzählers, der ihren Berichten auf kahler Bühne andächtig aber weitestgehend passiv lauscht.
Ort des Erinnerns in Handkes Gedanken ist das Jaunfeld, ein offenes Tal, durch das der Fluss Drau in Richtung Slowenien fliest, bekränzt vom Mittelgebirgszug der Saualpen und den Karawanken. Der Dichter beschreibt Berge, Natur und Jahreszeiten mit höchst poetischen Worten. Hier spielt sich das Leben der Familie von Handkes Mutter Maria (Judith Hofmann) ab, das die Darsteller nun in kleinen Spielszenen vor uns ausbreiten. Das Volk der Kärtner Slowenen muss, seiner Sprache und Traditionen beraubt, für das Dritte Reich in den Krieg ziehen. Drei Söhne (Thorsten Hierse, Ole Lagerpusch, Marcel Kohler) haben das Ehepaar Siutz (Katharina Matz und Michael Gerber), von denen zwei fallen werden und einer, Gregor (Thorsten Hierse), seiner Schwester Ursula (Simone von Ziglinicki) zu den jugoslawischen Partisanen folgt. Darüber verbittern die passiven Alten, und die Jungen werden hart. Gegenseitige Vorwürfe, Trotzreaktionen und Wut, ein wortgewaltiges Requiem zwischen Trauer und Resignation.
Und das wird hier sehr breit erzählt und oft auch pathetisch auffahrend gespielt. Nichts von der gedankenoffenen Schwerelosigkeit der Gotscheff-Inszenierung. Die stille Passivität des Erzählers tut ihr Übriges, dass diese Inszenierung zusehends in Schwermut versinkt. Bezüglich seiner Geburt bleibt Müller Elmaus Figur immer außen vor, auch wenn er in der Geschichte seiner Vorfahren gefangen ist. Es überwiegt die Trauer über den Verlust der Heimat durch den Verrat der englischen Verbündeten im Zweiten Weltkrieg, in dessen Folge sie das Jauntal Österreich zuschlagen. Das Bühnenbild wird von Akt zu Akt von den Darstellern selbst abgebaut, bis die leere Scheibe übrig bleibt, und sich die Familienmitglieder zu einem Abgesang an der Rückwand der Bühne versammeln. Regisseur Abt versucht Schicksal und Leid der Menschen emotional erfahrbar zu machen. Aber trotz der guten darstellerischer Leistung bleiben einem diese Figuren doch seltsam fremd.
https://www.freitag.de/autoren/stefan-bock/friedrich-schiller-und-peter-handke-am-dt***
http://www.berliner-zeitung.de/theater/schiller-und-handke-im-deutschen-theater-das-deutsche-theater-zeigt--was-es-kann,10809198,30572488.html
Schon besagter Peter-Handke-Abend, „Immer noch Sturm“
von Frank Abt in subtiles Sepia getaucht, lässt all die
kulturbetriebliche Selbstvergewisserungserregung schlagartig vergessen.
Man sinkt mit dem Handke’schen Ich (Markwart Müller-Elmau) hinab in die
Einbildungen einer Vergangenheit: Man lernt das Jaunfeld in Kärnten
zwischen 1936 und 1945 kennen und die slowenischen Dichter-Ich-Ahnen
(mit nachdenklicher Durchlässigkeit verkörpert von Schauspielern),
schmeckt alte Apfelsorten und Milchhaut, spürt den Fluss der Zeit durch
Leid und Traum zum Tod − vertrauensvolles Theaterschläfchen inbegriffen.
Spannungsgeladene Ruhe
Sehr
leise und temporeduziert geht es über weite Phasen auch bei Schillers
„Don Karlos“ auf der großen Bühne zu. Doch ist die Ruhe an König
Philipps II. Hof zum Bersten mit Spannung geladen, die aber mit Hilfe
des Machtapparats und der Inquisition unter dem Deckel gehalten werden.
Einerseits gärt es in den protestantischen niederländischen Provinzen,
andererseits kochen in dem titelgebenden Infanten (Alexander Khuon)
Leidenschaften für seine junge Stiefmutter Elisabeth (Katrin Wichmann),
während Prinzessin Eboli (Kathleen Morgeneyer) für ihn entfacht ist. Das
Ganze platzt auf mit dem Erscheinen des idealistischen Jugendfreunds
Marquis von Posa. Andreas Döhlers Posa scheint tatsächlich der einzige
in dieser leergefegten Kühlschrankwelt (Bühne Katja Haß) zu sein, in
dessen Adern das Blut zu fließen wagt und der so guckt wie er denkt.
Alle
anderen sind festgezurrt und ermattet zugleich − von unterdrückten
Leidenschaften oder Posen der Macht. Jedes Wort ist eine Falle, jede
Begegnung ein unerbittlich ausgetragener Interessenkonflikt. Alle sind
in Deckung, wer zuckt, verliert, gleichzeitig wird der
Handlungsspielraum immer enger, die Situation immer auswegloser. Alles,
was der König (Ulrich Matthes) absondert, ist eine unerbittliche
Entscheidung, ob Sanktion oder Gnade − eine menschliche Äußerung ist
unmöglich. Deshalb spricht er wenig und kaum laut. Deshalb die
aufgesperrten Ohren und die wohlgesetzten Schritte und Worte in der
machtversessenen mittleren Führungsebene (Henning Vogt und Jürgen Huth).
Das Ganze würde den Spielern schon viel früher
um die Ohren fliegen, wenn sie sich nicht ab und zu in das Maß der
Blankverse retten könnten − die Sprache als Maske, aber auch als
Geländer und als Sortierhilfe. Nicht dass das in einer Sekunde aufgesagt
klänge, aber in Momenten so, als würde die Sprache in die angststarren
oder wutentbrannten oder pathosberauschten Figuren fahren und ihre
Affekte in Bahnen lenken, die möglicherweise kühler sind, aber nur umso
gezielter ins Verderben führen.
Was für ein
nervenzerfetzendes und herzrhythmushetzendes Mitdenkabenteuer! Mit so
gut wie nichts als Schauspielern, die dürfen, was sie können, sagen, was
sie meinen und wissen, was sie tun. Und die uns damit ihre Freiheit im
Spiel und unsere Unfreiheit im Leben vorführen. Wie gesagt: Welch
Erleichterung!
Ein Dichter begegnet seinen renitenten Ahnen
"Immer noch Sturm" von Peter Handke herrscht in Kürze bei der neuenbuehnevillach. Bernd Liepold-Mosser inszeniert.
Foto © NBV/KlopfFamiliengeschichte, verdichtet: Szene aus Handkes Stück
"Theater ist ein tägliches Gemeinsam-in-die-Irre-gehen", beschreibt Regisseur Bernd Liepold-Mosser seine Auseinandersetzung mit Peter Handkes hochpolitischer Familienaufstellung im Kärntner Jaunfeld. Dass "Immer noch Sturm" ein Jahr nach der Uraufführung bei den Salzburger Festspielen jetzt an der neuenbuehnevillach herauskommt, ist der Zielstrebigkeit von Michael Weger und seinem Team zu danken. Rasch sicherte man sich das Stück, das Liepold-Mosser als "Lesetext von hochkomplexer Struktur" sieht.
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NOW IN ENGLISH
Distributed for Seagull Books
112 pages | 5 1/2 x 7 3/4
Peter Handke, a giant of Austrian literature, has produced decades of fiction, poetry, and drama informed by some of the most tumultuous events in modern history. But even as these events shaped his work, the presence of his mother—a woman whose life spanned the Weimar Republic, both world wars, and the postwar consumer economy—loomed even larger.
In Storm Still, Handke’s most recent work, he returns to the land of his birth, the Austrian province of Carinthia. There on the Jaunfeld, the plain at the center of Austria’s Slovenian settlement, the dead and the living of a family meet and talk. Composed as a series of monologues, Storm Still chronicles both the battle of the Slovene minority against Nazism and their love of the land. Presenting a panorama that extends back to the author’s bitter roots in the region, Storm Still blends penetrating prose and poetic drama to explore Handke’s personal history, taking up themes from his earlier books and revisiting some of their characters. In this book, the times of conflict and peace, war and pre-war, and even the seasons themselves shift and overlap. And the fate of an orchard comes to stand for the fate of a people.
“Numerous pleasures await the reader who delves into the fabric of Handke’s prose. . . A subtle writer of unostentatious delicacy, Peter Handke excels at fiction that, as it grows, coils around itself like wisteria. . . This is where the French New Novel might have gone if pushed.”—Paul West, Washington Post Book World
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Keine Lightversion
Für seine Zweieinhalbstunden-Fassung im Stadtkinosaal hat der wie Handke aus Griffen stammende Nestroy-Preisträger 2011 die verzweigte Handlung verdichtet. Trotzdem sei es keine "Lightversion". In vier historischen Etappen und einem Epilog soll weder der antifaschistische Widerstand in Kärnten noch die persönliche Geschichte zu kurz kommen. "Ich habe mich dafür entschieden, den Akzent stärker darauf zu legen, was passiert, wenn ein erwachsenes Ich seinen Ahnen begegnet. Diese Ahnen gehorchen ja nicht der Fantasie des Ich, sondern sind zum Teil richtig renitent," betont Liepold-Mosser, der Dimiter Gotscheffs rund fünfstündige Uraufführungsinszenierung "bewusst nicht gesehen hat".
Ins Vorab-Schwärmen kommt der Regisseur bei der Besetzung: Andreas Patton, bekannt aus Fernsehen und Theater, tritt als Handkes "Ich" auf, Nadine Zeintl als seine Mutter, Katrin Ackerl-Konstantin als seine Großmutter. In die Rolle des Großvaters schlüpft der elfjährige Timothei Nekic. Bekannte Namen vervollständigen die Bühnenfamilie: Magda Kropiunig, Mihi Kri?tof, Werner Halbedl und Daniel Doujenis.
Gespannt darf man auf Bühne (Ronald Zechner) und Videos (Philip Kandler) sein, galt es doch mehrere Erzähl- und Zeitebenen zu berücksichtigen. Für den Soundtrack sorgt Oliver Welter. Einziger Wermutstropfen: Peter Handke hat auf die Einladung zur Kärntner Erstaufführung nicht reagiert. USCHI LOIGGE
Immer noch Sturm. Von Peter Handke. Stadtkino Villach. Ab 21. September.
-http://www.kleinezeitung.at/kaernten/villach/villach/3117360/ein-dichter-begegnet-seinen-renitenten-ahnen.story
"Griffen" wandert auf den Spuren von Peter Handke
12.09.2012 - 13:43
© APA (Herbert Neubauer)Der Regisseur besuchte Handkes Kärntner Heimatort
Am 6. Dezember feiert der österreichische Schriftsteller Peter Handke seinen 70. Geburtstag. Aus diesem Anlass gibt es bereits von 20. bis 23. September im Kunsthaus Mürz in Mürzzuschlag ein Symposium zu seinem Leben und Werk. Ganz hervorragend passt dazu ein Film, der am kommenden Freitag seinen österreichweiten Kino-Einsatz startet: "Griffen - Auf den Spuren von Peter Handke".
Der Autor und Filmemacher Bernd Liepold-Mosser, der im Vorjahr mit seiner Bearbeitung und Inszenierung von Franz Kafkas "Amerika" den Nestroy für die beste Bundesländer-Aufführung nach Klagenfurt geholt hatte, besuchte für seine ungewöhnliche Doku Handkes Kärntner Heimatort und sprach mit den Bewohnern über den großen Abwesenden. Denn der "große Sohn" Griffens kommt in dem 80-minütigen Film, der bei der vergangenen Diagonale mit dem Publikumspreis ausgezeichnet wurde, nie persönlich vor, immer nur in Erinnerungen der Bewohner und Verwandten.
Dabei lernt man etwa Peter Handkes Bruder kennen, der stolz einige Postkarten mit Grüßen seines Bruders vorzeigt, aber auch keinerlei Scheu hat, zu bekennen, nie eine Zeile aus dessen literarischer Produktion gelesen zu haben. Man erfährt von den Dorfbewohnern, dass Peter Handke schon als Kind ein Einzelgänger gewesen sei und auch als Jugendlicher seine Nase nur in Bücher gesteckt habe. "Die Angst des Tormanns beim Elfmeter" habe Handke nie selbst erlebt, wundert sich ein Bewohner über einen Buchtitel des scheuen Literaten. "Am Fußballplatz hab ich ihn nie gesehen!" Man bekommt aber auch einen Besuch Handkes in der Griffener Schule geschildert, bei dem der Autor wie ein Popstar gefeiert wurde. Und natürlich ist Handkes Einstellung zu Slowenien, ja zu ganz Ex-Jugoslawien immer wieder ein Thema. Damit hat sich Peter Handke in Griffen nicht viele Freunde gemacht.
Liepold-Mosser ist selbst in Griffen aufgewachsen und versteht es, anhand der abwesenden Figur des Schriftstellers ein Porträt der kleinen Unterkärntner Marktgemeinde zu gestalten, in der die Skurrilität mancher Bewohner nicht ausgestellt, aber auch nicht versteckt wird, und die verdrängte zweisprachige Geschichte ebenso zur Sprache kommt wie das nicht unproblematische Verhältnis der "kleinen Leute" zur "großen Literatur". Ein gelungener Porträtfilm, der weniger Peter Handke porträtiert als den Ort Griffen. Auf eine Ausstrahlung im mitfinanzierenden ORF darf man sich freuen.
immer noch Sturm
Ein poetisch dramatisches Meisterwerk von Peter Handke. Kärntner Erstaufführung.
Immer noch Sturm von Peter Handke. Ein poetisch dramatisches Meisterwerk. Nestroy-Preisträger Bernd Liepold-Mosser inszeniert dieses ebenso mit dem Nestroypreis ausgezeichnete Stück Kärntner Kulturgeschichte.
Musik von Oliver Welter.
Zum Stück: Das Jaunfeld, im Süden Österreichs, in Kärnten. Um einen Ich-Erzähler Peter Handke versammeln sich die Vorfahren: Großeltern, Geschwister und auch die eigene Mutter erscheinen ihm und begleiten ihn bin in die Träume. Daraus erwächst ein meisterhaftes Familienepos, das sich von der Zwischenkriegszeit bis in die 50er Jahre erstreckt. Ein Stück Kärnten, die Geschichte eines Volkes, eine Geschichte der Kärntner Slowenen.
Im neuen Text von Peter Handke durchdringen sich Prosa und Drama, Theatralisches und Poetisches, Historisches und Persönliches. Das wahrscheinlich wichtigste Theaterstück für Kärnten, von einem der größten Kärntner Schriftsteller.
Mit: Daniel Doujenis, Werner Halbedl, Katrin Ackerl Konstantin, Michael Kristof, Magda Kropiunig, Nadine Zeintl, u.a.
Eindrucksvolle Handke-Premiere im Schauspielhaus
Die Menschen verschwinden, die T-Shirts bleichen aus - 15.04. 19:02 Uhr
NÜRNBERG - Kann ein beleibter Mann mit gut gepolsterten Gesichtszügen einen ausgemergelten anderen Mann imitieren? In wenigen Gesten, aber so täuschend echt, dass man meint, es sei Peter Handke, der da in der ersten Zuschauerreihe aufsteht, verlegen ins Publikum blickt, mit dieser typischen Handbewegung die Brille über dem spärlichen Bärtchen zurechtrückt und dann linkisch auf die Bühne klettert?
Hure! Ursula (Anna Keil) zieht ihre Schwester (Elke Wollmann) durch den Dreck, weil die ein Besatzerkind erwartet.
Foto: Bührle
Thomas Nunner kann es. Und er redet auch so tastend und stockend wie der 1942 geborene Schriftsteller, der in seinem Werk „Immer noch Sturm“ sein Alter Ego, genannt Ich, zu seinen Wurzeln nach Kärnten schickt. Das Land gehört zum Leidwesen des Autors zu Österreich, aber er sieht sich als Angehöriger der slowenischen Minderheit, welcher Handkes Mutter entstammte.
Auf leerer Bühne entwirft Nunner-Ich ein Bild des Jaunfelds im Jahr 1936, als seine Ahnen noch friedlich lebten: Das stattliche Großelternpaar, die Mutter, deren drei Brüder, ihre Schwester. Wir erleben die Herstellung von räumlicher und sozialer Wirklichkeit durch Sprache, ein zentrales Handke-Thema. Nunner macht seine Sache ausgezeichnet, mit einer verhaltenen Heiterkeit.
"Kannst du uns nicht in Ruhe lassen?"
Nun taucht die Familie aus dem dunklen Hintergrund auf: „Kannst du uns nicht endlich mal in Ruhe lassen?“ So wehren sie sich gegen die Heraufbeschwörung. Regisseur Stefan Otteni kostet es aus, dass sich Handkes Figuren gegen ihren Erfinder, oder besser: ihren Erwecker wenden. Dabei wird Stefan Willi Wang als Bruder Valentin allzu heftig, verleiht den slawischen Berglern unerwartetes mediterranes Temperament.
Doch im Prinzip ist die Adrenalin-Spritze richtig gesetzt, denn insgesamt gerät die Vorstellung der Verwandten umständlich und langatmig. Otteni hat zwar beherzt gestrichen, aber auf die Erörterung der heimatbildenden Funktion des Wortes wollte er wohl nicht verzichten; auch nicht auf kernige Sätze wie den des Großvaters (Thomas L. Dietz): „In unserem Haus ist kein Platz für eine Tragödie!“ Der Alte irrt. Ein Verderben antiken Ausmaßes wird das Jaunfeld heimsuchen.
Doch bis dahin hält noch eine szenische Durststrecke das Publikum hin. Wenn etwas passiert, dann nicht auf der Bühne, sondern im Gespräch, das oft aus Aufzählungen besteht – etwa von Obstsorten. Die Regie scheint großen Wert auf derlei dingliche Elemente zu legen, da sie doch die bäuerliche Heimat konstituieren.
Allmählich gibt dann Bühnenbildner Peter Scior seine Zurückhaltung auf: Ein Blütenzweig wird emporgezogen, Ziegelsteine herbeigekarrt, Säcke mit Erde auf der großen Drehscheibe ausgeschüttet – bedeutungsschwangere „Graberde“. Dann ein erster Gänsehaut-Effekt, als der Mädchenchor der Maria-Ward-Schule summend hereinströmt und magische Worte wie „Heim“, „Sonne“ und „Schnee“ skandiert.
Aus dem gutmütigen Familiengezänk schälen sich jetzt im Zeitraffer packende Nahaufnahmen heraus. Der autobiografische Ich-Erzähler spricht mit der Mutter (grandios wie fast immer: Elke Wollmann) über seine unterdrückte Wut. Da hat sie ihn noch gar nicht geboren.
Aber schon die Schwangerschaft lässt ihr den Hass der Familie entgegenlodern, denn den Sohn zeugte ein Deutscher, und als zwangsrekrutierter deutscher Soldat ist gerade der Bruder Benjamin gefallen. „Verflucht sei die Frucht deines Leibes!“, muss der Großvater brüllen, weil sich der weihevolle Dichter Handke mit zunehmendem Alter gern die biblische Wucht entleiht. Stefan Otteni setzt distanzierend den famosen Chor mit einer Schnulze dagegen: „Gib mir den letzten Abschiedskuss“.
Aber Schwester Ursula (Anna Keil) schleift die Mutter des halbdeutschen Bastards durch die Graberde, dann schließt sie sich den Partisanen an. Bruder Gregor (Felix Axel Preißler) wird ihr in den bewaffneten Widerstand der Slowenen folgen.
So hat die Inszenierung bis zur Pause der insgesamt gut dreistündigen Aufführung mächtig Fahrt aufgenommen. Nach Selters und Sekt warten Vernichtung und Verzweiflung auf das Publikum, selbst der Chor stammelt nur noch „La, la, la“ und „Pa, pa, pa“ (Musik: Bettina Ostermeier). Valentin ist gefallen. Da verzweifelt sogar die Großmutter (Adeline Schebesch), die sich bislang mit harter Arbeit vom Kummer ablenkte.
Und nun stirbt in ihren Armen auch noch die Tochter Ursula, zu Tode gefoltert von den Deutschen. Die Regie zieht jetzt alle Register, Schebesch und Keil formieren sich zu einer Pietà-Skulptur – wie die Gottesmutter mit dem toten Jesus.
Bevor der Zuschauer Zeit hat, die Szenen für allzu melodramatisch zu halten, kommt der krachende Höhepunkt. Die Drehbühne wird an der Hinterseite mit Stahlseilen emporgezogen. Die Ziegelsteine, das halbgebaute Haus, der Schubkarren, die Bank, auf der die Großeltern saßen – alles rutscht mit gewaltigem Getöse herab, erschlägt fast die Restfamilie.
Indem die Drehbühne immer schräger steht, hält sich auf ihr noch die Graberde, scheint im Abrutschen Kontinente zu zeichnen. Ein phänomenales Bild: Die Welt entgleitet und versinkt, zurück bleibt eine leere schwarze Riesenscheibe, die gleich einer verfinsterten Sonne aufsteigt.
Das wäre eigentlich ein atemberaubender Schluss gewesen, aber Ausstatter Scior hat noch eine imposante rostige Glocke auf Lager. Auf die schlägt der hinterbliebene, letzte Bruder Gregor mit dem Spaten ein, dass die Funken stieben. Dann kommt noch Preißlers Schlussdialog mit Nunner, dem Ich, in dem es wieder um die Herstellung von Wirklichkeit durch Sprache, durch Erzählung geht: „Hier, meiner Liebe Kind bist du“, muss der Handke-Stellvertreter hochpathetisch tönen, „meiner Liebe Kind seid ihr Vorfahren alle“. Aber dann darf dieser begnadete Schauspieler durchatmen und den erlösenden Satz sagen: „Die Menschen verschwinden, und die T-Shirts bleichen aus“.
Nur zwei Worte sagt unser Parkett-Nachbar, der da sitzet zur Rechten in der fünften Reihe des Schauspielhauses zu Nürnberg: „Viel besser.“ Utz Ulrich meint damit Ottenis Inszenierung im Vergleich zu Dimiter Gotscheffs Uraufführungs-Fassung von „Immer noch Sturm“, die er im August 2011 in Salzburg sah. Wir sind geneigt, dem erfahrenen Theaterbesucher, Kulturpolitiker, Stadtrat und Rechtsanwalt Recht zu geben.
Immer noch Sturm – Stefan Otteni beschert Nürnberg nicht nur eine Handke-Inszenierung, sondern die beste Aufführung der laufenden Saison
Das schöne Phantom Gemeinschaft
von Dieter Stoll
Nürnberg, 12. April 2012. Von einer Nürnberger Tradition im Umgang mit Peter Handke wird nun wirklich niemand sprechen wollen. Aber typisch für die furchtsame Haltung der "Provinz" gegenüber dem spröden Poeten ist die Mini-History der lokalen Spielplan-Politik allemal. 1994 wurde auch hier die dialog- und provokationsfreie "Stunde, da wir nichts voneinander wussten" nachgespielt, nicht ohne dass der damalige Spartenchef versicherte, wie gerne er die anspruchsvolleren Stücke ansetzen würde – wenn er das seinen Abonnenten nur zumuten könnte.
Kunst-Messen Abgesang
Das Denkloch klafft nach beiden Seiten, denn seither gab es nichts mehr und zuvor stehen in den Jahrgängen 1968 und 1971 einsam "Kaspar" und "Der Ritt über den Bodensee". In Aufführungen von Günther Büch, dem damaligen Oberhausener Peymann-Konkurrenten in der Entdeckung des Autors, die selbst nach Abzug von Nostalgie-Bonus zu den haltbarsten künstlerischen Ereignissen des Hauses gehörten.
Der Erfolg versickerte, und dass der jetzige Schauspieldirektor Klaus Kusenberg das 2011 nach der Salzburger Uraufführung verhalten aufgenommene Stück Immer noch Sturm so spontan ansetzte, hat mit Regisseur Stefan Otteni, aber sicher auch mit Handkes hier ebenso rarer österreichischer Kollegin Elfriede Jelinek zu tun.
Otteni bescherte dem Staatstheater Nürnberg 2009 einen unerwarteten Erfolg mit "Die Kontrakte des Kaufmanns" und verbandelte seine Handke-Option mit dem Versprechen, dass er keine "hermetische Kunst-Messe" im Text sehe. Das war offensichtlich beruhigend, die Produktion wurde nicht in den Kammerspielen, sondern im großen Haus angesetzt. Soweit die Vorgeschichte. Sie endete jetzt mit stürmischem Beifall für die beste Aufführung der laufenden Nürnberger Saison.
Gelebtes Selbstbewusstsein der Urahnen
Der heutige "Ich"-Erzähler, den manche Exegeten bei der Uraufführung zur Spiegelung des Autors erklärten, kommt in der Nürnberger Fassung direkt aus dem Publikum. Über der leeren Szene zuckt noch unkontrolliertes Licht, wenn er schmunzelnd auf die Bühne klettert, um per Ortsbeschreibung sein Erinnerungs-Spiel einzufädeln. Oder wo, oder wann, oder was – relativiert er die eigenen Angaben wieder, als ob es vielleicht doch sofort ums Gleichnis für die große, ganze Weltgeschichte und nicht konkret um slowenische Familienbande in Kärnten zwischen 1936 und 1945 ginge.
Diese Irritation regelt die Sippe auf pragmatische Art, die Ahnen marschieren aus der Dunkelheit herein, noch ehe ihr Spielleiter genau weiß, was er von ihnen erwartet. Sie setzen gelebtes Selbstbewusstsein gegen den Schöpfer ihrer Charaktere, der damit trotz seiner freundlichen Erfindung von Widerstandskämpfern in der Ahnen-Galerie nicht mehr der Allmächtige des Geschehens ist. Zwar ringt er weiter um die Deutungshoheit der Worte, indem er sie der Verwandtschaft immer wieder wohlgeformt in den Mund legt oder - sofern Brüder, Onkel, Tante, Mutter und Großeltern schneller bei Zunge sind als ihr allzu präsenter Ghostwriter – beim Verfertigen der Gedanken aufspringt. "Immer noch Sturm" in Nürnberg © Marion Bührle
Doch die zunächst abwehrend auf den Ruf der Zukunft reagierenden Geister entschlüpfen der Kontrolle, sie übernehmen das Kommando der Geschichtsschreibung, die ihnen als einzig "unwiderrufliche Instanz" erscheint. Also erzählen sie, was ihnen wichtig ist. In Monologen und Feldpostbriefen, poetischen und pathetischen Ausbrüchen – angetrieben von der Sehnsucht des notorischen Einzelgängers Handke nach dem Phantom der "Gemeinschaft", das er trotz aller Sprachkunst natürlich auch in diesem Stück nicht fixieren kann.
Ein Zweig, ein Hausgrundriss, alles in Leichtigkeit
Regisseur Stefan Otteni und sein Bühnenbildner Peter Scior haben ein paar kluge Grundsatzentscheidungen für die Inszenierung getroffen. Zwischen der Beschreibung der Szene und der Phantasie der Zuschauer gibt es keinen Parkplatz für Illustrationen. Kein Apfelbaum, nirgends. Nur ein Blütenzweig in der Luft und das Garten-Modell zum späteren Zertrümmern letzter Hoffnungen. Auf der Drehbühne baut die Familie ihre Welt in kompakten Andeutungen. Aus Backsteinen entsteht der Haus-Grundriss, in Baumarkt-Portionen wird Heimat-Erde ausgebreitet. Wenn der Krieg verloren und die Welt scheinbar am Ende ist, kippt die Scheibe und räumt krachend alles ab.
Hoffnungsfroher sind die Mädchen, die es bei Handke gar nicht gibt. Ein Chor aus 26 Schülerinnen, allzeit und gerne auch auf Zuruf des "Ich"-Erzählers bereit zum stützenden Rundgesang für alle Anlässe und dem Regisseur Sinnbild der denkbar "unschuldigsten" Realisierung jener Gemeinschaft, die Handke so nachdrücklich verklärt. Wo sie, während die Erwachsenen noch von der Kriegs-Depression geschüttelt sind, fröhlich kichernd in die neue Zeit radeln, gewinnt die Aufführung ihre vorübergehend im Partisanen-Pathos gefährdete Leichtigkeit zurück.
Thomas Nunner ist der spurensuchende Erzähler und bewältigt diese anspruchsvolle Aufgabe als tiefgründelnder Komödiant. Er leitet den selbstironischen Ton weiter, der das "Ich" vom "Ego" des Autors trennt, kann über das Spiel, das er da anzettelte, immer wieder staunen. Nunners Sprache ist so lapidar, dass sie Handkes Text das Schwitzen versagt. Sein stärkster Partner ist Felix Axel Preißler, der den auferstandenen Onkel mit der Liebe zum Apfel und dem logischen Kampfnamen Jonathan mit genau taxiertem emotionalem Hochdruck zwischen Friedens- und Racheengel positioniert.
Gedimmte Dramatik oder öffentliche Meditation
Dem ganzen Ensemble (die sonnige "Ich"-Mutter Elke Wollmann an der Spitze im Damen-Ringkampf mit ihrer trübsinnigen Schwester Anna Keil, den Großeltern Adeline Schebesch und Thomas L. Dietz, den Brüdern Stefan Willi Wang und Philipp Weigand) gelingt ein Netzwerk von Blick-Kontakten, das auch Peter Handkes tosend hereinbrechenden Patrioten-Fanfaren standhält, wo Regisseur Stefan Otteni meint, sie wie ein Zitat an der Rampe ausstellen zu können.
Weitere Fehler hat er nicht gemacht, denn er bleibt dem Spiel treu und die Kürzung des ausufernden Textes auf knapp drei Stunden ist so gefühlvoll, dass der Zuschauer kaum Brüche bemerkt. Die provokante Frage, ob "Immer noch Sturm" gedimmte Dramatik oder eher öffentliche Meditation ist, hatte sich am Ende aufgelöst.
Bemerkenswert, wie gebannt das Premierenpublikum war – und wie die Begeisterung dann explodierte. Von daher könnte die Nürnberger Aufführung nicht nur für die Geschichte des Hauses wichtig sein, sondern den Anstoß für viele weitere Versuche mit Handke an den mittelgroßen Theatern des Landes geben.
Immer noch Sturm
von Peter Handke
Regie: Stefan Otteni, Bühne: Peter Scior, Kostüme: Sonja Albartus, Musik: Bettina Ostermeier, Dramaturgie: Horst Busch.
Mit: Thomas Nunner, Elke Wollmann, Adeline Schebesch, Thomas L. Dietz, Felix Axel Preißler, Stefan Willi Wang, Anna Keil, Philipp Weigand und der Mädchen-Chor der Maria-Ward-Schule Nürnberg.
www.staatstheater-nuernberg.de
http://nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article&id=6795:immer-noch-sturm-stefan-otteni-beschert-nuernberg-nicht-nur-eine-handke-inszenierung-sondern-die-beste-auffuehrung-der-laufenden-saison&catid=38:die-nachtkritik&Itemid=40
Wie Handke handfest wird – sogar im Sturm
Stefan Otteni inszeniert im Nürnberger Schauspielhaus - 11.04. 19:13 Uhr
"Was interessiert das Publikum an diesem Stück?" ist nicht die Frage, welche sich die Starregisseure des deutschsprachigen Theaters gewöhnlich stellen. Vielmehr lautet – ganz ohne falsche Bescheidenheit – die Leitlinie: "Was interessiert mich, das trotz satter Honorare jung und wild gebliebene Inszenierungsgenie, an diesem dramatischen Material, und wie kann ich es so weit verdrehen, dass die Kritik nur noch von mir und nicht mehr vom Autor spricht?"
Große Besetzung im Nürnberger Schauspielhaus: Der Mädchenchor der Maria Ward-Schule verstärkt im Handke-Stück "Immer noch Sturm" das Ensemble und setzt folkloristische Akzente.
Foto: Marion Bührle
Vielleicht spielt Stefan Otteni deshalb noch nicht in der Ersten Bundesliga des Großschauspiels, weil er sich ernste Gedanken über den Erwartungshorizont seiner Zuschauer macht. Mehr noch: Er erwägt sogar die speziellen Interessen des Publikums vor Ort. In Nürnberg, einer Stadt mit hohem Flüchtlingsanteil, ist nach seiner Überzeugung die Erinnerung an Flucht und Vertreibung im Zweiten Weltkrieg noch lebendig. Das habe er sogar im Gespräch mit den Schülerinnen der Maria-Ward-Schule, die in seiner Inszenierung mitwirken, festgestellt. Viele der Mädchen hätten von älteren Verwandten mitbekommen, was damals infolge des NS-Größenwahns geschah.
Die Kriegsfolgen sind aber nur ein Aspekt von Ottenis Regiearbeit. Vielleicht noch packender, noch aktueller ist für ihn die „lebendige, widerspruchsreiche Familiengeschichte“, die in Peter Handkes Text steckt und die er herausarbeiten will. Es geht ihm also, wie er im Gespräch mit der NZ erklärt, um das, was für die Zuschauer in Nürnberg nachvollziehbar ist – und nicht um die Probleme der slowenischen Minderheit in Kärnten, die der Großschriftsteller slowenischer Abstammung in seinem „Immer noch Sturm“ einkreist.
In dieser bald raunenden, bald emphatischen und oft pathetischen Prosa kehrt Handkes „Ich“ genanntes Alter Ego zu seinen Wurzeln zurück, trifft und beobachtet von 1936 bis in die Nachkriegszeit seine junge Mutter, deren Eltern und Brüder. Vergeblich ist ihr Freiheitskampf, ihr Partisanenkrieg gegen die deutsche Wehrmacht. Als endlich Frieden herrscht, sehen sie sich von den Alliierten verraten, denn die slowenische Enklave wird Kärnten, wird Österreich zugeschlagen. Für Handkes Verwandte herrscht „Immer noch Sturm“.
Ungeachtet von penetrantem Patriotismus und Heimattümelei fand der Regisseur einen „brillanten Humor“ in seiner Vorlage: „Die Verwandten geben dem ,Ich’ kontra, entfalten ein Eigenleben. Die Figuren distanzieren sich vom Autor – das ist ein toller Vorgang“, schwärmt Otteni.
So findet er Ansatzpunkte, um komische Elemente zu verstärken, in schweren Zeiten Heiterkeit zu verbreiten. „Aber ab dem dritten Akt zerstört der Krieg alles; die Kinder sterben, das Stück wird so düster, eine Tragödie!“ Wenn dann im vierten Akt, in einer „Gottesgeste“, die tote Schwester hereingetragen werde, dann sei das Bühnengeschehen ganz klassisch auf das Mitleiden, die Ergriffenheit des Publikums ausgerichtet.
Schon mehrfach Erfolge in Nürnberg: Stefan Otteni.
Foto: privat
Hier zeige Handke seinen Schmerz, er verhandele sich selber, stelle sich selbst infrage, meint Otteni. „Das nehme ich sehr ernst, auch wenn ich in seinem Text nicht alles gutheiße“.
Was der Regisseur offenbar missbilligt und durch kräftige Striche (auch im Interesse einer höchstens dreistündigen Aufführungsdauer) zurückgedrängt hat, ist das Raunende, zuweilen Märchenhafte des Österreichers. Er möchte Handke handfest und konkret machen, dessen Idyllen auch mal als Kitsch entlarven, wenn es nötig erscheint.
Allerdings lässt Otteni folkloristische Elemente zu: Die Nürnberger Schülerinnen, die den Chor bilden, sind entsprechend kostümiert, wenn sie Ernte- und Bauernlieder singen oder Schnulzen aus dem Dritten Reich. Mit Hilfe einer Sprachtrainerin haben sie sogar etwas Slowenisch gelernt. Die Darsteller, darunter Elke Wollmann, Adeline Schebesch und Thomas L. Dietz, bemühen sich ebenfalls um Handkes Traum- und Ahnensprache. Das „Ich“ verkörpert ein waschechter Österreicher, Thomas Nunner.
Morgen wird sich zeigen, ob die Premiere am Freitag, den 13. gelingt und ob Otteni sein Versprechen wahrmacht: „Es soll keine Kunstanstrengung werden.“
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30.03.2012 · 17:35 Uhr
Immer noch Sturm am Theater an der Ruhr (Bild: Christian Brachwitz)
"Immer noch Sturm" von Peter Handke in Mülheim an der Ruhr
Von Dorothea Marcus
Peter Handkes "Immer noch Sturm" erzählt vom slowenischen Widerstand in Kärnten gegen die Nazis, von Nachgeborenen, die ihre Sippschaft um sich sammeln. Roberto Ciulli, der 79-jährige große Theatermann vom Theater in der Ruhr in Mülheim, hat es nun auf die Bühne gebracht.
Bei den Salzburger Festspielen im August 2011 ließ Regisseur Dimiter Gottscheff "Immer noch Sturm" als statisches Lautgedicht in fünf Stunden spielen. Es regnete grüne Papierschnipsel, und der Hauptdarsteller Jens Harzer wurde trotz seines Könnens fast vom Text erdrückt. In Karlsruhe wurde es danach zum Kammerspiel auf kleiner Studiobühne, heiter illustriert mit Regie-Gags - beide Aufführungen wurden von der Kritik zwiespältig aufgenommen.
Im Theater an der Ruhr geht Roberto Ciulli einen ganz anderen Weg. Das Bühnenbild von Gralf-Edzard Habben ist ein steriles Krankenzimmer mit weißen Kacheln, wie eine Insel liegt es in einem Meer aus Ascheflocken. Der Icherzähler liegt krank und müde im Bett. Mit metaphysisch-dunklem Rauschen öffnet sich das riesige Fenster und die schwarz gekleideten, bleichgeschminkten Ahnen setzen sich um ihn herum.
"Da seid ihr nun, Vorfahren... die längste Zeit schon habe ich auf euch gewartet. Guten Tag Großmutter, guten Tag Großvater, Gregor, mein Onkel und Taufpate. Ursula! Keine Angst. Guten Tag und Doberdan, Benjamin, du Fast-Kind. Und jetzt du Mutter, so jung wie jetzt warst du nie... Aber sag wo sind wir jetzt alle zusammengekommen? Die Taiga, die Steppe, die Tundra?"
"Immer noch Sturm" ist eine Geistergeschichte, in der eine Familie um ihre eigene Sprache und Identität kämpft - zugleich kämpft auch der Schriftsteller von heute um seine Kindheitserinnerungen. Es geht hier um große Themen wie Schuld und Sehnsucht. Verantwortung und Lebenskampf. Und ständig mischen sich die kleinen Fragen der Familie hinein: was am Familientisch gegessen wurde. Wie Heu riecht. Wer den Stall ausmistet und wer die Dorfmädel flachlegt. Schwärmerisch wird das Essen aufgezählt, von dem auch in schlimmsten Zeiten genug da war. Apfelstrudel mit Zimt! Brot und frisch gestampfte Butter!
Volker Roos ist der hagere, heitere, leicht ironische Icherzähler, unschwer ist in ihm Peter Handke zu erkennen.
Äpfel rollen auf die Bühne und entfesseln seine Kindheitserinnerungen an die idyllische Landschaft und die bäuerliche Enge, vor der seine Mutter fliehen musste, weil sie ihn, den Wechselbalg, unehelich mit einem deutschen Soldaten zeugte.
Später rollen Totenköpfe auf die Bühne und erinnern, dass drei der fünf Geschwister gestorben sind, zwei im Schlachtfeld, eine im Partisanenkampf. Nur Onkel Gregor blieb übrig, vielleicht verantwortlich für den Tod der Schwester.
In Ciullis Regie sprechen die überragenden Schauspieler selbst das Traurigste in heiterem Tonfall. Sie tragen altertümliche Eleganz und dezente Trachtenelemente. Sorgsam und liebevoll fangen sie die poetische Sprache von Handkes monolithischer Textfläche ein.
Die düstere Schwester Ursula, die als Partisanin stirbt, wird von Dagmar Geppert verhärmt und verlassen gespielt und erblüht zur kraftvollen, schönen Mariannenfigur, als sie in die Wälder geht.
Simone Thoma spielt die harte, kalte Großmutter wie einen koboldhaften Geist, der hysterisches Gelächter wie einen Schutzschild vor die Trauer setzt. Die Brüder Valentin und Benjamin sind lustige Bauernsöhne, die den Krieg als großes Abenteuer sehen. Ihre Schwester, die Mutter des Schriftstellers, Petra von der Beek, lernt beglückt ihre Feldpost auswendig.
Illustriert wird der dreieinhalbstündige Abend mit sparsamen, aber wirkungsvollen Bildern. Als der Krieg zu Ende ist, liegen die Kapitulationsfahnen auf dem Ascheboden wie Grabtücher. Darunter muss die Mutter ihre Tochter identifizieren... und lacht auch diesen Schmerz einfach weg.
Es ist auch eine Erzählung über die Ambivalenz von Familien: die heimelige Enge, die zum zwanghaften Wertekorsett wird.
Der jüngste Sohn Benjamin drückt das aus in seinem Monolog, bevor er als Erster stirbt und fortan nur noch mit zerborstenen Engelsflügeln auftaucht:
"Warum all der Ekel in mir? Familienkrankheit, oder nur meine eigene? Ekel vor dem Loch des Gekreuzigten... Ekel vor Weihnachten... vor dem Fremden... vor der nächsten Stadt... Sehnsucht wird nach dem Ostertag. Dass ich mich nach einer anderen Zeit sehne... Ekel vor meiner ewigen Sehnsucht... ekelhaftes, elendiges Heimweh."
Es ist ein großer, wahrhaft beglückender Abend. Subtil erzählt er davon, wie tief Geschichte die Gegenwart prägt. Kongenial erweckt er die erzählerischen Weiten von Handkes Vorlage zum Leben, nichts wird verflacht, alles lässt Größeres ahnen. Kaum zu glauben: Roberto Ciulli ist mit fast achtzig Jahren zu neuer künstlerischer Kraft gelangt.
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PREMIERE
"Immer noch Sturm" feierte Premiere im Theater an der Ruhr
30.03.2012 | 05:33 Uhr
Ensemble "Immer noch Sturm" von Peter Handke.Foto: Christian Brachwitz
Mülheim. Es hätte eine schöne Familiengeschichte werden sollen, doch Nazis und der Krieg führten zu Unterdrückung und Hinmetzelung von Kärtnener Slowenen: Das Stück "Immer noch Sturm" von Peter Handke feierte nun Premiere im Theater an der Ruhr in Mülheim - ein Hommage an vergessene Generationen.
Durch ein Fenster steigen sie mitten in seinen Traum und lassen den Ich-Erzähler (Volker Roos) nicht mehr los. Es sind die Ahnen, die sich gleichsam wie böse und gute Geister oder als schlechtes Gewissen in sein Leben bohren: Die junge Mutter (Petra von der Beek) mit roten Stiefelchen, die Großeltern (Simone Thoma, Rupert J. Seidl), die düstere Tante (Dagmar Geppert) und drei Onkel (Albert Bork, Klaus Herzog, Marco Leibnitz).
Es hätte ein schöne Familiengeschichte werden können – mitten im idyllischen Kärntner Jauntal, zwischen leuchtenden Apfelbäumen mit dem saftigen Welschbrunner. Wären da nicht die Nazis und der Krieg gewesen, hätte es nicht die Unterdrückung und das Hinmetzeln der Kärntner Slowenen gegeben, die ihrer Sprache und Identität beraubt wurden.
Es gibt kein Leben im Konjunktiv
Und hätten drei Kinder nicht im Krieg ihr Leben gelassen. Wäre, hätte, wenn – es gibt kein Leben und keine Familien-Geschichte im Konjunktiv. „Einmal die Heimat verloren, immer die Heimat verloren.“ Es herrscht „Immer noch Sturm“.
Das gleichnamige Stück von Peter Handke hatte Premiere im Theater an der Ruhr. Volles Haus. Es ist bereits die vierte Inszenierung, die in dieser Spielzeit herauskommt. In bewährter Personalunion entstand das Familienpanorama: Roberto Ciulli (Regie), Helmut Schäfer (Dramaturgie), Gralf-Edzard Habben (Bühnenbild).
Ein äußerst konzentriertes und engagiertes Ensemble stemmt den fast vierstündigen Abend. Mit einem brillanten und dabei sehr poetischen Text ist es eine Hommage an längst vergessene Generationen und Vorfahren, eine Auseinandersetzung mit Schuld und Opferrolle und nicht zuletzt eine Liebeserklärung an die Familie.
Margitta Ulbricht
Mülheim: Ciulli inszeniert Handke
zuletzt aktualisiert: 30.03.2012 - 02:30
Die Geschichte stellte sich der Philosoph Walter Benjamin als einen Sturm vor, der vom Paradies her weht und unablässig Trümmer auf Trümmer häuft. Peter Handke nimmt in seinem Stück "Immer noch Sturm" die Position von Benjamins "Engel der Geschichte" ein: Er wendet sich der Vergangenheit zu, genauer: der Geschichte der Familie seiner Mutter, die zur slowenischen Minderheit in Kärnten gehörte, im Zweiten Weltkrieg von den Nazis verfolgt wurde und irgendwann vor den Trümmern ihrer Existenz stand.
Roberto Ciulli inszeniert diese Ahnenforschung im Mülheimer Theater an der Ruhr mit viel Bedacht. Er gibt dem Text und seinen Schauspielern Raum und Zeit, sich zu entfalten. Ein Sturm weht die Ahnen herein und versammelt sie um das Bett des Handke-Alter-Egos. Volker Roos bewegt sich in der eigenen Erinnerung bedächtig-tapsig wie ein Museumsbesucher. Etwas statisch stehen seine Ahnen im anfangs steril-weißen Bühnenraum. Doch wie eine Familienaufstellung in der Psychotherapie hat es ihre Konstellation in sich: Sie wird immer wieder lebendig und erzählt die ganze Bandbreite dieser speziellen Kriegsgeschichte. Sie zeigt, was der Verlust von Heimat, Kultur und verbindender Identität mit Menschen machen kann. Und wie manche der im großen Krieg aufgeschlagenen Wellen über die Generationsgrenzen rollen wie die Totenköpfe über das Mülheimer Bühnenbild. MAX FLORIAN KÜHLEM
Theater an der RuhrPeter Handkes "Immer noch Sturm" erntet viel Beifall
MÜLHEIM Viel Beifall erntete die Premiere von "Immer noch Sturm" im Theater an der Ruhr. Roberto Ciulli zeigte, dass Peter Handkes Stück mehr ist, als ein Lesedrama.Von Klaus Stübler
Petra von der Beek als Mutter des "Ichs".
Foto Brachwitz
Bei Shakespeare erhofft sich der wahnsinnig gewordene König Lear vom Sturm die Vernichtung allen Seins. Peter Handke bezieht sich im Titel seines Stücks "Immer noch Sturm" auf die berühmte Heideszene, hat aber nicht Shakespeares dramatische Wucht.
"Immer noch Sturm" ist ruhig, ein Familienepos das vor allem als Lesedrama funktioniert. Bis jetzt. Am Mittwochabend hat Roberto Ciulli am Theater an der Ruhr die Bühnentauglichkeit bewiesen: Die Premiere löste einen Sturm der Begeisterung aus.
Menschen statt Zombies
Der Wind reißt die Sprossenfenster im Bühnenhintergrund auf. Herein kommen die Ahnen des mit Handke weitgehend identischen "Ichs". Die verstorbenen Großeltern und deren fünf Kinder sind aber keine Zombies. Ciulli macht aus ihnen Menschen aus Fleisch und Blut. Das "Ich" hat sie herbeigerufen, um Details aus der eigenen Geschichte und der seines Volkes, der slowenischen Minderheit in Kärnten, zu erfahren.
Es geht um die Zeit des Zweiten Weltkriegs, in der die Slowenen ihre Sprache und Kultur verleugneten oder zu Partisanen gegen die Nazis wurden. Bühnenbildner Gralf-Edzard Habben hat da einen weiß gepflasterten Weg ausgelegt, der über das Herbstlaub der braunen Vergangenheit führt.
Roberto Ciulli entfaltet ländliche Familienszenen in eindringlicher Bildsprache. Rupert J. Seidl und Simone Thoma geben die knorrigen Großeltern auf der Gartenbank. Petra von der Beek ist die "Frohsinn-Mutter". Mit leidenschaftlichem Spiel macht sie aus der Rezitation von Feldpostbriefen ein Ereignis.
Dagmar Geppert zeichnet den Weg der "Finsterschwester" Ursula zur fanatischen Partisanin überzeugend nach. Ein vergleichbares Gegensatzpaar verkörpern Albert Bork in der Rolle des westlich gesinnten Casanovas Valentin und Klaus Herzog als einäugiger Partisane Gregor.
Das "Ich" steht im Zentrum
Im Zentrum der Inszenierung steht Volker Roos als "Ich": ein Chronist mit Notizbuch und Bleistift, neugierig forschend, zuletzt mit Sezierbesteck.
Wer "Immer noch Sturm" im Mai für den Mülheimer Stücke-Wettbewerb sichtet, tut gut daran, neben der Uraufführungs-Inszenierung von Dimiter Gotscheff auch Ciullis Produktion anzusehen.
Termine: 30. und 31.3., 22.4.; Karten: Tel. (0208) 5 99 01 88.
Immer noch Sturm – Roberto Ciulli zeigt in Mülheim einen hinreißenden Handke
Eindringlinge, Sprachbesatzer
von Martin Krumbholz
Mülheim an der Ruhr, 28. März 2012. Ein Windstoß, und die beiden Flügel des freistehenden Fensters, das Gralf-Edzard Habben an die Rückseite seiner Bühne gebaut hat, öffnen sich und lassen eine kleine Meute wunderlicher Gestalten ein. Im Krankenbett vor dem Fenster liegt, bekleidet, ein alter Mann: der Ich-Erzähler.
Vergangenheitsgespenster entern die Gegenwart
© Christian BrachwitzDie, die ihn heimsuchen, sind seine Vorfahren: Großeltern, Onkel und Tanten, die ledige Mutter. Sieben an der Zahl. Einige dieser Wiedergänger sind jünger als der Erzähler jetzt, denn die Zeitreise, die er antritt, führt ihn in die Jahre 1936, 1942, 1945 – in eine Epoche, als er selbst noch gar nicht auf der Welt oder ein Kleinkind war. Die Zeit des Faschismus. Später wird der "Ich" genannte Mann sich erheben und sich unter seine Leute mischen, ihnen lauschen, sich zu ihnen setzen, ihnen beim Leben zusehen. Äpfel werden auf die Bühne geschleudert und später ein paar Totenschädel.
Ins Irdische überhöht
"Immer noch Sturm": Der Titel spielt auf Shakespeares "König Lear" an, auf den alten Mann in der Heide, und zugleich auf den Weltkrieg, auf die Zeit, als die slowenische Minderheit in Kärnten, der Peter Handkes Familie mütterlicherseits angehörte, vom großdeutschen Reich einkassiert und zu den Waffen gerufen wurde – oder sich entschließen musste, in die Wälder zu den Partisanen zu gehen. Eine Tante und ein Onkel gehen das Wagnis ein (das sich als das geringere herausstellt): Es ist der einzige bewaffnete Widerstand gegen das NS-Regime innerhalb der Grenzen des Reichs. Onkel Valentin, der "Schwerenöter" der Familie, und Benjamin, der jüngste Bruder, werden im Krieg fallen.
Es ist natürlich kein klassisches Drama, das Handke geschrieben hat, sondern ein autobiographisch getöntes Epos mit wunderbar ins Idealtypische überhöhten und dennoch lebensnah, irdisch wirkenden Figuren. Sie stecken in Kostümen, die dezent Trachtenelemente enthalten und zum Schluss hin immer farbenfroher und phantastischer werden (Elisabeth Strauß), und sie bewirken nicht einmal das erste Mülheimer Theaterwunder dieser Spielzeit: Man merkt an jeder Bewegung, an jeder Geste, wie sorgsam und wie liebevoll ihr Meister Roberto Ciulli dem unvergleichlichen Erzählton Handkes folgt und wie scheinbar unangestrengt er ihn zum Leben bringt.
Stiller Sturm
Viele wunderbare Details wären zu nennen. Wie Simone Thoma als Großmutter die großen Reden anderer mit einem koboldhaften Mienen- und Gestenspiel begleitet. Wie Rupert J. Seidl als Großvater donnert und wettert, dass es eine Freude ist, wie er im Brustton der Entrüstung seine Leute zurechtweist und sich bestimmte Wörter wie "Tragödie" und "Liebe" in seinem Haus verbittet, ganz zu schweigen von deutschen Eindringlingen und Sprachbesatzern wie "Schnürsenkel" oder "Kartoffeln". Wie die Mutter, Petra von der Beek, ganze Feldpostbriefe ihrer Geschwister auswendig hersagt und feststellt: "Ohne den Krieg hätten wir nie einander geschrieben." Sie ist in einer prekären Situation, denn ihr "Bankert" wurde in einer Liebesnacht im "Tigerwirt" zu Klagenfurt von einem Angehörigen der deutschen Wehrmacht gezeugt. Aus dem wird mal ganz was Besonderes, heißt es, ein Buchhalter! Volker Roos spielt den erwachsen und mittlerweile seinerseits alt gewordenen "Buchhalter" sehr distinguiert, freundlich, bisweilen ironisch distanziert.
© Christian Brachwitz
Was sich bei den beiden Pirandello-Abenden im letzten Herbst schon deutlich abzeichnete, wird an diesem hinreißenden Abend zur Gewissheit: Ciulli hat sich gewissermaßen neu erfunden. Er hat den Manierismus seiner Anfänge abgestreift, fallengelassen wie eine überflüssig gewordene Hülle: Denn eine Manier ist ja nichts anderes als eine Maske, ein Panzer. Wo das Theater an der Ruhr früher gelegentlich allzu selbstverliebt und ornamental die exzentrische Form pflegte (und dabei gewiss auch tolle Abende hervorbrachte), spürt es neuerdings ganz andere Kräfte: die des starken Textes und der nicht minder starken Schauspieler. Die Mittel, derer es sich bedient, sind einfach, aber nicht schlicht; ins Flache oder Beliebige driften sie nie ab. Jedes Detail ist hier genau durchdacht, aber dieser klare Stilwille wirkt an keiner Stelle prononciert. Von diesem Theater geht ein stiller Sturm aus: "Jetzt erst recht Sturm".
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Immer noch Sturm
von Peter HandkeÂ
Inszenierung: Roberto Ciulli, Bühne: Gralf-Edzard Habben, Kostüm: Elisabeth Strauß, Dramaturgie: Helmut Schäfer.
Mit: Petra von der Beek, Rupert J. Seidl, Albert Bork, Dagmar Geppert, Volker Roos, Simone Thoma, Klaus Herzog, Marco Leibnitz.Â
www.theater-an-der-ruhr.de
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Die Uraufführung von Peter Handkes Stück besorgte Dimiter Gotscheff im Sommer 2011 bei den Salzburger Festspielen. Nachgespielt wurde es im Januar 2012 von Dominik Günther im Badischen Staatstheater Karlsruhe
Geschichte wird von den Siegern geschrieben? Nicht bei Peter
Handke. In "Immer noch Sturm" zeigt er den Zweiten Weltkrieg aus Sicht
der unterdrückten Kärntner Slowenen. Jetzt hat Roberto Ciulli das Drama
adaptiert: als Totenkult mit Traumcharakter.
Es
war der einzige Partisanenkampf innerhalb des Dritten Reiches. 1941
schlossen sich im Bundesland Kärnten im Süden Österreichs Mitglieder der
slowenischen Volksgruppe zu bewaffneten Kadern zusammen. Bauern, junge
Frauen, aber auch zwangsrekrutierte Soldaten auf Heimatbesuch flohen in
die Wälder, um dem deutschen Militär Widerstand zu leisten. Ein Kapitel
des Zweiten Weltkriegs, dem Österreich nach der Kapitulation die
Unabhängigkeit verdankte - und das dennoch in Vergessenheit geraten ist.
Peter Handke,
69, hat diesen Freiheitskämpfern ein literarisches Denkmal gesetzt.
"Immer noch Sturm" heißt das Bühnenstück, mit dem der gefeierte
Dramatiker das Leben der Minderheitengruppe zu Kriegszeiten skizziert.
Handke, selbst unehelicher Sohn einer Kärntner Slowenin und eines
Wehrmachtssoldaten, schreibt seine Familiengeschichte auf. Und verwebt
geschickt Wahrheit mit Fiktion.
Das wortgewaltige Epos ist als Zeitreise konzipiert. Ein
namenloser Ich-Erzähler, unschwer als Handke zu erkennen, gedenkt der
verstorbenen Verwandten. Vor seinem geistigen Auge laden die Ahnen zum
Gespräch ein: Die Großeltern, die den kleinen Bauernhof beackern,
Patenonkel Georg, ein begnadeter Apfelzüchter, seine Brüder Valentin und
Benjamin, beide mit dem Drang der Jugend, die Heimat zu verlassen, die
finster dreinblickende Tante Ursula, von allen wegen ihrer tristen Art
ausgegrenzt. Und schließlich die eigene Mutter, "blutjung" und mit einem
Übermut gesegnet, der sie in die Arme eines Deutschen treiben wird.
Theater der Minderheiten
Eine Familie, deren Unrecht
darin besteht, "hier geboren zu sein". Hier, das ist das Jaunfeld in
Kärnten. Ein Tal zwischen den Saualpen und den Karawanken, unmittelbar
an der slowenischen Grenze. Eine "gottverlassene Gegend", wie
Finstertante Ursula sagt. Und dennoch genug Heimat, um sie gegen andere
zu verteidigen. "Lepa Koroska" nennen die Ahnen ihr Zuhause. "Schönes
Kärnten". Die weibliche Form im Slowenischen verwandelt das Land in eine
Geliebte.
Handke schildert die Ereignisse in fünf Kapiteln, spannt einen
Zeitbogen von 1936 bis in die fünfziger Jahre hinein. Der titelgebende
Sturm ist das Weltgeschehen, welches das Familienband kräftig
durchrüttelt. Die Onkel des Erzählers werden zum Militärdienst
einberufen. Zwei fallen an der Front, einer schließt sich den "Grünen
Kadern" an. Und steigt gemeinsam mit Tante Ursula zum Résistance-Kämpfer
auf. Eine Ausschmückung, die sich nicht mit Handkes Biografie deckt: Er
hatte keine Partisanen in der Familie, alle Onkel starben im Krieg.
Doch die dichterische Freiheit ist wichtig, um das schwere Los der
Kärntner Slowenen zu betonen. Nach dem Sieg hoffen die Kämpfer auf
Anerkennung von Seiten Österreichs - und werden erneut geächtet. So
kommt der einzige überlebende Onkel zu einem düsteren Fazit: "Wir haben
doch verloren. Sind kein Thema. Und auch kein Stoff zum Träumen."
Ganz anderer Auffassung ist Roberto Ciulli.
Der Intendant des Mülheimer Theaters an der Ruhr hat in seiner langen
Amtszeit ein Faible für Minderheiten entwickelt. Bereits in den
achtziger Jahren schuf er Kooperationen mit Darstellern aus Osteuropa
und dem Orient. In einer Zeit, in der sich die Theater hierzulande auf
den Westen konzentrierten, lud der Querkopf Gruppen aus Jugoslawien,
Usbekistan oder der Türkei ein. Und brachte deutschsprachige Werke auf
ausländische Bühnen.
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In den vergangenen Jahren war Ciulli, 78, mit dem
Handke-Stück "Kaspar" vermehrt in arabischen Staaten unterwegs. Führte
die Tragödie im Irak unter Saddam Hussein auf. Feierte Erfolge in Iran
beim Teheraner Fadj-Festival. Ebenso in Tunesien kurz vor dem Sturz von
Präsident Ben Ali, wo das große Interesse der Jugend bereits die ersten
Keime des "Arabischen Frühlings" ankündigte.
Bei solch einer Vorgeschichte verwundert es nicht, dass Ciulli
die Rechte für "Immer noch Sturm" erwarb. Für ihn stellt Handkes Text
"die ungeschriebene Geschichte" dar: Zeit-Passagen, die von der
machthabenden Gewalt eines Landes ausgeblendet werden, um die eigene
Ideologie zu stärken. "So wie die Faschisten im Italien der dreißiger
Jahre die römische Antike umgeschrieben haben", sagt Ciulli. Seine
Lehre: "Nur die Kunst kann den Rechtlosen eine Stimme geben."
Im Theater an der Ruhr soll Handkes Stück zum Traumerlebnis werden,
verkündet Ciulli. Das Bühnenbild, traditionsgemäß von Gralf-Edzard
Habben entworfen, zeige ein spärlich eingerichtetes Schlafzimmer. Der
Ich-Erzähler liegt im Bett, ein alter Mann in den letzten Zügen. Seine
Verwandten treten durch ein offenes Fenster ein, als eine Art
Totenwache, als Geister der Vergangenheit. Von der Kärntner Heidesteppe,
die Handke detailliert beschreibt, lässt Ciulli nichts übrig. "Die Erde
ist schon verbrannt", sagt er.
Joachim Lux empfindet Handkes Text als «eine Bewältigungsherausforderung für das Theater (...).» «Immer noch Sturm» ist kein Stück, kein Drama, kein Lesedrama, keine Prosa, sondern eine für das Theater gedachte szenische Erzählung.
Immer noch Sturm
von Peter Handke
Koproduktion mit den Salzburger Festspielen
Regie: Dimiter Gotscheff
Musik: Sandy Lopicic
Musiker: Matthias Loibner, Sandy Lopicic
Mit: Bibiana Beglau, Jens Harzer, Hans Löw, Heiko Raulin, Gabriela Maria Schmeide, Oda Thormeyer, Tilo Werner
Uraufführung im Rahmen der Salzbruger Festspiele am 12. August 2011.
Video und weiter Informationen Thalia Theater Hamburg
Warum ist „Immer noch Sturm“ nach Mülheim eingeladen?
Es ist ein großes, waidwundes „Ich“, das uns da im Papierschnitzelregen auf Kathrin Bracks weiter, leerer Bühnenflur begegnet: Peter Handke selbst, respektive sein Alter Ego in Gestalt des grandios eigenwilligen Schauspielers Jens Harzer führt uns hinaus auf das Jaunfeld, jenes Gebiet der Kärntner Slowenen, aus dem Handkes Familie stammt. Hier lässt der Autor seine Vorfahren wieder lebendig werden – die Mutter, die Tante, die Onkel, die Großeltern –, beschwört ihre Geschichte, ihre Sprache, ihre von den Repressionen der NS-Politik bedrohte Kultur. Es waren die Kärntner Slowenen, die als einzige Volksgruppe im Zweiten Weltkrieg gegen Nazi-Deutschland bewaffneten Widerstand leisteten - Handke baut das mit ein in die Familiengeschichte -, doch Österreich hat ihnen das nie gedankt. Nach dem Krieg gehörten sie wieder zu den Randgruppen, wurden als Landesverräter im Dienst des kommunistischen Jugoslawiens verfolgt.
„Immer noch Sturm“ ist Peter Handkes persönlichstes, durchlässigstes Stück, ein traumatisch-dramatisches Gedicht, in dem sich Familien- und Weltgeschichte bitter verzahnen, das Private sich im Allgemeinen wie in einem historischen Vexierspiegel bricht und leuchtende Erinnerungen „auftanzen“ an eine untergegangene Welt. In einer Vielzahl von Stimmen und Spielszenen, denen Dimiter Gotscheff in seiner Inszenierung so viel Raum wie Empathie ge-währt, entwirft Handke ein großflächiges Panorama mit Blick auf die Verlierer der Geschichte. Das ist mit entwaffnender Leichtigkeit und einer schönen, fast heiteren Poesie geschrieben. Man fühlt sich zuhause an diesem wehmütigen Theaterabend, geborgen in der Sprache, die uns Menschen Heimat ist.
Christine Dössel
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«Geschichten der Verwüstung»Joachim Lux (Intendant Thalia Theater Hamburg) über Peter Handkes «Immer noch Sturm»
«Pleased to meet you» Theater heute 10/11 über Dimiter Gotscheffs Inszenierung von «Immer noch Sturm» am Thalia Theater Hamburg
-Handkes „Sturm“ im Staatstheater Karlsruhe
Immer noch Wurm
25.01.2012 · Matratzenlager für die Ahnen: Peter Handkes Stück „Immer noch Sturm“ kann in der Karlsruher Inszenierung trotz des starken Hauptdarstellers seine Poetik nicht entfalten.
Von GERHARD STADELMAIER
Zuletzt (und zuerst) sind wir diesem „Ich“ in Salzburg begegnet, beim Uraufführungsversuch von Peter Handkes großem dramatischem Gedicht „Immer noch Sturm“. In größtem Bühnenrahmen. Unter einem fünfstündigen Dauerregen grüner Papierschnitzel. In einer Art Familiengottesdienst. Ein missgelaunter, aggressiv in sich gekrümmter schwarzer Vitzliputzli-Wurm unternahm es da in Gestalt des Schauspielers Jens Harzer, die slowenisch-kärntnerischen Vorfahren dieses „Ichs“ zu beschwören: die Mutter, die Tante, die Onkel, die Großeltern. Sieben längst Tote, auferstanden in der Verlebendigungsphantasie eines Nachgeborenen, der sie nicht in der Geschichte untergegangen wissen will. Verlorene aus der slowenischen Minderheit, der aus ihrer alten Kultur, ihrer alten Sprache, ihren alten Liedern Vertriebenen, der einzigen Volksgruppe, die aktiven bewaffneten Widerstand leistete innerhalb Hitlers Reich, aber im Land Österreich, das auch auf Grund dieses Widerstands von den siegreichen Alliierten die Selbständigkeit zugestanden bekam, gleich nach dem Krieg sofort wieder zu den Verlierern und Unterdrückten zählte.
Handkes schön rhythmisiertes Prosa-Poem in fünf Teilen, die sich auch als fünf Akte begreifen lassen, ist ein lyrisch emphatisches Epitaph auf diese Welt der Verlorenen, die in Lieder und Tänze ausbrechen, in Ekel vor der Welt vergehen, den Weibern nachsteigen, Obstbäume züchten, Gott lästern, zu den Partisanen gehen (ein Onkel, eine Tante), die Deutschen verfluchen, aber (die Mutter) sich mit einem Reichsdeutschen einlassen, von dem dann dieser naseweise „Ich“-Bankert herrührt, der sich wieder in den Bauch der Mutter und in alle Familienbäuche und -bräuche zurückphantasiert. Das war in Salzburg: eine hehre Qual. In Kitschkrümmungen eines prätentiösen Wurms (Harzer). Unter Schnipseln, die keine Welt bedeuteten.
Jetzt sieht man in kleinstem Studio-Rahmen im Staatsschauspiel in Karlsruhe, das den neuen Handke als erste Bühne nachspielt, auf einer leicht nach vorn gekippten schrägen Fläche sieben Matratzen. Sieben Schaumstoff-Vertreter für die sieben Vorfahren des „Ichs“ im Bühnenbild von Heike Vollmer. Die Gartenbank auf dem slowenischen Jaunfeld, die dem „Ich“ als Erinnerungsbühne dient, ist hier ein altes Plüschsofa; der Apfelbaum mit seinen neunundneunzig Erinnerungsfrüchten ein Stehlampenskelett, in das ein paar Christbaumkugeln hineingehängt sind.
Solides Spaßhandwerk in der Regie
Das ist auch keine Welt. Sondern ein szenischer Witz. Mit Behelfszeichen. Aber das „Ich“, das hier unterm Gebraus von sechs Ventilatoren und einer großen Windmaschine, die schon den ganzen Sturm machen, auftritt, ist kein junger Spund, sondern ein aufrechter, schon etwas älterer, leicht kahlköpfiger Herr in hellem Anzug, dunklem Hemd und kurzer, gestreifter Spießerkrawatte. Der Schauspieler Ronald Funke spielt ihn ironisch, mit skeptisch kühlem, distanziertem Witz als leicht aus der bisherigen Lebensbahn gerutschten Neugier-Bürger, der nicht schlecht staunt, was er auf einer offenbar etwas überstürzt gebuchten Pauschalreise in die Familienvergangenheit alles erlebt.
Er tritt belustigt auf die Matratzen, testet ihre Festigkeit und ihren Federungskomfort und lässt dann die alten, tollen Geister für einen gemütlich bunten Abend los, die „Kinder seiner Liebe“, die er in gütig gewitztem Abstand und mit nüchterner Güte und schonungslos humanem Interesse umlauert, beobachtet und begleitet. Als Expeditionsreisender durch eine Ahnengalerie. Die Ahnenfiguren freilich werden vom Regisseur Dominik Günther, offenbar einem soliden Spaßhandwerker, nur angerissen, nicht ausgemalt. Keine Füllungen für Handkes penible Phantasien. Nur wasserfarbenbunte Pasticcio-Konturen. Auch hier wird sich gekrümmt. Immer noch Wurm statt „Immer noch Sturm“. In Salzburg krümmte man sich pathetisch von Handke weg, in Karlsruhe amüsanter. Man kommt ihm hier viel lustiger nicht bei.
Das Ich sollte sich selbst genug sein
Abgesehen davon, dass zu viel (Politisches, Soziales, Ethnisches) wegfällt und kein einziges Wort Slowenisch fällt und die Familie „We are family“ singt, mit den Armen hübsch fuchtelt und gern mit den Matratzen im Arm wild in der Gegend herumrennt, als wolle sie ihren symbolischen Stellvertretern auch mal einen Auslauf gönnen, sieht man: „Die Angerissenen“. Aber immer noch besser als „Die Plattgemachten“ (wie in Salzburg). Der Bruder Georg, erst pazifistischer Obstbaumliebhaber, dann Partisanenkommandeur: eine Art Che Guevara des Jaunfelds; mehr Mütze als Mann. Die Mutter, eine reizende Wuscheligkeit in Blond. Dass Jaunfeld-Bauern eine Art Goldmarie mit dem Prinzessinnen-Gen im Girlie-Tornister ihr eigen nennen, ist zu wenig des Märchenhaften, zu viel des Illustrierten. Und die Großeltern? Bei Handke ist der Alte ein Prophet und Weltuntergangsverliebter und die Alte ein Wunderwesen an Duldung und Hinnahme selbst der schlimmsten Nachrichten (wenn die Söhne im Krieg gefallen sind). In Karlsruhe sind sie ein ungerührt harsches, lieblos kaltes Komiker-Paar mit Sofa-Rutsch-Problemen und Raunz-Pointen.
Trotzdem findet die Aufführung in den Staun-Augen und im Wundersuch-Kopf des „Ich“-Spielers für Momente ihre poetische Phantasie-Ruhe. Wenn Ronald Funke gar nichts macht, nur ruhig spricht und die Sprachbilder wirken lässt, wird es lebendiger, als wenn die anderen sich in lauter reizenden Geschäftigkeiten verlaufen. Nach dem Salzburger Schnipsel- und der Karlsruher Matratzen-Ablenkung wäre es an der Zeit, dass das dritte Theater, das sich an diesen so gewaltigen wie schwierigen wie schönen Text machte, sich einfach einmal ganz auf den „Ich“-Kopf konzentrierte. Er ist Bühne und Bild genug. Je leerer der Raum um ihn herum, desto voller womöglich die Szene.
Die Salzburger Festspiele und ihre Folgenlosigkeit
18.08.2011
Theater, Musik und Politik
Befragt
von einem österreichischen Nachrichtenmagazin, das seine Seriosität mit
einer regelmäßigen Abteilung »Royals« unter Beweis stellt, sagt Peter
Handke über sein Stück Immer noch Sturm, das bei den Salzburger
Festspielen uraufgeführt wurde: »Es geht nicht nur um die Kärntner
Partisanen. Das ist ein exemplarisches Geschichtsleben oder
Geschichtssterben, das da erzählt wird. Es geht um die Sprache, die
genommen wird.« Von THOMAS ROTHSCHILD
Was
veranlasst Peter Handke zu dieser Relativierung? Ginge es in seinem
neuen Stück tatsächlich nur um Sprache, wäre es sehr dünn. Über den
Verlust, den Raub der eigenen Sprache haben Exilierte und Repräsentanten
von nationalen Minderheiten, Immigrantenkinder und Linguisten schon
Bedeutenderes und Differenzierteres gesagt und geschrieben. Handkes
frühes Stück Kaspar ist, wo es um Sprache als Thema, um ihre identitätsstiftende und ihre gewalttätige Wirkung geht, Immer noch Sturm weit
überlegen. Die Bedeutung des aktuellen Textes liegt in seiner
Konkretheit, in der Thematisierung des slowenischen Widerstands in
Kärnten. Es bedarf nicht der Flucht in die Exemplarik. Der Fall für sich
ist im doppelten Sinne dramatisch genug. Einmal mehr zeigt sich, dass
ein Text klüger sein kann als sein Autor. Handke geht mit dem zitierten
Statement hinter die Erkenntnis seines Stücks zurück.
Denn
nie zuvor war der in Kärnten geborene, als mürrisch oder gar weltfremd
geltende Autor auf der Bühne so politisch wie diesmal. Das heißt nicht,
dass er auf Poesie verzichtet hätte. Im Gegenteil. Aber Handkes Poesie
ist hier mit Substanz gefüllt, frei von jeglicher metaphysischen
Verblasenheit. Dichtung und Politik vereinen sich symbiotisch. Das geht
einigen Kritikern gegen den Strich. Bisher konnten sie den
Sprachequilibristen fein säuberlich vom Polemiker trennen, den einen
feiern und den anderen verdammen. Das ist diesmal nicht möglich.
Zugleich ist Immer noch Sturm Handkes persönlichstes Stück. Es
ist aus einer Verzweiflung heraus geschrieben, die im sehr langen
Schlussmonolog explizit gemacht wird und an der es nichts herumzudeuteln
gibt. Man muss sie dem inzwischen 68jährigen Handke abnehmen.
Ein
großer Teil der Zuschauer, professionelle Kritiker eingeschlossen,
fanden dieses Selbstgespräch unerträglich. Aber jedes darin enthaltene
Wort ist unverzichtbar. Dramaturgisch mag dieses Ende verunglückt sein.
Von seinem Mitteilungswert her ist es notwendig. Und dass Jens Harzer
dabei als Stellvertreter des Autors wie nachdenklich, als erfände er den
Text spontan, ohne zu »spielen« auf der Bühne auf und ab geht, mag
einfallslos erscheinen, hat aber seine durchaus stringente Logik. Im
Übrigen könnte man Harzer nicht übel nehmen, wenn er bei dieser
Textmasse die Fassung verloren haben sollte, nachdem irgend ein Idiot
nicht in der Lage war, sein Handy abzuschalten, und ein paar Zuschauer
aus den vorderen Reihen, denen es nicht nur an Geduld, sondern auch an
der ganz normalen Höflichkeit fehlt, den Raum lautstark verlassen
hatten. Sie fallen vor Schwätzern aus der Politik auf den Bauch und
hören sich bei Eröffnungen und Sponsorenempfängen jeden Käse an, aber im
Theater: von guter Erziehung keine Spur. Die bessere Gesellschaft hat
eben ihre Werte und Prioritäten.
Immer noch Sturm erzählt
am Beispiel von Handkes Familie vom bewaffneten Widerstand der Kärntner
Slowenen gegen die nationalsozialistische Gewaltherrschaft, dem
Österreich nach 1945 seine Unabhängigkeit verdankte. Denn 1943 war in
Moskau beschlossen worden, dass diese nach dem Krieg nur gewährt würde,
wenn es eben bewaffneten Widerstand seitens der einheimischen
Bevölkerung gebe. Diese historische Leistung wurde den Slowenen in
Österreich mit Verachtung und Diskriminierung heimgezahlt, wovon noch
der bis kürzlich anhaltende so genannte »Ortstafelstreit« kündet. Wer
sich, wie die Tante Ursula und der Onkel Gregor den Partisanen
anschloss, wurde im neuen Österreich nicht etwa geehrt, sondern als
Bandit beschimpft.
Der
Dichter tritt selbst als Figur auf. Ihm erscheinen die Mitglieder
seiner Familie, von denen zwei in seiner Vorstellung zu den Partisanen
gingen. Im Zentrum steht die Mutter, der er einst seinWunschloses Unglück gewidmet
hat. Wir lernen hier einen desillusionierten Handke kennen, der
einsehen muss, dass ihn die Erfahrungen zu einem Menschenfeind gemacht
haben, der er nie sein wollte.
Im
erwähnten Interview sagt Peter Handke auch: »Wir leben schließlich in
einer Epoche der Folgenlosigkeit wie noch nie.« Da hat er Recht. Die
historischen Ausführungen in seinem Stück sind nicht zu widerlegen, aber
sie werden keine Folgen haben. Bei der Salzburger Premiere saßen zwei
ehemalige österreichische Bundeskanzler im Publikum: Franz Vranitzky,
Sohn eines kommunistischen Eisengießers, der 1991 (!) als erster
offizieller Vertreter Österreichs die Mitschuld von Österreichern an den
Verbrechen des Nationalsozialismus eingestanden hat, und Wolfgang
Schüssel, der sich 2000 mit Hilfe des (nicht nur) für seine
Slowenenpolitik berüchtigten Jörg Haider zum Bundeskanzler machen ließ.
Die beiden dürften Peter Handkes Geschichtslektion sehr unterschiedlich
aufgenommen haben. Wird Wolfgang Schüssel die Kärntner Slowenen nun um
Vergebung bitten? Wird er darauf beharren, dass ihre patriotische
Leistung in den Schulbüchern gewürdigt wird, dass Bilder von Partisanen
an die Wand gehängt werden, wo noch Porträts des Austrofaschisten
Engelbert Dollfuß hängen? Nichts wird geschehen. Man wird Peter Handke
applaudieren, der Sprache, um die es nach seinen eigenen Worten geht,
aber politisch bleibt es bei der fatalen Folgenlosigkeit.
*
Am
Rande der Festspiele – ein Film von Norbert Beilharz über den großen
Kontrahenten Peter Handkes, den dieser nicht leiden kann, der aber
zumindest so sehr wie dieser zu Salzburg gehört: Thomas Bernhard. Eine
Hagiographie ist es nicht geworden. Gerne begegnet man dem
rätselhaftesten österreichischen Schriftsteller wieder, sieht man
Ausschnitte aus Inszenierungen seiner Theaterstücke. Ob es Absicht war,
zu zeigen, wie der Schauspieler Stefan Hunstein, der für sich eine neue
Interpretation der männlichen Rolle in Ritter, Dene, Voss beansprucht,
Gert Voss hemmungslos imitiert? Schöne Bilder begleiten die
Ausführungen aus dem Off illustrativ. Warum aber das Musikhaus Doblinger
in einer langen Einstellung gezeigt wird, wenn von der Wohnung oberhalb
des Cafés Bräunerhof die Rede ist, bleibt ein Geheimnis. Das
Traditionsgeschäft befindet sich zwar unweit von Bernhards Stammcafé,
aber eben doch um die Ecke, ein paar Häuser entfernt. Was andere über
Thomas Bernhard sagen ist nur zum Teil gescheit und aufschlussreich.
Daniel Kehlmann erinnert zutreffend daran, dass Bernhard 1975
Burgtheaterdirektor werden wollte – gewiss ein Kuriosum angesichts
seiner Sottisen gegen diese Institution. Doch Kehlmann behauptet auch,
Hilde Spiel, die Bernhard als Dramaturgin haben wollte, wäre bereits
gewesen, dafür aus England in ihre Heimat zurückzukehren. Hilde Spiel
lebte seit 1963 wieder in Wien. So entstehen Legenden.
*
Manche
Österreicher stießen sich daran, dass in Handkes Stück Schauspieler
ohne österreichische Sprachfärbung besetzt wurden. Claus Peymann war ja
nicht der Letzte, dem man in diesem chauvinistischen Land zum Vorwurf
machte, dass er das bekannte österreichische Wort »Chance« wie
»Schangse« ausspricht, und dem man deshalb die Eignung als
Burgtheaterdirektor absprach. Die Österreicher meinen freilich auch, sie
hätten Mozart und Richard Strauss und deren Interpretation gepachtet.
In
Wahrheit ist die Internationalisierung, außer beim Ballett, in keiner
Kunstform so weit fortgeschritten wie in der Musik. Es ist nicht so
lange her, dass man nur italienischen Sängern zutraute, Verdi, Bellini
oder Puccini zu bewältigen. Inzwischen hat die Russin Netrebko
angedeutet, dass sie Wagner singen wolle. Und im Gegenzug besetzte
Riccardo Muti Verdis Macbeth mit einen Serben, Lady Macbeth mit einer
Russin und Banquo mit einem Ukrainer. Die Solisten in Verdis ebenfalls
von Muti dirigiertemRequiem, dieser »italienischsten« aller
Totenmessen, stammen aus Bulgarien, Russland und Albanien. Zumindest die
beiden Damen und der wunderbare russische Bass, den man entgegen der
Konvention »lyrisch« nennen müsste, konnten es mit jeder italienischen
Besetzung aufnehmen. Wieder wurden Vorurteile widerlegt. Wird es Folgen
haben?
*
Es
ist merkwürdig: Wenn ehemalige K-Gruppen-Mitglieder, die einst die Welt
verändern und dabei in manchen Fällen all jene, die sie daran
hinderten, an die Wand stellen wollten, heute als wohl bestallte
Funktionäre des Goethe-Instituts, als Hochschulprofessoren, als
Journalisten bei angesehenen Medien, die einst bekämpfte Springer-Presse
eingeschlossen, oder gar als Ministerpräsidenten ihre tatsächlichen und
angeblichen Torheiten und Sünden bespötteln und dabei alle mit in den
Dreck ziehen, die, mit den Worten des Marquis Posa, für die Träume ihrer
Jugend Achtung tragen, wird das nicht nur verziehen, sondern sogar
anerkannt. Wenn aber Peter Stein seine frühen Regiearbeiten heute
ablehnt und Konzepte befördert, die zu diesen in krassem Widerspruch
stehen, dann wird er der konservativen Regression geziehen und
kurzerhand ins Abseits verwiesen. Sie mögen ja Unrecht haben, die
politischen Renegaten wie der gewandelte Künstler. Aber warum man dem
einen zum Vorwurf macht, was man bei den anderen als Einsicht lobt,
bleibt schleierhaft. Vielleicht liegt es daran, dass in der Politik
Anpassung dringlicher gefordert wird, während die Künste ohnedies nur
eine kleine Schar von Fans erregen, die wenigstens im Theater die
Revolutionsträume aufbewahren wollen, die ihnen draußen, im wirklichen
Leben, abhanden gekommen sind.
Peter Stein ist immer für eine Überraschung gut. Spätestens aber seit seinen Tschechow-Inszenierungen und seiner Orestie hat
er sich zu einer genauen Textlektüre mit fulminanten
Geschichtskenntnissen entschlossen. Ist das, vor dem Hintergrund einer
hirnlosen Aktualisierungswut, nicht schon wieder revolutionär? Was immer
man Peter Stein vorwerfen mag: ein Mangel an Intelligenz kann es nicht
sein. Nicht »Werktreue« ist reaktionär, sondern allenfalls ihre
Dogmatisierung. Noch reaktionärer jedoch ist ein Theater, das hinter dem
Erkenntnisstand eines Werks, das es missachtet, zurückbleibt.
Reaktionär ist eine Dummheit, die bedingungslos voraussetzt, die
Weisheit des Fernsehens oder der Popkultur oder die Dichtkunst eifriger
Dramaturgen, gar »Volkes Stimme« müsse einem Text der Vergangenheit
überlegen sein.
Ist
die heute allseits gestellte Forderung einer »stärkeren inhaltlichen
Anbindung an die politische und soziale Realität« wirklich der Weisheit
letzter Schluss? Neu ist sie jedenfalls nicht. So ähnlich hatten schon
die russischen Utilitaristen des 19. Jahrhunderts formuliert. Ließe sich
dem nicht entgegenhalten, dass die politische und soziale Realität nur
zu begreifen ist, wenn man ihre Entstehung, also ihre Geschichte kennt
und versteht? Und ist nicht das Theater der ideale Ort, diese
Geschichtskenntnis zu vermitteln? Übrigens: nicht nur und nicht in
erster Linie dem Bildungsbürgern, sondern jenen Unterprivilegierten, die
von der Schule mehr und mehr im Stich gelassen werden. Welche Form
dafür am geeignetsten erscheint, ist eine Frage der Ästhetik. Die aber
scheint in Vergessenheit geraten zu sein, wo nur noch von Netz,
Vernetzung und Netzgesellschaft die Rede ist, als gäbe es keinen
Unterschied zwischen den Künsten und außerkünstlerischen Phänomenen oder
als solle, dürfe es ihn nicht mehr geben. Hinter dem Postulat nach mehr
»gesellschaftlicher Relevanz« – auch dies nicht ein eben neues
Schlagwort – verbergen sich meist ein antikünstlerischer Affekt und
nicht zuletzt die Idee der Verwertbarkeit, also der Unterordnung unter
das kapitalistische Nutzenprinzip.
Bei Verdis Macbeth,
mit dem sich der siebzigjährige Riccardo Muti zum Abschied von der
Salzburger Opernbühne einen lange gehegten Wunsch erfüllt hat, hat sich
Peter Stein für ein Kostümtheater entschieden, das vielen Zuschauern
teils erfreulich, teils ärgerlich altmodisch erschien und in
größtmöglichem Kontrast zu Christof Loys Frau ohne Schatten steht.
Damit aber demonstrieren die Festspiele die Spannweite inszenatorischer
Möglichkeiten, die einander nicht ausschließen. Nicht Entweder-Oder,
sondern Sowohl-als-auch ist das einleuchtende dramaturgische Prinzip des
heurigen Programms. Die Herausforderung der Felsenreitschule mit ihrer
Panoramabühne hat Stein jedenfalls bewältigt, wenn er den
Massenchoreographien für Chor und Statisten Szenen gegenüberstellt, die –
etwa wenn Duncans Leiche aus dem angedeuteten Tor von Macbeths Burg auf
die Vorderbühne getragen wird – an das antike Theater, aber auch, mit
ihren der Oper angemessenen großen Gesten, an den Stummfilm erinnern.
*
In
einem Gespräch mit Luigi Nono im Jahr 1975 sagt der Musikpublizist Max
Nyffeler: »Wenn Ihre Oper vor dem Hintergrund solcher
Kommunikationsprozesse entstanden ist, so zeigt sich, wie unsinnig die
von der bürgerlichen Kritik aufgestellte Behauptung ist, man könne den
musikalischen Ausdruck des Werks von seiner politischen Haltung und der
Aussage des Textes trennen.« Im Programmbuch zum diesjährigen Fünften Kontinent der
Salzburger Festspiele lobt der selbe Max Nyffeler den 1987 gestorbenen
Morton Feldman für seine »Weitsicht«, mit der dieser vor der Politik in
der Musik, namentlich bei Nono warnte, der wolle, »dass jedermann sich
empört«. Hat sich Nonos Komposition in den vergangenen 36 Jahren
verändert? Nein, Max Nyffeler hat es, in schöner Übereinstimmung mit den
allgemeinen Tendenzen.
Zum
Glück aber ist die Kunst stärker als ihre konjunkturell schwankenden
Kommentatoren. Die acht Konzerte, mit denen Markus Hinterhäuser seine
Kontinent-Reihe abschließt, die viele zu Recht als Höhepunkt der
vergangenen fünf Festspieljahre betrachten, beweisen eindrücklich, dass
der Überbau in der musikalischen Praxis eine geringe Rolle spielt. Sehr
unterschiedliche Kompositionsauffassungen, sehr unterschiedliche Idiome
zeitgenössischer Musik können friedlich nebeneinander existieren, ja mit
einander in Dialog treten und sich wechselseitig nicht nur ergänzen,
sondern auch erläutern. Gemeinsam ist ihnen, dass Tonalität fast nur
noch marginal, als Zitat auftritt und die Klangfarbe gegenüber der
Melodie an Bedeutung gewonnen hat. Vielfach wird mit der Platzierung der
Musiker im Raum experimentiert und auch mit Lichteffekten. Es stellen
sich Bezüge her zum Konzert- und Opernprogramm jenseits des Kontinents, nicht nur stofflicher Art wie bei Macbeth, sondern auch musikalisch – etwa zur Alpensinfonie von Richard Strauss.
In den vergangenen Jahren war der Kontinent jeweils
einem maßstabsetzenden Komponisten der Nachkriegszeit gewidmet –
Giacinto Scelsi, Salvatore Sciarrino, Edgar Varèse und Wolfgang Rihm –,
diesmal wurden sie, mit Ausnahme von Rihm, noch einmal in Erinnerung
gerufen und umgeben mit weiteren bedeutenden Repräsentanten der Neuen
Musik. So konnte man – auch im Kontrast zu Verdis gleichnamiger Oper –
Sciarrinos fragilen Macbeth von 2002 neben Morton Feldmans modernem »Klassiker« Neither von
1977 hören, der sich, ganz im Geiste Samuel Becketts und mit der
fabelhaften Sängerin Anu Komsi, dem Verstummen annähert, Karlheinz
Stockhausens Klavierstücke aus den fünfziger Jahren, furios gespielt von
Marino Formenti, neben einer seiner ein halbes Jahrhundert später
entstandenen elektronischen Kompositionen, John Cage und Scelsi neben
Georg Friedrich Haas.
Ebenfalls im Rahmen des Fünften Kontinents war Continu von
Sasha Waltz zu sehen, die im vergangenen Jahr mit einem Tanztheater zu
Rihms Musik begeisterte. Diesmal handelt es sich um eine Koproduktion,
die bereits im vergangenen Jahr in Berlin aufgeführt wurde. Deshalb hat
man eine hinten und seitlich geschlossene Bühne in der erforderlichen
Größe im Zuschauerraum aufgebaut und die überdimensionale Bühne der
Felsenreitschule ungenützt gelassen. Zudem stand nur eine Schlagzeugerin
zur Verfügung, der Rest der Musik kam vom Band. Dass diese Wiedergabe
kein Ersatz für ein Orchester ist, wurde schmerzlich deutlich bei
Varèses Arcana, die vor zwei Jahren just hier, bei den
Salzburger Festspielen, aufgenommen wurden. Eine verschenkte Chance. Die
Salzburger Festspiele mit ihrem üppigen État müssten es sich leisten,
einer Choreographin, die so gerne auf konkrete Räume reagiert, einen
Auftrag zu erteilen, damit sie sich der Herausforderung der
Felsenreitschule stellen kann, und zugleich ein Orchester bezahlen. Denn
das Tanztheater einer Sasha Waltz soll ja in diesem Rahmen zumindest
auch ein musikalisches Ereignis sein. Das war es nicht. Das Abenteuer
blieben die Körper. Der sechste Kontinent?
*
Dankbar
muss man Markus Hinterhäusers Musikprogramm und insbesondere seinen
»Kontinenten« auch deshalb sein, weil sie auf einem emphatischen
Kunstbegriff bestehen, der mehr und mehr verabschiedet wird: an den
Universitäten, wo eine praxisorientierte »Kulturwissenschaft« nach und
nach die Literaturwissenschaft ersetzt, das Kunstwerk, wenn überhaupt,
nicht mehr als ästhetisches Artefakt, sondern als Informationsquelle
betrachtet wird, am Theater, wo – wir wiederholen uns, weil die Not groß
ist und der Widerstand gegen den Ausverkauf nicht laut genug sein kann –
das »wirkliche Leben« Einzug hält und im Zeichen einer simpel
aufgefassten »Aktualität« die pure Doppelung des Bekannten auf alles
verzichtet, was darüber hinaus weist (und Anstrengung abverlangt): auf
die Utopie, auf das Fremde, auf das Gemachte. Dieser Tendenz folgte auch
das Salzburger Sommergespräch über Janáceks Oper Die Sache Makropulos,
in der es um eine Frau geht, die durch ein Elixier mehr als 300 Jahre
alt geworden ist, ohne zu altern. Auf dem Podium saßen neben Regisseur,
Bühnenbildnerin und Dramaturg der Inszenierung ein Genetiker und ein
Schönheitschirurg. Gerne hätte man etwas über das Verhältnis der
Theaterleute zur Musik, über ihre theatralische Einstellung zu der
fantastischen literarischen Erfindung Karel Capeks, auf dessen Drama das
Libretto beruht, kurz: über ästhetische Erwägungen erfahren.
Stattdessen war von ewiger Jugend und Operationen die Rede. Wenn Wim
Wenders einmal meinte, die Amis hätten unser Unterbewusstsein
kolonialisiert, so gilt das mehr noch für das Fernsehen mit seiner
kunstfeindlichen Ästhetik. In der Neuen Musik ist man davon weit
entfernt. Manchmal möchte man meinen: nur noch in der Musik.
*
Apropos
Folgenlosigkeit: Seit 1997 nehmen die bis dahin ausschließlich Männern
zugänglichen Wiener Philharmoniker theoretisch Frauen auf. In der Praxis
sind Frauen in dem Orchester heute noch eine (bei einem Blick auf die
Bühne: buchstäblich verschwindende) Minderheit. Bereits 1996 hatte der
damalige Kunstminister Rudolf Scholten laut über eine Subventionskürzung
nachgedacht, wenn sich die Philharmoniker nicht an den
Gleichheitsgrundsatz, also an das Gesetz halten. Was hindert die
Politik, bei den Philharmonikern das Diskriminierungsverbot
durchzusetzen und jene Frauenquote zu erzwingen, die sie anderswo
rhetorisch fordert? Mit den Subventionen – also Steuergeldern, die von
Frauen und Männern bezahlt werden – hätte sie ein Druckmittel in der
Hand.
Könnte
es daran liegen, dass potentielle Philharmonikerinnen keine relevante
Wählergruppe sind? Oder lässt das Interesse an der Gleichstellung von
Frauen bei Politikern rapide nach, wenn ihre Töchter nicht die Flöte
blasen und sie nicht gerade ein Gspusi mit einer Bratschistin haben?
Auch die Frauen unter ihnen verhalten sich in Sachen Philharmonikerinnen
unüberhörbar still. Das kommt: sie sind unmusikalisch, und Gesetze sind
ihnen ohnedies nur eine Lachnummer. Frauen im Management stehen ihnen
näher als Frauen im Orchester. Denn wenn sie aus der Politik ausscheiden
(müssen), werden sie in die Wirtschaft wechseln, nicht in die Kultur.
Was sie nicht selbst betrifft, ist ihnen egal. Wie das Schicksal der
Kärntner Slowenen. Wie viele von ihnen sind schon Slowenen? Und wie
viele stammen aus Familien, deren Mitglieder bei den Partisanen gegen
die Nationalsozialisten kämpften? Man darf Töchter und Söhne, Enkelinnen
und Enkeln nicht für ihre Großeltern verantwortlich machen. Aber wenn
diese Nazis waren und jenen die Slowenen schnurz sind, darf man einen
Zusammenhang unterstellen.
Immer noch Sturm – In Karlsruhe kitzelt Dominik Günther die Wut aus Peter Handkes großem Erinnerungstext
Vom Winde belebt
von Otto Paul Burkhardt
Karlsruhe, 22. Januar 2012. Das Jaunfeld, jenes Gebiet der Kärtner Slowenen, aus dem Peter Handkes Familie stammt, ist für den Autor mehr als ein Landstrich. Ein Ursprung, ein Fluchtpunkt, ein mythischer Ort. Ein Raum, in dem für kurze Zeit eine Geschichtsutopie aufschien: der kollektive Widerstand einer ganzen Volksgruppe gegen das Nazi-Regime. Hier lässt Handke seine Vorfahren wieder lebendig werden, "auftanzen", wie er es nennt. "Immer noch Sturm" heißt dieser in Salzburg 2011 uraufgeführte Text, in dem der Autor Ahnenbeschwörung betreibt – Ich-Suche und Weltgeschichte greifen ineinander.
Spurensuche statt Schneegestöber
In Dominik Günthers Karlsruher Zweitinszenierung geht es vorwiegend prosaisch zu. Keine Folklore, keine Nostalgie, kein erinnerndes Raunen. Es ist, als ob Günther größtmögliche Distanz zur poetischen Atmosphäre der Uraufführung herstellen will (bei der Regisseur Dimiter Gotscheff ununterbrochen Papier-Schnee auf die Bühne herabrieseln ließ). In Karlsruhe machen sieben profane Ventilatoren viel Wind auf der Bühne. Und die vom Autor heraufbeschworenen Ahnen sind zunächst nur in Gestalt von sieben alten Matratzen präsent, die Handkes "Ich"-Figur wie Totenbetten nebeneinander reiht.
Wenn das mal kein Kontrastprogramm ist: In Salzburg schwebte die Geschichte als fünfstündiges "Traumspiel" vorüber, als entrücktes Schneekugel-Märchen, und in Karlsruhe macht Dominik Günther eine herbe, mit viel szenischem Aktionismus illustrierte Spurensuche daraus. Keineswegs heimelig und schon gar nicht in jenem hochtönenden Zelebrierton, den viele Handke-Exegeten ihrem verehrten "Meister der Dämmerung" gerne zuordnen.
Handkes heiliger Zorn
Was Günther damit zeigt: Es steckt viel Wut in diesem Text, der eher eine riesige Textfläche ist. Handkes heiliger Zorn – als Sohn einer slowenischen Mutter und eines deutschen Soldaten – entzündet sich am Schicksal der Kärntner Slowenen, die als eine der wenigen Volksgruppen in Europa den bewaffneten Widerstand gegen Nazi-Deutschland wagten. Doch statt als Sieger standen sie bald als Verlierer da, als ungeliebte Randgruppe in einem Staat, der ihnen gerade mal zweisprachige Ortstafeln zugesteht. So träumt sich der Autor Handke biographische Freiheiten in den Text: Von drei slowenischen Onkeln (zwei fielen als zwangsrekrutierte Wehrmachtssoldaten, einer wurde Gemeinderat für die rechtspopulistische FPÖ) dichtet er einen zum Partisanenkämpfer um. Wunsch und Wirklichkeit verschmelzen.
Erinnerungskämpfe: Robert Besta (Gregor) und Ronald Funke (Ich). © Felix Grünschloss
Der Autor ist auf der Bühne als "Ich" präsent – Ronald Funke spielt diese Figur als nicht mehr ganz jungen Mann in hellem Anzug, als aktiven Erwecker, der seine Vorfahren wiederbelebt und mit ihnen spielt. Genauso oft steht Funke auch passiv-bedröppelt da, als Statist am Rande der Szene, bespöttelt als "Trottel" oder "Wechselbalg", als Youngster, mit dem die Ahnen auch schon mal recht grob umspringen.
Vom Obstbauern zum Partisanen
Über weite Strecken tappt Günther in die Naturalismus-Falle und bietet szenische Illustrations-Häppchen. So muss Onkel Valentin (Jonas Riemer), der einzige aus der Sippe, der Englisch kann, als hechelnder Sexmaniac auftreten. Und Benjamin (Thomas Halle), der jüngste der drei Onkel, muss kurze Hosen tragen und seinen "Heldentod" mit wilden Zuckungen beglaubigen. Wenn die Verwandtschaft nach langen Ausführungen des Handke-"Ichs" nur verständnislos im Comic-Unisono "Hä?" fragt, mag das noch als witzig-erhellende Beigabe durchgehen. Eher albern wirkt es, wenn die Sippe auch noch "We are Family" groovt.
Viel berührender agiert die Regie dann, wenn sie den Untertitel "Traumspiel" ernst nimmt. Wenn Onkel Gregor, der sich bei Robert Besta vom braven Obstbauern zum gnadenlosen Partisanen-Chef verhärtet, von Hinrichtungen berichtet – und seine Rede sich auflöst in einen leisen, hohen, langgezogenen Klageschrei. Oder wenn die Regie seinen Monolog zu Kriegsende und Befreiung mit gespenstisch nachhallenden Trommelgeräuschen grundiert.
Mit euch komme ich zur Besinnung
Gegen Ende verdichtet sich Günthers Inszenierung zu starken Momenten. Während die Salzburger Uraufführung in einem langen, melancholischen Monolog Jens Harzers auslief, inszeniert Günther in Karlsruhe diesen Schluss als Pas de deux, als Dialog, als Wort-Ping-Pong zwischen Handkes Lieblingsonkel Gregor und dem Autor-"Ich". Die Ventilatoren machen Wind und erzeugen ein tiefes, unheimliches Brummen: Ja, es ist "immer noch Sturm", das "Ich" muss kräftig dagegen anbrüllen, und die Geschichte ist nichts anderes als "der Teufel in uns". Ein Satz Gregors kann als Credo der Karlsruher Inszenierung gelten: "Du hast kein Recht zum Märchen."
Was bleibt? Immerhin das Verdienst, dass diese Kurzfassung keine "Einfaltspinselbilder" liefert. Was aber fehlt, wiegt schwer: Die Aura eines "Traumspiels", die milde Ironie und die Weite des erzählerischen Raums. Das vermag die stark verknappte Version nicht zu vermitteln. Immerhin gibt sie dem Text jene Wut zurück, die diese Suche nach dem eigenen Leben im Leben der Vorfahren zusammenhält. "Mit euch komme ich zur Besinnung", sagt Handkes "Ich". Wie einer, der außer sich geraten ist. Wie einer, der außer sich war.
Immer noch Sturm
von Peter Handke
Regie: Dominik Günther, Ausstattung: Heike Vollmer, Musik: Jan S. Beyer & Jörg Wockenfuss, Dramaturgie: Tobias Schuster
Mit: Ronald Funke, Cornelia Gröschel, Lisa Schlegel, Timo Tank, Robert Besta, Jonas Riemer, Sophia Löffler, Thomas Halle.
www.staatstheater.karlsruhe.de
"Die Angerissenen", also die nur angerissenen Figuren, die man in Karlsruhe sehe, seien immer noch besser als "Die Plattgemachten" bei der Uraufführung in Salzburg, so Gerhard Stadelmaier in einer ausführlichen Besprechung in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (24.1.2012). Zwar fehle der Inszenierung von Dominik Günther, dem "soliden Spaßhandwerker", viel: Politisches, Soziales, Ethnisches sowie die Slowenische Sprache. Doch wenn Hauptdarsteller Ronald Funke "gar nichts macht, nur ruhig spricht und die Sprachbilder wirken lässt", dann gebe es einige poetische Momente. Und für die Zukunft wünscht sich Stadelmaier eine Inszenierung im leeren Raum, die sich auf den "'Ich'-Kopf" und den gewaltigen, schönen Text konzentriert.
Andreas Jüttner freut sich in den Badischen Neuesten Nachrichten (24.1.2012), dass die Inszenierung im kleinen Studio gespielt wird, wodurch es auch feinste Nuancen des Schauspiels wahrzunehmen gebe. Durch das ansonsten schnörkellose Spiel komme die Vielschichtigkeit des Textes zu tragen, der auch "eine Selbstbefragung, ein doppeldeutiges Verschanzen der Wahrheit hinter einer poetischen Offenlegung" ist. Im durchwegs starken Ensemble zeige allenvoran Ronald Funke "Kabinettstückchen subtiler und souveräner darstellerischer Ironie", was trotz einger Längen zu einem intensiven Abend führe.
as Glück des Eigensinns
04.10.2011 | 18:22 | BARBARA PETSCH (Die Presse)
Nach Salzburg und Hamburg hatte „Immer noch Sturm“ in Wien
Premiere: Ein erstklassiges Ensemble träumt und tanzt im sanften
Blätter-Wirbel. Es gilt als Handkes persönlichstes Stück.
Nach einem Handke-Abend scheint vieles banal, was sonst auf der Bühne zu
sehen ist. Seit Montagabend ist „Immer noch Sturm“ von den Salzburger
Festspielen und dem Hamburger Thalia-Theater in Wien angekommen, leicht
gekürzt, aber ohne Substanzverlust, dargeboten von einem blendenden
Ensemble. Nur dreimal spielt die Burg die Uraufführung, erst im März
wird „Immer noch Sturm“ wieder aufgenommen. Das wirkt angesichts der
stark akklamierten Premiere kleinmütig.
„Das ist es, jetzt bin ich endlich hier!“ So beschreibt Handke in dem
gemeinhin als Serben-Verteidigung gelesenen Buch „Abschied des Träumers
vom Neunten Land“ (Suhrkamp) das Gefühl der Heimatlichkeit in Slowenien.
Er wendet sich gegen den jedem Touristen bekannten „Schwafel und
Schwefel entseelter Folklore“, freut sich am Reim-Paar
„Kindlich/Unüberwindlich“ und behauptet – im Gespräch mit Ulrich Greiner
(„Zeit“) – die Position des Dichters als priesterlicher, wenn nicht gar
göttlicher Offenbarer. Mit diesen Ansätzen ist schon viel über „Immer
noch Sturm“ gesagt, das aber auch allerlei literarische Bezüge hat, von
der antiken Tragödie über Goethe („Ihr naht Euch wieder, schwankende
Gestalten“) bis zu Nestroy (Aus dem Häuptling Abendwind in Nestroys
eminent böser Staats-Satire wird bei Handke Häuptling Morgenwind).
Möglich, dass der Handke-Spezialist Claus Peymann mehr schrägen Witz aus
„Immer noch Sturm“ geschlagen hätte, aber die beiden Herren haben sich
zerstritten. Zum Zug kam Dimiter Gotscheff, Bulgare, in der DDR
sozialisiert, fester Regisseur am Deutschen Theater in Berlin. Der Mann
scheut nicht Emotion, Sentimentalität, und das ist nicht das einzige
Gute, was er dieser Inszenierung gab, die durch eine glasklar
durchkomponierte sprachliche Gestaltung besticht – sodass sich ein
skeptischer Habitué wunderte: „Es war gar nicht langweilig.“
Mit Jens Harzer als „Ich“ betritt das bisher beste Handke-Alter-Ego die
Szene. Das lustigste war sicher Philipp Hochmair in „Untertagblues“
(2000 im Akademietheater), ein Sixties-Wutbengel mit bewusst bizarrer
Perücke, aber Harzer bringt mehr Facetten: die gewittrige Wut, den
Eigensinn, das ländlich Schrullige, den nachdenklichen Intellektuellen,
der von seinen eigenen Emotionen mitgerissen wird zu mitunter wirren
Ausbrüchen, vor allem am Schluss – und das Kind, süchtig nach
Zärtlichkeit ebenso wie wissbegierig auf alles, was es zu durchschauen
gibt oder eben nicht. Allein Harzers knarzig-singende Stimme ist ein
Fest.
Alltagsthemen leuchten wie Elmsfeuer
„Immer noch Sturm“ gilt als Handkes persönlichstes Stück, aber so
persönlich ist es auch wieder nicht. Gefühle werden ins Poetische,
allgemein Gültige extrapoliert: Heimat, Kindheit („Ich“ dreht seinen
Lebensfilm zurück zum Anfang und verschwindet wieder im Mutterbauch),
Identitätsverlust eines Weltbürgers, Weltflucht, der Trost durch die
Natur. Das Werk ist ein Gleichnis.
Die Geschichte der Kärntner Slowenen, das ist die politische Komponente,
wird hier mit Zorn und Eifer aufbereitet – als ein Symbol für den
Umgang mit Minderheiten in einer von Utilitarismus und
Wirtschaftsinteressen gelenkten Welt. 1936 ist die rurale Idylle der
Handke-Vorfahren noch einigermaßen intakt, noch einmal gibt es eine
kurze Phase der Euphorie nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, doch die
meiste Zeit klammern sich die Akteure wie Schiffbrüchige an Schimären.
Aus abgedroschenen Alltagsthemen wie Vergangenheitsbewältigung,
Minderheitenprobleme, zaubert der Dichter Elmsfeuer. Es ist immer wieder
erstaunlich.
Die Aufführung, die auf einer fast leeren Bühne in sanftem
Blätter-Wirbel stattfindet (Bühnenbild: Katrin Brack), folgt dem
Traumtanz des Textes. Bibiana Beglau ist die bei Handke des Öfteren
auftauchende wilde Frau als Alter Ego, Spiegel und Abspaltung: Mit
mächtiger Stimme erfüllt ihre stets vom Leben enttäuschte Ursula,
„Snežena“ (die Schneeige) den Raum; Oda Thormeyer gibt die lebenslustige
Handke-Mutter, deren leichter Sinn von den Zeitläuften unterminiert
wird, in der Wirklichkeit wählte sie den Freitod. Mit einem Schrei, der
durch Mark und Bein geht, verabschiedet sich die weißhaarige Großmutter
(Gabriela Maria Schmeide) vom jüngsten Sohn Benjamin (Heiko Raulin), der
im Krieg fällt. Hans Löw ist der Bonvivant Valentin. Tilo Werner spielt
den Obstbau-Spezialisten Gregor, den ältesten der Brüder, Matthias Leja
den markigen Großvater, in dessen Haus von Liebe nicht die Rede sein
darf. Alle diese Figuren haben wohl etwas von Handke – dem sie
gönnerhaft eine Zukunft als Autor oder Kassier prophezeien, was
Heiterkeit erweckt.
Vier Stunden gewaltiger Dichtkunst ereignen sich im Burgtheater.
Irgendwann einmal wird „Immer noch Sturm“, das hier gewiss von der
Abstraktion profitiert, vielleicht mit Kärntner Slowenen als
Original-Akteuren gezeigt werden, das Ergebnis könnte mindestens ebenso
spannend sein. Die Gegenüberstellung von Handkes „Fahrt im Einbaum oder
Das kurze Stück zum Film vom Krieg“, in Peymanns edler Regie 1999 im
Burgtheater zu sehen – und, erdig-roh, 2004 in der Gruppe 80 –, war
äußerst lohnend. Mehr Großmut für Handke, bitte.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.10.2011)
--
Aufstand gegen die Wirklichkeit
Von Petra Rathmanner
- "Immer noch Sturm" gilt als Peter Handkes "vielleicht bestes Stück".
- Ein Werk über die Partisanenkämpfe der Kärntner Slowenen.
- Handkes Bühnendebüt vor 45 Jahren mit "Publikumsbeschimpfung".
Die Burgtheater-Besetzung (v. l.): Matthias Leja (Mein Großvater), Gabriela Maria Schmeide (Meine Großmutter), Bibiana Beglau (Ursula, "Snežena") und Heiko Raulin (Benjamin).
Wien. Wie ein Tagtraum beginnt dieses Stück. Ein namenloser Ich-Erzähler erinnert sich darin an sein Zuhause: Da sei eine Heide, sagt er, dort ein Apfelbaum und eine Sitzbank, auf der er oft mit seiner Mutter gesessen habe. Jäh tauchen die Vorfahren des Vortragenden auf, wie Geistererscheinungen betreten sie die Bühne - und die Handlung nimmt ihren Lauf.
"Immer noch Sturm", Peter Handkes jüngstes, traumhaft anmutendes Stück, wurde bei den diesjährigen Salzburger Festspielen uraufgeführt; die Koproduktion mit dem Hamburger Thalia Theater feiert nun am Montag, den 3. Oktober, am Wiener Burgtheater Premiere. Die knapp fünfstündige Inszenierung in der Regie Dimiter Gotscheffs wurde kontrovers aufgenommen, der Stücktext jedoch fand einhellig Zustimmung: Es handle sich, so die renommierte "Süddeutsche Zeitung", um das "wichtigste und vielleicht beste Stück" des Schriftstellers, der in der Vergangenheit verlässlich eindrucksvolle Beweise seiner Streitbarkeit lieferte.
Handkes Suche nach seinen Vorfahren
Stücke ohne Konventionen: Autor Peter Handke.© APA
"Immer noch Sturm" ist die literarisierte und dramatisierte Suche Handkes nach seinen Vorfahren, slowenische Kleinbauern in Kärnten, in dem Stück koppelt er die Familienerkundung mit der Historie der Partisanenbewegung.
Die Kärntner Slowenen leisteten im Zweiten Weltkrieg erbitterten Widerstand gegen das Nazi-Regime: Von Kämpfen in den Wäldern, vom Leid der Hinterbliebenen, von brutaler Verfolgung der Partisanen erzählt dieses Stück. Mit dem Thema betritt Handke politisch heikles Terrain: Nach Kriegsende war der verlustreiche Kampf der Aufständischen ein wichtiges Argument für die Alliierten, um Österreich schließlich die Souveränität zu gewähren - bis heute erfuhr der Widerstand der Partisanen jedoch keine offizielle Würdigung. Im Nachkriegs-Österreich wurde die slowenische Minderheit vielmehr unter Assimilierungsdruck gesetzt, ihr verbrieftes Recht auf zweisprachige Ortstafeln bis in die allerjüngste Vergangenheit verwehrt.
In "Immer noch Sturm" modelliert Handke aus zwei Brüdern seiner Mutter Mitglieder der Partisanen, was sie in Wahrheit nicht waren. Dem Autor geht es dabei nicht um private Heldenmythen, sondern um das - vom Autor äußerst gekonnt bewerkstelligte - Ineinanderfließen von Privatem und Politischen. "Man spürt förmlich, dass Handke diese Geschichte erzählen muss", so der Schauspieler Jens Harzer jüngst in einem Interview. Harzer wird in Wien als Ich-Erzähler, Handkes Alter Ego, zu sehen sein und als eine Art Spielleiter durch den Abend führen.
Prosadichtung ohne vorgegebene Dialoge
"Immer noch Sturm" ist, formal betrachtet, eine 160 Seiten umfassende Prosadichtung ohne vorgegebene Dialoge, Regieanweisungen und linearer Figurenentwicklung. Die Konventionen eines Wellmade-Plays haben für Peter Handke, Jahrgang 1942, ohnehin nie Gültigkeit besessen.
Sein Bühnendebüt mit dem umstrittenen Sprechstück "Publikumsbeschimpfung" feierte Handke vor 45 Jahren, die Uraufführung geriet seinerzeit zur Theatersensation und verhalf dem Jungautor zum Durchbruch. Geradezu planmäßig regten in Folge die Theaterarbeiten des gebürtigen Kärntners auf, Handke war der Dramatiker der Stunde.
1981 landete er mit dem dramatischen Gedicht "Über die Dörfer" bei den Salzburger Festspielen einen veritablen Flop. Es folgte eine mehrjährige Bühnenabstinenz des Autors, die erst durch Claus Peymanns Uraufführung von "Das Spiel vom Fragen" im Jahr 1990 gebrochen wurde, drei weitere Handke-Arbeiten an der Burg folgten; die Theater-Zusammenarbeit von Peymann und Handke ging auch nach dem Wechsel des Intendanten ans Berliner Ensemble nahtlos weiter. 2003 war dort mit "Untertagblues" erneut ein Wut-Monolog zu sehen, der in einem Punkt Ähnlichkeit mit "Immer noch Sturm" aufweist: Hier wie da mündet Handkes Theaterpoesie im Aufstand gegen die sogenannte Wirklichkeit.
Zitat aus "Immer noch Sturm": "Ihr Heutigen habt so viel mehr Zeit als wir Damaligen und macht so viel mehr Unsinn."
In die Berge
Den Blick nach unten heben: In Hamburg spielt das Thalia Theater Peter Handkes Stück »Immer noch Sturm«
Von Anja Röhl
Leben in der Schneekugel
Foto: Armin Smailovic
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Für sein
Stück »Immer noch Sturm« hat Peter Handke dieses Jahr den Wiener
Theaterpreis erhalten. Die Inszenierung von Dimiter Gotscheff erlebte im
August bei den Salzburger Festspielen ihre Uraufführung, nun ist sie im
Hamburger Thalia Theater zu sehen. Das Stück basiert auf einem Roman
von 2010, in dem Handke die Geschichte seiner Familie ab 1936 erzählt,
zwei Jahre bevor Österreich von Deutschland annektiert wurde. Handkes
Vorfahren lebten als Angehörige der slowenischen Minderheit in einem
kleinen Tal in Kärnten.
»Sturm«
ist eine Metapher für Wut, für die Notwendigkeit von Gegenwehr gegen
Diskriminierung und Unterdrückung, zu der sich einige Familienmitglieder
endlich entschlossen, aber auch für die Geschichte, die wie ein Sturm
über diese Familie hinwegfegte. Mit dem Bulgaren Dimiter Gotscheff hat
Handke einen außergewöhnlichen Regisseur gefunden, der sich nicht dem
Mainstream beugt und auf die Intensität der Figuren statt auf plakative
Wirkung setzt.
Bei
der Hamburger Premiere wirkt das Publikum auffällig reich und
saturiert, man kennt sich, grüßt sich, schüttelt Hände, trägt
Brillanten. Die Bühne ist schwarz. Auf sie stolpert langsam ein Mann am
Stock. Es handelt sich um die Hauptperson, im Programmheft ausgewiesen
als »Das ICH« . Ein Handke-Imago, schüchtern, etwas umständlich
sprechend. Der Erzähler. Eine Gruppe kommt ebenfalls hervor und stellt
sich in einer Reihe auf. Der Erzähler sagt: »Ich könnte ohne Probleme
den schon betagten Vater meiner Mutter geben.«
Dann
spricht er seine Mutter an: »Hilf mir, wo sind wir denn hier
eigentlich? Ist das die Heide, die Steppe, die Tundra?« Die Mutter:
»Auch ich habe dich nicht sofort erkannt, Vaterloser, Du, der du nie
dazugehört hast«. Wie sich herausstellt, hat seine Mutter ihn noch gar
nicht geboren, sie ist fast noch jugendlich. Ihr Bruder Valentin ist ein
Liebhaber US-amerikanischer Swing-Musik, ihr Bruder Gregor ein Experte
in der Apfelbaumzucht, und Benjamin, ihr jüngster Bruder, fast noch ein
Kind. Dazu die ungeliebte Schwester Ursula, die oft grimmig ist und auf
die Mutter des Erzählers eifersüchtig zu sein scheint. Die Eltern
sprechen slowenisch und sind anfangs sehr still.
Und
dann läßt der Erzähler den Stock fallen und wird zu einem schlichten
jungen Mann, der sich links an den Bühnenrand setzt und manchmal
erstaunt, manchmal liebevoll auf seine Figuren schaut. Manchnmal geht er
zu ihnen und berührt sie oder bewegt sich zwischen ihnen hin und her,
als sei er der Tote, der ihrem Leben aus einer fernen Welt zuschaut, wie
in Sartres Stück »Das Spiel ist aus«. Er ist aber der Lebende, der
zwischen den Toten wandelt.
Die
Familie lebt im Jaunfeld nahe der slowenischen Grenze, auf dem
väterlichen Hof. Die Forderungen der Österreicher erinnern an die
neuesten Integrationsthesen (»Lern erstmal Deutsch!«), die jungen Leute
in der Familie kommen dem nach und können mit der slowenischen Herkunft
nicht mehr viel anfangen. Die Mutter wird von einem Reichsdeutschen
schwanger, was allgemein als Schande erlebt wird. Für den Krieg werden
die Söhne zwangsrekrutiert, den einen verschlägt es nach Holland, den
nächsten nach Norwegen, der letzte kommt nach Rußland, die Mutter liest
dem Erzähler deren Feldpostbriefe vor: »Immer hat mir meine Mutter diese
Briefe vorgelesen«, sie liest einen Satz: »Gruß aus Holland, endlich
einmal keine Berge!« Und: »Wie langweilig ist der Krieg, wie viel
Sinnvolles könnte zu Hause getan werden«.
Dann
geht es Schlag auf Schlag, Telegramme treffen ein, die Söhne sterben,
die Eltern verzweifeln, der Vater verflucht das Ungeborene im Bauch der
Mutter, verflucht das Kleinkind, weil es von einem Reichsdeutschen
abstammt, einem aus der Mördertruppe in der »Mörderzeit«. Das Stück
kümmert sich um das passive Landvolk mit dem »Blick nach unten«, das
wegen seiner Sprache und des abgelegenen Wohnorts von den Österreichern,
erst recht von den einrückenden Reichsdeutschen als »Untermenschen«
verlacht, getreten, gedemütigt und bestraft wird. Doch es passiert, sie
wehren sich, sie gehen »in die Berge«, der Partisanenkampf beginnt, zwei
der Kinder, Gregor und Ursula, schließen sich an. Aus dem Apfelzüchter
Gregor wird ein ungerechter, kalter Führer. Doch als er vor Schwäche
zitternd bei seiner Mutter Zuflucht sucht, schickt sie ihn wieder zurück
»in den Schnee«, er soll weiterkämpfen in seinen Bergen, er soll
durchhalten und kämpfen für die Schwachen.
Die
Personen, die der Erzähler nicht gekannt hat, werden allein durch seine
Vorstellung rekonstruiert. Sie entwickeln sich allmählich und entfalten
stetig mehr Eigenleben, weshalb das Stück immer intensiver wird. So als
schälten sich die Familienmitglieder aus ihren Zeithäutungen heraus, um
dem Publikum näher zu kommen. Die Geschichte dieser Familie wird wie
ein Spiel im Spiel gezeigt. Und das ist hier die Kunst. So werden
viereinhalb Stunden tatsächlich nicht langweilig. Man kann es kaum
glauben.
»Immer noch Sturm«, Stück von Peter Handke, am 3., 8. und 9.10. wieder im Burgtheater Wien
KULTUR & LIVE
THALIA THEATER
Schwankende Gestalten inmitten eines Wortgewitters
19.09.2011, 07:30 Uhr
Viel Beifall gab es für Peter Handkes "Immer noch Sturm" am Thalia mit Jens Harzer in der Hauptrolle. Kein leichter Theater-Abend.
Jens Harzer in Peter Handkes "Immer noch Sturm"
Foto: dpa/DPA
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HAMBURG. Peter Handke, der österreichische Dichterfürst im "Pariser Exil", hat es schon immer mit seinesgleichen wie Shakespeare und Goethe gehalten. In seiner ausschweifenden Erzähltheaterprosa "Immer noch Sturm" setzt er sein Alter Ego wie König Lear auf der Heide dem Wortgewitter der Erinnerungen und dem Wind der absurden Weltgeschichte aus. Vor dem trüben Blick seines "Ichs", zelebriert von Jens Harzer, lässt der Autor dann wie im "Faust" die "schwankenden Gestalten" seiner Familie nahen. Die "Bilder froher Tage" und "der guten alten Zeit" weichen rasch dem Krieg, der auch in Handkes slowenischer "Sippe" Feindschaft und Fronten aufrichtet.
Nach der Salzburger Uraufführung feierte die Koproduktion des Thalia-Theaters mit den Festspielen eine minutenlang beklatschte Hamburg-Premiere: Der Applaus galt vor allem Harzer und dem großartig die Sprachtiraden lebensvoll in Figuren und Situationen transformierenden Ensemble.
Der Menschenfeind Peter Handke hat im Manieristen der Empfindsamkeit, Jens Harzer, einen wahren Seelenbruder gefunden. Was jener an pathoshoher und poetischer Sprachkunst aufbietet, übersetzt dieser in die Sprechkunst seines artifiziellen Singsangs, der die Worte bedeutungshell in der Schwebe hält. Erst im gerechten Zorn bei der langen Schlussabrechnung mit dem verlorenen Menschengeschlecht erdet sich Harzers Tonfall, der sonst in zweifelndem Sinnen vor sich hin irrlichtert.
Harzer ist dem Typus nach der geborene Außenseiter, gibt auch den Fremdkörper und Verfemten innerhalb der Familie. Er ist der Spielleiter dieses Kopftheaters, in dem die Figuren Gestalt annehmen für Handkes Requiem auf die getöteten und um ihren Sieg betrogenen slowenischen Partisanen in Südkärnten. Ihnen breitet Katrin Brack ein grünes Grabtuch aus: die "Frau Holle" unter den deutschen Bühnenbildnern, lässt fleißig blattfarbene Flocken schneien, bringt die Bewegung verrinnender Zeit in Dimiter Gotscheffs häufig statische Arrangements.
Der Redefluss oder das Chorsprechen animiert die Schauspieler - solistisch oder in Gruppe - zum Traben an die Rampe, zum Tanzen und Singen, begleitet von Akkordeon (Sandy Lopicic) und Drehleier (Matthias Loibner).
Gotscheff inszeniert Handkes Erzähltheater entschieden als Dichterfantasie, weicht so gewitzt politischen Fragwürdigkeiten aus. Er rückt die Menschen und ihren Überlebenswillen ins Zentrum, wobei einzelnen Schauspielern wie Oda Thormeyer (die Auslacharie!), Hans Löw, Tilo Werner oder Gabriela Maria Schmeide glänzende, weil unsentimentale Szenen gelingen. Kein leichter Abend, doch wer will es im Theater immer einfach haben?
Gefesselt von den Bildern der Erinnerung
Das Stück ist gerade mit dem Nestroy-Preis bedacht und sein Hauptdarsteller Jens Harzer von der deutschsprachigen Theaterkritik zum Schauspieler des Jahres gekürt worden. Dennoch war das Thalia Theater bei der Hamburger Premiere von Peter Handkes "Immer noch Sturm" nicht ausverkauft. Mag sein, dass der eine oder andere Scheu vor dem nicht einzuordnenden Stück mit einem schwierigen Thema - es geht um nichts weniger als die jüngere Geschichte Europas - und/oder vor dessen Länge von gut vier Stunden hatte. Und zugegeben: Man sollte ausgeschlafen und aufmerksam sein, denn Handkes Text ist ein Zwischending zwischen Erzähltext, Essay und Dialogpartien, in dem Zeitebenen und Orte verschwimmen und die einzige Konstante ein erzählendes Ich ist. Ein Ich, das träumt, sich an seine Vorfahren erinnert, mit ihnen spricht, sie untereinander agieren lässt und so die eigene Geschichte und gleichzeitig die Europas aufspürt. Peter Handke hat das alles zu einem wunderbaren Text gestaltet, Dimiter Gotscheff hat ihn in Koproduktion mit den Salzburger Festspielen zur Uraufführung gebracht.
Es ist schon erstaunlich, wie dieser große Regieveteran immer wieder neue Ideen entwickelt und es versteht, sein Publikum zu überraschen und in diesem Fall zu verzaubern. Zusammen mit einem durchweg großartigen Ensemble, Katrin Bracks poetischem Bühnenbild und den Musikern Sandy Lopicic und Matthias Loibner gelingt ihm ein kluger, magischer, ja unglaublicher Theaterabend, der vom Publikum frenetisch gefeiert wurde.
Wie aus dem Nichts kommt der Schauspieler Jens Harzer von hinten aus der kahlen Bühne. Unsicher ist sein Schritt, erst langsam verschärft das Licht seine Gestalt, bis er am Bühnenrand Platz nimmt und sich erinnert, sich erinnern muss, weil "es" ihn nicht loslässt. So lässt er die Vorfahren wieder auftreten: die lebenslustige Mutter (Oda Thormeyer), deren Geschwister Valentin (Hans Löw), Gregor (Thilo Werner), Benjamin (Heiko Raulin) und Ursula (Bibiana Beglau) sowie die Großeltern (Gabriele Maria Schmeide und Matthias Leja). Sobald sie erscheinen, beginnt es unaufhörlich grüne Papierschnitzel zu regnen, leise und sanft wie der Fluss der Erinnerung. Beleuchtet durch einen Kranz von Scheinwerfern schaffen sie einen unwirklichen poetischen Raum, der zudeckt und sowohl Schutz bietet als auch Gefahren birgt. Bühnenbild, Text, Spiel und die Musik , die den Erinnerungen der Vorfahren jeweils eine eigene Farbe gibt, verschmelzen zu einem wunderbaren Ganzen, das es sich unbedingt zu sehen lohnt.
Nächste Vorstellung:
Sonnabend, 24. September, 19 Uhr.
Karten 040 32814444; www.thalia-theater.de
Vom Ahnenkult zum Traumtanz
Wenn nach viereinhalb Stunden Theater ein sichtlich bewegter Peter Handke die Bühne der Halleiner Pernerinsel betritt und aus dem Publikum kollegialer Applaus von einem Claus Peymann kommt, dann liegt der Hauch eines historischen Moments in der Luft. Handke und ein überwiegend begeistertes Publikum erlebten Freitagabend mit der Uraufführung seines Werks „Immer noch Sturm“ so etwas wie eine Lebenswerkschau, kondensiert auf einen Theaterabend.
Handkes in Buchform bereits 2010 erschienener Text „Immer noch Sturm“ ist auf mehrfacher Ebene Geschichte - er ist Zeitgeschichte Österreichs und Kärntens des 20. Jahrhunderts. Und man darf sagen: im Schatten der so spät ausverhandelten Ortstafelfrage aktueller denn je. Und er ist Lebens- und Familiengeschichte des Autors selbst.
Einmal mehr ist es der Versuch, der eigenen Geschichte und Identität mit den Mitteln der Kunst, bei Handke die eigentümliche Erzähllust zwischen Epischem und Dramatischem, auf die Schliche zu kommen. Es geht um die (Wahrheits-)Macht der Erzählkunst, die wahre Biografie aus der Form des Traums und - wie Handke mittlerweile, etwa in einem Interview mit Ulrich Greiner, sagt - einen „Ahnenkult“.
APA/EPA/Barbara GindlJens Harzer, im Stück Alter Ego des Autors, holt die Mitglieder der Familie wie aus dem Nichts auf die Bühne
Mit den Vorfahren ins Gespräch kommen
„Ich möchte mit den Vorfahren ins Gespräch kommen“, sagt Handke, „weil das großartige Menschen waren, die zugrunde gegangen sind. Deswegen fühle ich mich verpflichtet, meinetwegen.“ Und wenn Handke „meinetwegen“ sagt, ist das mehr als ernst zu nehmen, denn dieser Autor mobilisiert seine Sicht auf die Welt und die daran gekoppelten poetischen Verdichtungen radikal, ja mitunter auch rücksichtslos aus den Bedürfnissen (und auch Zerrüttungen) dieses Ichs.
„Immer noch Sturm“ schließt an die großen Identitätsfindungstexte Handkes an: die Erzählung „Die Wiederholung“ (1984), aber auch „Mein Jahr in der Niemandsbucht“ (1994). Es geht um die Herkunft eines Kindes, mütterlicherseits aus einer slowenischstämmigen Kärntner Familie, das einen lange Zeit unbekannten deutschen Vater hat. Dessen Nähe muss sich das Kind in Briefform, also wieder über Texte, erarbeiten.
Die Gestaltungsmacht des Außenseiters
Einmal mehr forciert Handke in seinem Stück die Figur des Außenseiters. Das Ich, wie es auch in der Textvorlage heißt, betritt aus dunklem Raum kommend, die Bühne. Es sucht seine Zeit, der Ort ist mit dem Kärntner Jaunfeld klar umrissen. In einer Mischung aus antikem Theater und einer Art geisterhaften Familienaufstellung holt Handkes Ich-Figur seine Ahnen hervor. Das Ich setzt im Dunkeln die Sonnenbrille auf, damit das innere Auge dieses Teiresias zu sehen beginnt. Es gibt keinen realen Blick mehr, nur noch die Vorstellung.
Nähe ist zunächst Triebfeder dafür, dass bestimmte Menschen auf die Bühne kommen. Es ist die Familie der Mutter, die hier Gestalt annimmt: Großvater und Großmutter der Mutter - und die sehr ungleichen Geschwister. Drei Brüder und eine Schwester, die in Allem diametraler Gegensatz der Mutter ist.
APA/EPA/Barbara GindlRingen um den Rang in der Familie: Die Mutter des Erzählers (Oda Thormeyer) im weißen Brautkleid und die strenge Schwester (Bibiana Beglau), die zu den Partisanen ziehen wird
Gestalter und Beobachter
Immer ist es dieser eigentümliche Ich-Erzähler, der die familiären Ereignisse aufruft, die Personen in Szene setzt und in dem Moment, da sie selbst zu erzählen und zu handeln beginnen, zum Beobachter wird. Wie in einer Familienaufstellung sucht er die Nähe zu ganz bestimmten Figuren - vor allem zur Mutter, mit der ihn ein magisches, beinahe erotisches Moment verbindet (dargestellt von Jens Harzer und Oda Thormeyer).
APA/EPA/Barbara GindlFamilienaufstellung als Geisterspiel - Oda Thormeyer (links) in der Rolle der lebenslustigen Mutter
„Die Mutter wird mein Spiel nicht mehr mitspielen“
Die Mutter ist jener Teil der Familie, der am allerwenigsten in die bohrende Identitätsfrage verstrickt ist. Lebenslustig sucht sie in der Nazizeit den Anschluss auch an die „Schwaben“, gemeint sind die Deutschen. Wenn Thormeyer am Ende eines langen Solos die deutsche Hymne in stakkatoartigem Lachen zum Besten gibt, dann kehrt sie Teilen der Familie, nicht zuletzt dem Vater, den Rücken.
Aus der Gesamtzusammenschau des Werks von Handke weiß man, dass sich die Mutter diese Lebensleichtigkeit nicht erhalten können wird, und wenn der Erzähler zu Beginn des Stücks sagt „Die Mutter wird mein Spiel nicht mehr mitspielen“, so darf man auch an „Wunschloses Unglück“ denken und den Umstand, dass sie ihre Rolle nicht mehr erfüllen wollen wird.
Der Ich-Erzähler wiederum wird sich als nicht gewolltes Kind im Kreis seiner Familie liegen sehen. Und doch ist er in diesem Moment als Erzähler auch altersgleich mit den Brüdern der Mutter, die einerseits die Anpassung an die Mehrheitskultur üben (Valentin), oder aber den Einstieg in den Abwehrkampf (der Bruder Gregor) beschließen.
Anordnung mit Therapiecharakter
Als handelte es sich um eine therapeutische Familienaufstellung, wird der Ich-Erzähler die Geisterfiguren seiner Familie mehr als eng begleiten: Bestimmte Erfahrungen, vor allem seiner Tante Ursula (Beglau), der strengen Schwester seiner Mutter, die auch in den Partisanenkampf zieht, wird der Ich-Erzähler hinter der Person stehend „doppeln“.
Doch Einsicht und Erkenntnisse dieser Familienaufstellung sind schmerzhaft. Das Ende des Krieges wird die Situation einer marginalisierten Sprachkultur nicht aufwerten. Und dass die Slowenen zum organisierten Widerstand gehörten, wird ihren Platz in der Kultur scheinbarer Befreiung nicht sichern. Im Gegenteil.
APA/EPA/Barbara GindlEin Mann im Laub- und Textregen
Handke spricht nie dezidiert eine direkte Österreich-Kritik in diesem Text aus: Die Frage des Politischen löst er in der Grundsatzfrage seiner Kunst auf. Wie sehr erzeugt Sprache Wirklichkeit und welche Relationen zwischen Menschen, Kulturen und damit Identitäten macht sie möglich oder unterläuft sie?
Von der „Wirklichkeit jenseits der Worte“ ist symptomatisch für die ganze Kunstauffassung Handkes die Rede: Ohne die Macht der Benennung durch Sprache ist keine Wirklichkeit zu haben, letztlich bleibt sie aber jenseits der Sprache ungreifbare Utopie. Und eine Sprache nicht haben und sprechen zu dürfen, ist in diesem Zusammenhang wie das Erleben eines Gewaltakts.
Dieser Text ist eine Zumutung
„Dieser Text ist für das Theater eine Zumutung, aber so etwas brauchen wir“, hatte Dramaturgin Beate Heine vom Thalia Theater Hamburg im Vorfeld des Premierenabends gesagt. Das Theater stellte die Uraufführung zusammen mit den Salzburger Festspielen auf die Bühne.
Regisseur Dimiter Gotscheff hält sich sehr eng an die Vorlage des Handke’schen Texts, fast zu eng - der fast halbstündige Schlussmonolog, bei dem ein mehr als bravouröser Jens Harzer von der Handke’schen Textwucht und Assoziationslust beinahe erdrückt wird, hätte Streichungen vertragen.
Auf der anderen Seite erweist sich Gotscheffs Heiner-Müller-Erfahrung von der Berliner Volksbühnenzeit als Vorteil. Als hätte er mitunter einen Müller-Text in der Hand, forciert Gotscheff manche Auftritte der Figuren, etwa den Anfall des Großvaters, zu den reichsdeutschen Worten, die ihm „nicht ins Haus kommen“. In die Soli der Mutter baut Gotscheff geschickt Elemente der Revue ein - „Germania Tod in Berlin“ lässt grüßen.
Hinweis
Peter Handkes „Immer noch Sturm“ ist im Rahmen der Salzburger Festspiele auf der Pernerinsel in Hallein noch am 17.8., 18.8., 23.8., 24.8., 26.8. und 27.8. um jeweils 19.00 Uhr zu sehen. Parallel zur Theaterproduktion veranstaltet das Zweig Centre auf der Salzburger Edmundsburg einenHandke-Schwerpunkt.
Vier Stunden rieselt das Laub
Besonderer Glücksfall des Abends ist das Bühnenbild von Kathrin Brack, die mit ihrer vor allem von der Lichtführung im dunklen Raum getragenen Umsetzung allen Naturalisierungs-, aber auch Multimedialisierungsversuchen widersteht.
Vom dunklen Himmel rieselt über vier Stunden dauerhaft buntes Laub zu Boden, das im Lauf der Zeit einen Kreis bildet. In diesen Kreis wird der Erzähler immer wieder seine Ahnen hineinholen. Dieses riesenhafte Konfetti, das dauernd zu Boden schwebt, hat noch eine andere Note: Es stützt den Rhythmus des Handke’schen Texts und landet das gesprochene Wort mitunter sanft im Raum.
Peymann sollte Stück inszenieren
Ursprünglich war Claus Peymann als Regisseur für den Text vorgesehen, aber dann entschied sich Handke für Salzburg. Zudem stellt Handke ja die Bedingung, dass seine Bühnenwerke in Österreich uraufgeführt werden müssen.
„Es ist immer noch Sturm“ erzählt von der Unabgeschlossenheit der Auseinandersetzung mit der eigenen Biografie. Dennoch war dieser Abend wie eine Zusammenschau der Themen des Werks von Peter Handke. Der Autor selbst hat diese Themen an einzelnen Figuren aufgespannt und darauf geachtet, weiterhin im Raum zu bleiben. Die Rastlosigkeit wird bleiben. Es ist eben immer noch Sturm.
Gerald Heidegger, ORF.at
Leise rieselt das Weh
Salzburger Festspiele: Handkes »Immer noch Sturm«
Jens Harzer im Bühnenbild von Katrin Brack, Regie: Dimiter Gotscheff
Foto: dpa/Barbara Gindl
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Des Theaters berühmteste Landschaftsmalereien: der Baumkrüppel in Becketts »Warten auf Godot«, die Heide in Shakespeares »König Lear«. Nackte, letzte Gegenden. Letzte Gegenden sind auch mögliche erste. Was wächst, wächst auf Gestorbenem. Wir stehen auf Schultern von Toten. Ächzen sie? Sie lächeln: Allen Schmerz sind sie los – wie wir mit ihm umgehen, macht ihren Frieden aus.
Einer, »Ich« genannt, steht jetzt oder zeitlos, im kärnten-slowenischen Jauntal oder sonstwo – auf einer Heide. Bei einem Apfelbaum. Er tut das wunderbar Menschen-Mögliche: Er spricht mit Toten, seinen Vorfahren. Slowenen, die in Hitlers Krieg mussten, in diesem Krieg Österreichs Résistance waren und mit dem Frieden doch wieder in die Verlorenheit getrieben wurden; die Sprache geschmäht, der soziale Stand entwürdigt.
Handke baut ihnen einen Palast des unverlierbaren Gedächtnisses. Poesie ist hier Pflicht zur Zuversicht: dass dieser Bewusstbleibens-Palast jeden Sturm übersteht. Zuversicht: in Dimiter Gotscheffs Regie zwei Lichtkegel inmitten der Dunkelheit, aus der man kommt, in die man geht. Und ins Licht hinein schweben, ununterbrochen, gelbe, grüne Blätter auf den Boden der großen leeren Bühne von Katrin Brack. Farbiger Schnee. Flug-Blätter der Leichtigkeit, deren Botschaft eine schöne Illusion ist. Real dagegen: Leise rieselt das Weh.
Mit jedem seiner Stücke hat Peter Handke das Theater neu erfunden. So wie seine Romane keinen geläufigen Realismus von Handlung und Figurenzeichnung kennen, so ist sein Bühnenspiel nie landläufiges Drama. Er sinniert, schimpft, weissagt, predigt. Die Bühne ist Podium. Handke ist der Einredner, die Märchen haben ihn geschickt, er soll mitten unter uns versuchen, die alte Lüge durchzubringen: Die Dinge könnten, trotz allem, gut ausgehen. Sie gehen nicht gut aus. Uns ging das Herz aus. Wenn es schlägt, dann nur zurück. Wir nennen's Geschichte. Wir halten durch. Wir halten aus. Wir halten fest zum Krieg. Wir halten die Fresse. Nur eines tun wir nicht: innehalten.
Innehalten, das ist das große, schöne, einsame, gute, bittende, betende Hauptwort dieses Theaterstücks »Immer noch Sturm«, uraufgeführt bei den Salzburger Festspielen. Fast fünf Stunden.
Die familiären Vorfahren: Mutter (Oda Thormeyer), deren drei Brüder (Tilo Werner, Hans Löw, Heiko Raulin) und Schwester (Bibiana Beglau), Großvater (Matthias Leja) und Großmutter (Gabriela Maria Schmeide). Sie treten auf, treten ab, stehen in Reihe, kommen zum Manne »Ich«, kommen zu sich, geraten außer sich – denn sie leben ja plötzlich wieder, noch einmal also die hierarchischen Plänkeleien, noch einmal die Feldpostbriefe, die Todesnachrichten, noch einmal das Herausschreien der Liebe zum Bauernhof, des Hasses auf den Bauernhof, das Lob des Heims, der Ekel vor der Enge, das Schwelgen im bescheidenen Slowenischen, der Traum vom Reichwerden im Westen.
Jens Harzer ist »Ich«, der erzählende, beschwörende Zeit- und Raumdurchdringer, nein, kein Durchdringer, er ruft herbei, er umkreist, aber er ist freilich ein durch und durch Dringlicher – für jenes Verständnis von Geschichte, wie es, laut ausgesprochen, nur Schrei werden kann: So viel Leid, so viel Sterben, so viel Sinnlosigkeit. »Immer noch Sturm!« Das ist mehrfacher Schrei Harzers, gen Schluss hin; es ist die Ohnmacht, die da schreit. Eine warnende Ohnmacht ist es. Eine Beunruhigungsohnmacht. Worte sind es, die vielleicht eines Tages wieder Steine werden, wie Volker Braun schrieb.
Harzer, begabt mit einer wie von fernher angewehten, schleppenden, auf den Vokalen balancierenden, jeden Ton ins Fremde ziehenden Sprache, Harzer spielt nicht im hergebrachten Sinne eine Rolle; er sitzt, lauscht, geht zwischen seine Leute, greift eine Hand, wird stiller noch als still, wenn eine Berührung ihm gilt, er fasst Kleidungsstücke wie Reliquien, er ist alt, er ist jung, er setzt die Sonnenbrille auf (der junge Handke) und wieder ab, er stürzt hin, er hängt sich einen Bart um, als ertrage er die eigene Weisheit nur mit Ironie. Weisheit?, ja, tatsächlich hat diese Gestalt, dieser Dichter etwas aufhelfend Besser-Wisserisches, Weltschaffendes, das einem beim Zuhören den eigenen Kleinmut erkennen lässt; Handke, das ist Weihe-Spiel, und Weihe heißt: Den Geheimnissen, den Mysterien des Lebens sind nunmehr Worte gegeben, und du kannst sie verstehen; Handkes Poesie ist die so hochmütige wie demütige, ist die befohlen liebliche Ansprache eines Ausgewählten – gibst du dich dem wahrhaft hin, so ruckelst du nervös werdend auf dem Stuhl deines falschen Lebens.
Wie gesagt: Spiel möchte das wohl gar nicht genannt sein, was Harzer auf inständig monotone Weise treibt. Er adelt, er rettet, er umstrahlt ein Wort, das Gosse, Dreck, Fernsehdumpfheit wurde: Moderator. Er streunt, ist gütiger Platz-Halter der Gewesenen. Der Menschen, die uns dauern, weil ihnen im Leben eine Dauer verwehrt wurde. Jene Dauer des Profanen, das doch göttlich zu nennen wäre wie Musik. Im Essay »Abschied des Träumers vom Neunten Land« beschrieb Handke dieses dörflich, bäurisch, obstzüchterisch Profane: wenn die Dinge eine »gewisse herzhafte Unscheinbarkeit« haben und behalten dürfen, »eine Allerweltshaftigkeit: eben das Wirkliche, welches, wie nichts sonst, jenes Zuhause-Gefühl des ›Das ist es, jetzt bin ich endlich hier!‹ ermöglicht«.
In erwähntem Schluss-Monolog kommen Harzer die Fragen wie Fieberschübe, sie brechen aus ihm hervor, wie Schösslinge durch Harterde brechen – wundgestoßen schon beim ersten Anblick des Lichts. Er will leise bleiben und wird laut, windet sich, knarrt, trompetet, will sich wegducken vor der eigenen Aufgerecktheit. Überhaupt: Immer mal wieder schießen in dieser Inszenierung Zeigefinger nach vorn: Du da, ja du! Jetzt du! Und du! Nun zeigt uns Harzer auch, wie nah der Zorn, die Fassungslosigkeit am grimmigen Witz lagern – wie an einer letzten Quelle der Erfrischung, und Erfrechung. Ja, Harzers immer ein wenig müd und schwermütig schleichender Sprachklang offenbart einen galligen Humor. Die Liebe weint, aber die Verzweiflung kichert. Der Trost stottert, aber die harten Abgesänge lächeln. Hoffnung und Hoffnungslosigkeit verbindet eines: die Lachhaftigkeit.
Er sei requiemsüchtig, wird dem Erzähler von einem der Seinen bescheinigt. Liebevoll, vorwurfsvoll. Gotscheff ist es auch. Seine Poesie ist die des expressiven Totenchorals, er feuert Zuständigkeitsbefunde wie Pfeile ins Publikum, er trennt den Poeten Handke nicht vom Jugoslawien-Verteidiger, er wird mit der tiefernsten Unerbittlichkeit eines Exerzitienmeisters zum Freund dieser nicht endenden Verlierer-Hymne des Dichters. Gotscheff lässt stampfend tanzen, den Großvater in tiefster Trauer wie einen Säugling in den Schoß der Großmutter kriechen. Sein Trupp verbindet hochfahrende Autorität des Geformten mit der Natürlichkeit der ganz einfachen, kreatürlichen Lebenszeichen.
Bibiana Beglau ist Ursula, die Mutter-Schwester, immer fremd auf dem Hof, später Partisanin. Von Anfang an abgekehrt von allen, so ärmlich in ihrer zu kurzen Strickjacke. Diese Schauspielerin ist ein überwältigendes Darstellungstier. Von einer bannstarken Kraft der schaufelnden Hände, der hervortretenden Adern, des archaisch brachialen Schwungs. Sie lässt an die federnde, dann stählerne, auf jeden Fall manische Gezirkeltheit eines Ekkehard Schall denken – aber mit einem einzigen Heben des Kopfes oder eines tieferen, bebenden Atemholens leuchtet das Mädchen auf.
Tilo Werner zeigt mit seinem Mutter-Bruder Gregor, Obstzüchter, der auch zu den Partisanen geht, den erschütternd bösen Gleichmut der Zeit: die einen sanften Charakter erst auf der Kriegsdienst-Seite, dann auf der Widerstands-Seite zerstört. Oda Thormeyer ist die Mutter des Erzählers, er selbst ist Bastard, denn der Vater war ein deutscher Soldat. Thormeyer, im ewigen, vergeblichen Brautkleid, gibt das Porträt einer etwas plumpen, aber doch rührenden Sehnsucht; den Seelenhorizont nah an die Eingebungen der Schlagerschnulze gerückt, tapfer schamrot mit der Schande ihrer Liebschaft lebend, aber so doch Inbild einer Menschenkindlichkeit, deren Einfalt alle Rechte dieser Welt hätte. Wäre es nicht – diese, die verfluchte Welt. Über der Gotscheff, geradezu knallhart kurz, einen abschließenden Friedenstraum vom »Tausendvogelgesang samt Nachtigall« setzt. Die Zukunft der Vergangenheit, die unsere Gegenwart ist? Märchenauftrag grandios fühlsam erfüllt
Neues Handke-Stück in Salzburg
Vorfahrtsregelung für Vorfahren
„Immer
noch Sturm“ von Peter Handke ist voller Wunder und ein großes
dramatisches Gedicht über seine slowenischen Ahnen. Dimiter Gotscheff
macht daraus bei den Salzburger Festspielen nur einen
Familienschnipselgottesdienst.
16. August 2011
Und
was ist mit Frauen? – fragt die Mama ihren Sohn, und: Was liest du so?
Was besorgte Mütter ihre in die Jahre gekommenen Jungs halt so fragen.
Mit Frauen sei alles bestens. Und er sagt es so, als seien Frauen führ
ihn kaum mehr als bedrucktes Papier. Was aber die Bücher angehe, da
interessiere er sich jetzt ausschließlich für Geschichtsbücher. Und er
schwärmt von diesen Büchern, als seien sie die rätselhaftesten
Frauenwesen.
Die Mutterfrau, die vor ihm steht, lebt ja auch schon
lange nicht mehr. Ihre Brüder und ihre Schwester, die auch auftreten
und den nachfahrenden Neffen begucken und mit ihm plaudern, sind längst
tot, im letzten Weltkrieg gefallen, als Partisanen erschossen oder
einfach in der großen, weiten Geschichte verschwunden. Auch die
ebenfalls auftauchenden Großeltern kommen nur noch als
Geistererscheinungen in Betracht. Alle aber sind sie Figuren des
rätselhaftesten Geschichtsbuchs, das der alt gewordene Junge je zu lesen
unternimmt – dadurch, dass er es selber schreibt.
Aus vielen Schnipseln wird keine Geschichte: Jens Harzer und Oda Thormeyer in Handkes „Immer noch Sturm”
Es ist das Buch seiner Vorfahren. Er träumt, phantasiert, fühlt sich
zu ihnen hin. Sitzt, stellt er sich vor, auf einer Bank unter einem
Apfelbaum im Jaunfeld, einer schönen Gegend in dem südlichen Teil
Kärntens, der slowenisch ist. Die Familie heißt slowenisch Svinec. Der
Name wurde zwangseingedeutscht zu Bleier. Ihre Sprache, ihre Lieder,
ihre Bräuche wurden ihnen entweder ausgebleut, oder sie mussten sie
gegen „die Deitschen“ (die sie auch „die Schwaben“ nennen), gegen die
Nazis, später gegen die Deutschösterreicher widerständig durchsetzen.
Verlorene bäuerliche Unterschicht, Humusvolk im gelobten Land, das sie
nicht loben dürfen, ohne aufzufallen. Verwehte, Vergessene.
Die
Einzigen, die innerhalb der Reichsgrenzen offenen, bewaffneten
Widerstand gegen Hitler leisteten, aber im Land Österreich, das auch auf
Grund dieses Widerstands von den siegreichen Alliierten die
Selbstständigkeit zugestanden bekam, gleich nach dem Krieg schon wieder
zu den Verlierern zählten, von den slawischen Brüdern jenseits der
Grenzen verraten wurden, rechtlos, chancenlos waren. Das Schicksal der
Familie Svinec ist ein Beispiel, das über die Familie hinausreicht. Als
Exempel einer vergessenen Zeit. Deshalb gehört es in ein Geschichtsbuch.
Ehrlich, bescheiden, glaubhaft
Dieses Geschichtsbuch, das auch ein Geschichtenbuch ist, denn
Geschichten gehen mit Geschichte auch immer ein bisschen frei um (in
Wahrheit war niemand aus der Familie des Autors bei den Partisanen), hat
Peter Handke geschrieben. Es heißt „Immer noch Sturm“, ist in fünf
Teile geteilt, die als fünf Akte zu begreifen ein Irrtum wäre. Es sind
fünf Verdichtungen. Es ist Handkes bisher größtes, persönlichstes und
ehrlichstes Buch. Weil er auf einmal wirklich zu wissen scheint, wovon
er redet. Die anderen Handke-Bücher taten immer so stimmig. Dieses
stimmt.
Ein schöner, berührender, in jeder Zeile glaubhafter, weil
herzblutbeglaubigter Text. Eben weil hier kein präpotentes Ich redet.
Sondern ein bescheidenes Ich, das andere zu Wort und Würde kommen lässt.
Es lässt sie in ihrer alten slawischen Sprache sprechen, in Lieder und
Tänze ausbrechen, in Streitgespräche geraten, schickt die Leidensbitter-
und Pessimismusvirtuosenschwester der Mutter zu den Partisanen in den
Wald, treibt den kleineren Bruder der Mutter in rhetorische
Ekeleruptionen vor Gott und der Welt, geht den Spuren des größeren
Bruders der Mutter als „Weiberer“, Witwenverführer und westlich
infiziertem Heimatverächter nach.
Es hört dem Großvater zu, der
die Wörter „Liebe“ und „Gott“ und „Tragödie“ bei sich zu Hause nicht
duldet, bewundert die selbst noch den Kriegstod der Söhne gottergeben
und weltversöhnend hinnehmende Großmutter. Es träumt sich in den Bauch
seiner Mutter zurück, die es mit einem Reichsdeutschen trieb, der sie
verließ, dessen Liebe sie aber ein Leben lang nachschmeckt. Es lässt sie
alle vor und zurück taumeln, tanzen, drehen, stolpern, fallen,
aufstehen, Obstbäume schneiden, Schweine schlachten, Kuchen backen.
Die heilende Hand auf eine nicht mehr zu heilende Welt
Handke
hat in seinen Büchern und Theaterstücken der Welt bisher immer seine
heilende Weihe-Hand aufgelegt, wobei dann aus dem völkermörderischen
Jugoslawien schon mal die allerheiligste Nation werden konnte. Zwischen
Hand und Welt tat sich da meist eine peinliche Kluft auf. Handke brachte
für den größten Unfug noch so viel an unnachahmlicher poetischer,
manchmal auch nur stammtischsturer Zärtlichkeit auf, dass ihm dabei oft
der Geist flöten ging.
In „Immer noch Sturm“ ist Handkes nur mehr
aufschreibende Hand nahe und kluftlos bei einer versunkenen, nicht mehr
zu heilenden Welt. So lässt er den Vorfahren die Vorfahrt im großen,
weiten Geschichtsverkehr. Dass sie wieder- und weiterkommen – auch im
Geist, über den Handke hier souverän verfügt. Ohne die Zärtlichkeit
aufzugeben. Ein Kunststück. In fünf Verdichtungen. Und er ist als „Ich“,
das sich zurücknimmt und vor allem zuhört, nicht die Hauptperson,
sondern das hauptsächliche Verdichtungsmittel. Keines Dramas.
Zäh gedehnte Unendlichkeit
In
Salzburg nun, auf der Perner-Insel in Hallein, bei den Festspielen, um
endlich zum Missverständnis zu kommen, dass „Immer noch Sturm“ auch auf
die Bühne und nicht ausschließlich in einen lesenden Kopf gehöre,
betritt der Schauspieler Jens Harzer als Handke-Double die total leere,
schwarze Bühne. Harzer-Handke ist auch ganz in Schwarz: schwarzes Hemd,
schwarze Hose, schwarze Brille, schwarzer Stock. Langsam taumelt er im
schwachen Licht nach vorne, setzt sich auf einen Stuhl und fängt an –
nicht mit der Geschichte einer Familie. Sondern mit den privaten Launen,
gaumigen Schnöseligkeiten und Angefressenheiten des Schauspielers
Harzer, der, seit er Dieter Dorns Münchner Ensemble verlassen hat, zu
kaum noch einer Abstufung im Ton mehr fähig scheint. Er pflegt nur noch
eine hochfahrend arrogante schlechte Rühr-mich-nicht-an!-Laune. Auf dem
Niveau eines wohlstandsverzogenen Fieslings. Und das unendlich weilende
fünf Stunden lang.
In dieser zäh gedehnten Unendlichkeit treten
sieben Schauspieler unter ein großes, an der Bühnendecke befestigtes
Sieb, aus dem es fünf Stunden lang unaufhörlich grünliche Schnipsel
regnet, die alles unter sich in einem süßlich farbigen Konfetti-Regen
behübschend zumüllen. Und dort, im Schnipselallerheiligsten, haken sie
mit feierlichen, ekstatischen, wie von irgendwelchem Weihrauch grundlos
pathetisch umnebelten Mienen, mal hoch erhobenen Händen, mal stampfenden
Beinen Episode um Episode, Anekdote um Anekdote ab. Von denen sie mehr
erzählen statt sie szenisch umzusetzen. Aber dazu brauchte man keine
Bühne. Dazu genügte das Buch. Das Theater kapituliert völlig vor seinen
Möglichkeiten. Und Handkes Verdichtungen, seine Bewusstseins- und
Erinnerungsabenteuer werden so zu Bindfäden, die langweilig aufgedröselt
nebeneinander herumliegen. Der Regisseur Dimiter Gotscheff, sonst eher
ein Adept der gehobenen Apokalypsenfolterschule mit Heiner-Müller-Abitur
(Eins plus in Geschichtsuntergängen), versucht sich hier an einer Art
Erhabenheitsgottesdienst. Absolut textfromm, aber nicht textgescheit.
Immer wenn Folterer fromm werden, wird es Kitsch.
Ins Leere gesprochener Zorn
Oda
Thormeyer als die Mutter des Schnösel-Ichs kommt über die etwas
dümmlich lächelnden Tanzstundenekstasen eines süßlichen
Pettycoat-Hascherls nicht hinaus. Onkel Gregor, Obstbaum-Freak und
späterer Partisanenchef, ist in Tilo Werners Gestalt der kleine
glatzköpfige, bebrillte Ghandi des Jaunfelds: Friede auf den Lippen,
Kampf im Kopf. Hans Löw gibt als weibstoller Onkel Valentin den
grinsenden Stenz im weißen Anzug, Heiko Raulin als kleiner Bruder
Benjamin den Apachen in kurzen Hosen. Bibiana Beglau als Düster- und
Außenseiterschwester Ursula starrt finster und böse, und nur das
Partisanen-Käppi lässt sie strahlen. Gabriela Maria Schmeide und
Matthias Leja als Großeltern kommen wie aus einem Balkanbilderbuch.
Jeder nicht mehr als ein Klischee, ein Abziehbildchen aus dem privaten
Familienalbum, Ekstasensprechblasen über sich, begleitet von einer
nervig schrummenden Balkanmusik. Keine Verweise ins große Ganze. Man
bleibt unter sich.
Am Ende ergeht sich Jens Harzer gute vierzig,
aber gefühlte vierhundert Minuten lang in einem Riesenmonolog, der aus
diversen Textteilen zusammengeschustert wurde. Das wahre Ende von
Handkes Werk, ein wunderbar balancierter Sprach- und Sprechzweikampf
zwischen dem Erzähler, der die Welt bejahen, und dem Onkel Gregor, der
sie untergehen sehen möchte, wird so skandalös verfälscht. Denn
Harzer-Handke jault sauerkitschig und hochnäselnd nur einen ungenauen
Hass auf „die Geschichtäää“ und was diese aus seinen armen Vorfahren
gemacht habe, mit entschiedener Hilfe der Souffleuse ins große Leere.
Aber wenn er nur noch auf die Nachtigall hofft, „die am Tage singt“ –
dann wäre man doch schon um ein paar Spatzen froh gewesen, die den
ganzen Abend mit ein paar vernünftigen Zwitscherzwischentönen verkürzt
hätten.
Rühr mich nicht an: Jens Harzer gibt den schnöselig Distanzierten im Zusammenspiel mit Bibiana Beglau und Heiko Raulin
http://www.kleinezeitung.at/nachrichten/chronik/index.do
Gotscheff entfacht Handkes „Immer noch Sturm“
Zweite Theater-Uraufführung bei den Salzburger Festspielen 2011: Handkes „Immer noch Sturm“ dreht sich um seine Familiengeschichte, die Geschichte der Kärntner Slowenen - und um die Sprache.
Handkes „Immer noch Sturm“ wurde bei den Salzburger Festspielen uraufgeführt.
© dpa
Salzburg. Unaufhörlich schweben Blätter zu Boden, fast fünf Stunden lang. Grüne Blätter: Es ist früher Herbst auf der Halleiner Perner-Insel, wenn Dimiter Gotscheff Peter Handkes neuen Text „Immer noch Sturm“ zur Uraufführung bringt. Ein langer, ausufernder Theaterabend zu einem Text, der zwischen Ahnenbeschwörung, Geschichtsträumerei und Partisanendrama oszilliert. Beim Publikum stößt die Inszenierung auf Begeisterung: viel Applaus und fast einhelliger Jubel für Regie und Ensemble sowie für den Autor.
Der Text „Immer noch Sturm“, eine dramatische Reflexion über Familien- und Regionalgeschichte, wurde bei Erscheinen von der Kritik bejubelt. Er führt ins Jauntal, in dem sich Handke auf die Spuren seiner kärntner-slowenischen Ahnen macht. Er erträumt für seine Verwandten eine neue Rolle in der Geschichte und lässt sie als Partisanen im Zweiten Weltkrieg kämpfen.
Handke rollt sein Thema in poetischer Sprache auf, bedient sich dabei aber einer kunstvollen Form der Montage: Über weite Strecken analysiert und kommentiert ein poetisches „Ich“, das seine eigene Geschichte sucht, seine Erinnerung. Dazwischen gewinnen die Figuren Kontur, von denen das Ich berichtet, und treten mit ihrer Sichtweise der Dinge in Erscheinung.
Dieses Textgefüge auf seine Theatertauglichkeit zu testen, vertraute Schauspielchef Thomas Oberender für die Festspiel-Uraufführung dem aus Bulgarien stammenden Regisseur Gotscheff an. Der entscheidet sich für Texttreue und macht kaum einen Schnitt. Eine Entscheidung, die vor allem Jens Harzer als Handkes Bühnen-„Ich“ enorme Textmengen zumutet. Vor allem gegen Ende verliert dabei nicht nur das Publikum mitunter den Faden.
Das achtköpfige Ensemble hat kaum Handlung zur Verfügung, nur die Sprache, um Großeltern (Gabriela Maria Schmeide und Matthias Leja), Mutter (Oda Thormeyer), deren Brüder (Tilo Werner, Hans Löw und Heiko Raulin) und die Schwester (Bibiana Beglau) zu charakterisieren. Nur selten setzt Gotscheff die Musik von Sandy Lopicic ein. Diese Passagen aber geben Handkes Abfolge von Monologen, Gesprächsfantasien und Kommentaren Struktur und verdichten das nur erzählte Geschehen zu sinnlicher Einheit von Sprache und Bild.
In solchen raren Momenten geht auch der Versuch auf, eine individuell-lokale Geschichtsreflexion, die Fakt, Wunsch und Empfindung vermischt, in eine allgemeingültige Betrachtung über Widerstand und (sprachliche) Selbstbehauptung zu gießen. „Immer noch Sturm“ ist als Koproduktion mit dem Thalia Theater Hamburg entstanden und hat dort am 17. September Premiere.
dpa
Es regnet vergehende Zeit
Über Peter Handkes neues Theaterstück "Immer noch Sturm" – und ein großes Missverständnis //handelt vom vergessenen Freiheitskampf der Kärntner Slowenen gegen die deutschen Besatzer,// Sprachnationalismus und Amerika-Wut des Schriftstellers
© EPA/BARBARA GINDL
Bibiana Beglau als Ursula in Peter Handkes "Immer noch Sturm" bei den Salzburger Festspielen
Irgendwann in den neunziger Jahren, als der Westen noch seinen Triumph über den Kommunismus auskostete, muss Peter Handke seinen ästhetischen Glauben verloren haben. Anders als in seinem BuchLangsame Heimkehr glaubte er nun nicht mehr, dass die moderne Welt in Ordnung sei und wir nur von ihr erzählen müssten, um ihre Schönheit zu erkennen. Die Welt, sagt Handke heute, ist nicht gut, sie spielt nicht mehr mit und lässt sich nicht mehr erzählen. In ihr herrscht »Sturm«, und was wir Geschichte nennen, das ist dieser Sturm. Er lässt keinen Stein auf dem anderen, er nimmt allen die »Bleibe«, er treibt die Gesellschaften nach vorn in eine sinnlose Zukunft. Die Gegenwartsmenschen haben von diesem verheerenden Sturm kein Bewusstsein, sie leiden stumm. Nur ein »Dichter«, nur Peter Handke öffnet ihnen über die »beschissene Realzeit« die Augen, und deshalb ist er so »umstritten«. Alle Großen stehen im Sturm.
Die furchtbaren »Doitschen« und ihre Kettensägensprache
Immer noch Sturm heißt eine dramatische Erzählung von Peter Handke, die der Regisseur Dimiter Gotscheff in einer Co-Produktion mit dem Hamburger Thalia Theater für die Salzburger Festspiele auf der Perner Insel in Hallein dramatisiert hat. Das Stück handelt, jedenfalls auf den ersten Blick, vom vergessenen Freiheitskampf der Kärntner Slowenen gegen die deutschen Besatzer, vom Mut der Aufständischen, vom Kampf der Partisanen in den Wäldern, vom Leid der Hinterbliebenen, der Mütter, Väter und Geschwister – und von der Verbitterung, dass das Versprechen der Freiheit gebrochen wurde. Denn obwohl die Partisanen den Kampf gegen das Nazi-Regime gewonnen hatten, kehrte die alte Windstille nicht mehr ins Jaunfeld zurück. Nach dem Ende des Krieges, so klagt das Stück, beginnt ein neuer Krieg gegen die Slowenen. Sie fallen den Österreichern in die Hände, und Österreich, das vor aller Welt mit dem slowenischen Widerstand prahlt, ist nun devoter Teil des siegreichen Westens. Die »Westler« zwingen die Slowenen, das aufzugeben, wofür sie gekämpft hatten, ihr Heiligstes, ihrer »Mutter Sprache«, ihre Kultur und ihre Wurzeln. Die furchtbaren »Doitschen« mit ihrer Kettensägensprache ließen wenigstens die jungen Apfelbäume stehen; die englischen Siegerpanzerfahrer dagegen pflügen sie einfach um und werfen die saftigen Stämme ins Feuer. Wofür also haben die Slowenen gekämpft? Wofür sind sie schuldig geworden? Für nichts und wieder nichts. Der Krieg ist vorbei, die Okkupation geht weiter, und diesmal weht der kalte Wind aus dem Westen. »Immer noch Sturm.«
Fast fünf Stunden lang lässt die Bühnenbildnerin Katrin Brack in kalter schöner Gleichgültigkeit grünliche Papierschnipsel vom Bühnenhimmel flattern, mal fallen sie weich und sanft, mal scheinen sie in einem undurchdringlich dichten Treiben herabzustürzen. Es regnet vergehende Zeit, und gegen sie kann man sich nicht wehren, sie geschieht einfach. Je mehr Zeit-Blätter den Boden bedecken, je mehr »Weltgeschichte« passiert, desto gefährlicher wird der Untergrund für das »Ich«, für den Erzähler (Jens Harzer). Er taumelt, er verliert den Halt, und am Ende, nach so vielen Toten, nach so viel Grausamkeit, gibt es keinen festen Grund mehr, auf dem ein Mensch noch aufrecht gehen könnte. Harzers »Ich« – das ist Handke selbst, der seine slowenischen Ahnen auftreten lässt, seine Großeltern, seine Mutter, deren Schwestern und Brüder.
Es geht nicht gut aus. Benjamin (Heiko Raulin) und Valentin (Hans Löw), die zwangsrekrutierten Brüder der Mutter, »fallen in Feindesland«, die Schwester Ursula (Bibiana Beglau) wird von den Deutschen zu Tode gefoltert. Ein »Fallwind« bringt den Großeltern (Gabriela Maria Schmeide, Matthias Leja) die Todesnachrichten, und wie es sie stumm zerreißt, wie aus ihnen alles Leben entweicht und die wehrlosen Alten sich in den trostlosen Trost des Alltags retten (»wir müssen die Kühe melken«) – das ist mit brutaler Diskretion inszeniert und grandios gespielt. Entsetzlich der Augenblick, als Ursula ihre Eltern raten lässt, wer der Partisanenkommandeur ist, der einen Mitkämpfer wegen Butterdiebstahls erschießen ließ. »Ratet mal, wer war es? Ach, ratet besser nicht.« Es war der Gandhi des Jaunfelds, es war Gregor (Tilo Werner), der älteste Sohn.
Handke/Harzer ist Autor, Regisseur und Zuschauer in einer Person; er arrangiert das Wiedersehen und stellt sich fragend vor, wie die Geschichte damals gewesen sein könnte – vielleicht so oder so? Oder auch ganz anders? Mal wütend und ratlos, mal demütig und dankbar spult das »Ich« seinen Lebensfilm zurück. Es träumt davon, seine Vorfahren wären im Widerstand gewesen, es trägt ihnen seine Liebe nach, denn ohne sie wäre es ein Nichts und ein Niemand. Einmal legt er seiner Mutter (Oda Thormeyer) erstaunt die Hand auf den Bauch, sie hatte einen Feind, einen »Reichsdeutschen«, geliebt, nun ist sie schwanger – mit ihm, mit dem Erzähler-»Ich«, mit Peter Handke.
Aber das Stück hat einen doppelten Boden, und dieser ist Gotscheff zu Recht nicht geheuer. Handke geht es nämlich nicht nur darum, den slowenischen Partisanen ein Denkmal zu setzen, ihrer gewonnenen, zerronnenen Unabhängigkeit. Handke will, wieder einmal, ein Widerstandsnest ausfindig machen, eine letzte Enklave, die sich dem weltweiten Westen widersetzt, den Raumverdrängern, Invasoren, Traditionsvernichtern. Die heilige slowenische Sprachabstammungsgemeinschaft gegen den Sturm der gottverlassenen modernen Gesellschaft – das ist die polemische Konstruktion des Stücks, das stahlharte Gerippe unterm kissenweichen Moosbehang des Südkärntners Jauntals.
Für die West-Moderne steht »Amerika«, wahlweise auch »England«. Handke verachtet die Länder nicht deshalb, weil dort die Reichen den Armen den Krieg erklärt haben; er verachtet den angelsächsischen Geist, der alles kalkuliert und alles berechnet, er hasst den Terror der Abstraktion, der die schönen alten Namen durch sinnlose Zahlen ersetzt – und dabei pausenlos das Wort »Menschheit« brüllt. Der Westen, so lautet die Anklage, zerstört die Sprache, und er tut es immer noch, nicht nur bei den Jauntaler »Apfelmenschen«. »Jenseits der Sprache bricht Gewalt aus«, dieser Satz fällt bei Gotscheff gleich zweimal. Ohne Sprache verliert die Welt ihren Sinn, und dann herrscht Krieg, und schon der Zweite Weltkrieg war eine Schlacht, die die nichtswürdige Moderne mit sich selbst führte.
Was das heißt? Es heißt: Ob Kommunismus oder Amerikanismus – es sind bloß unterschiedliche Erscheinungsformen des einen Herrschaftsprinzips, der einen rechenhaften Moderne. Sie entfacht den Sturm der Geschichte, und Slowenien ist nur eines ihrer unzähligen Opfer – jenes ethnisch homogene Land, wo die Sprache das Haus des Seins ist, wo gesprochen und nicht gezählt wird, ein Paradies des Konkreten, in dem der Vater das Gesetz und die Mutter die Liebe verkörpert und der Sinn einer Handlung darin besteht, dass man sie klaglos vollzieht. Vorbei, es war einmal. Die traumlose Moderne hat gesiegt. »Der Mensch verschwindet, die T-Shirts bleichen aus.«
Am Ende liegen sich Handke und sein Darsteller Jens Harzer in den Armen
Dimiter Gotscheff tut alles, um Handkes Sprachnationalismus zu überspielen, einige Passagen fallen unter den Tisch, die von Heidegger-Lektüren berauschte Amerika-Wut wird beiseitegesprochen. Gotscheff will nicht den Handke, der Diktatoren nachrennt, weil sie westlichen Sprach-Invasoren »Widerstand« leisteten. Er will den romantischen Sänger auf die Bühne bringen, der fassungslos ist über die »Naturvergessenen«, über die kapitalistische Mobilmachung von allen und jedem.
Gotscheff huldigt dem Schriftsteller, der bis zur reaktionären Posse von einer einzigen Idee besessen ist: von der Idee, dass der Reichtum unserer Erfahrung abhängig ist vom Reichtum der Sprache, von ihren imaginativen Schätzen, ihren Bildern und Metaphern. Dafür macht er Handke schwärzer, als er ist. Am Ende verschmilzt Gotscheff das Zwiegespräch zwischen Gregor und dem Erzähler zu einem halbstündigen Weltverwünschungs-Monolog, um dann, als wolle er diese Suada nun nicht länger dulden, den Frieden verkünden zu lassen (»Peace«!), das »Ende des Sturms«.
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Das Publikum jubelt, denn mit diesem Schluss kann es die Welt im Großen verwerfen und im Kleinen schamlos weitermachen. Als der Vorhang gefallen ist, liegen sich Peter Handke und sein Alter Ego Jens Harzer in den Armen, zwei große Kinder, die sich verblüffend ähnlich sind, zaudernd, ratlos, unbeholfen, verlegen, unsicher – und womöglich erleichtert darüber, dass ihr Amoklauf gegen die moderne Gesellschaft nur ein Spiel war und nichts als ein Spiel.
Nachtkritik: „Immer noch Sturm“
Heftig beklatscht wurde die Uraufführung von Peter Handkes „Immer noch Sturm“ am Freitag auf der Halleiner Perner-Insel. Regisseur Dimiter Gotscheff verließ sich auf die Sinnlichkeit des Wortes, auf die Kraft und die Poesie der Sprache.
(SN, Bernhard Flieher). Den lautesten Jubel gab’s am Ende für die beiden Ichs. Das eine Ich, Peter Handke, das den Text, der kreist und schwebt und trotzdem sicher trifft, geschrieben hat. Und das andere Ich, Jens Harzer, weil er dieses Handke-Ich aus der Textvorlage als Aufgewühlten, Verunsicherten, Zweifelnden, Fragenden und Suchenden auf der Bühne mit vielen Untertönen, mit vielen Feinheiten spielt. Wie überhaupt das Ensemble des Hamburger Thalia-Theaters, bei dieser Inszenierung wieder einmal Ko-Produzent der Salzburger Festspiele ist, präzise arbeitet und brilliert.
„Immer noch Sturm“, eine Familiengeschichte und eine Partisanendrama rund um die Kärntner Slowenen, bei dem Handke Traum und Wirklichkeit mischt, wurde am Freitag bei der Uraufführung aber nicht nur wegen einer bisher unbekannten Form des Textes, einer Verwebung von Erzählen und Vorspielen einer analytischen Geschichtsbeschreibung und Geschichtserträumung zugleich, zum einem Kunstwerk. Regisseur Dimiter Gotscheff lässt dem Wort viel Platz. Und im der riesigen Verdampferhalle der Saline in Hallein bedeutet das: Er verzichtet auf große Theatertricksereien. Alles wird der Poesie des Textes untergeordnet, um sie so noch zu verstärken.
Die sieben Schauspieler, die die Ahnen des Ichs spielen, stehen mit diesem Ich meistens gemeinsam auf der Bühne. Dazu kommen die beiden Musiker Sandy Lopicic und Matthias Loibner, die dezent aber effektvoll mit Akkordeon und Drehleier eingreifen, die Beatles und Volksliedgut mischen. Von der Decke lässt Bühnenbildnerin Katrin Brack grüne Schnipsel auf die sonst leere Bühne schneien – und zwar so gut wie die ganze, vierdreiviertelstündige Aufführungszeit. Ein märchenhaftes Bild ergibt das (und erinnert freilich an den atemberaubenden Moliere-Marathon von Luc Perceval mit Thomas Thieme an gleicher Stelle vor vier Jahren). Die Sparsamkeit der Mittel ermöglicht totale Konzentration auf den Text und dessen Sound.
Es war ein Abend voller Sinnlichkeit im Umgang mit Sprache. Und es war ein wichtiger Abend wegen des Umgangs mit einem Thema, dass nur in Kärnten spielt, dass in seiner Wirkung als Stück über Widerstand, über die Verlierer der Geschichte von durchaus universeller Geltung ist. Ein bitteres Kapitel österreichischer Geschichte und der zutiefst persönliche Umgang des Autors mit diesem Thema – das hätte eine autistische Egoschau werden können. Es wurde schon im Text, erst recht aber durch diese Inszenierung, trotz einiger Längen wegen einer wohl zu großen Ehrfurcht vor jedem Wort des Autors, zu Welttheater - in vielerlei Bedeutung des Wortes.
Handke-Uraufführung mit "Jedermann"-Tod
Der ehemalige Tod im „Jedermann“ spielt in Salzburg Peter Handkes Alter Ego.
© ÖSTERREICH/ Neumayr
Das mußte ja so kommen. Nach den jüngsten nasskalten Wochen ist der Herbst endgültig ins Land gezogen. Auf der Perner Insel in Hallein rieseln jedenfalls seit gestern, Freitag, Abend unaufhörlich die Blätter. Über weite Strecken ist dieses pausenlose zu Boden Fallen die einzige Bewegung, die man bei der Uraufführung von Peter Handkes neuem Stück auf der Bühne wahrnimmt. Es heißt zwar "Immer noch Sturm", doch szenisch herrscht vier Stunden 45 Minuten lang Windstille. Dimiter Gottscheff konzentrierte sich darauf, Handkes poetische Sprache zur Wirkung zu bringen, nicht darauf, die weitgehend nacherzählte Handlung durch inszenatorische Eingriffe bühnenwirksam zu beglaubigen.
Geduldsprobe für das Publikum
Dem Publikum verlangt das zurückhaltende Konzept viel ab. Einzelnen Premierengäste fielen bereits nach der ersten Stunde die Augen zu, andere flüchteten zur Pause. Tatsächlich ist man immer wieder dankbar, wenn Gottscheff den gewählten Grundgestus eines mit heiligem Ernst zelebrierten Weihespiels für Augenblicke durchbricht. So haben nicht wenige Zuschauer ausgerechnet beim furiosen Schlussmonolog der von Jens Harzer verkörperten "Ich"-Figur knapp vor Mitternacht mit Konzentrationsschwächen zu kämpfen. Mehr freche Lockerheit und weniger Hohepriestertum hätte dieser Uraufführung, die auch am Thalia Theater Hamburg und am Wiener Burgtheater zu sehen sein wird, trotz mancher Verdienste ohne Zweifel gut getan. Anderseits muss man konstatieren: Dort, wo sich der Regisseur Freiheiten nimmt, misslingen sie nicht selten - was etwa "Schifoahn" hier zu suchen hat, erschließt sich nicht.
Leerer Bühnenraum
Eine Heide oder Steppe, einen Apfelbaum, "behängt mit etwa 99 Äpfeln", und eine "zeitlose" Sitzbank, hatte sich der Autor in der seit langem als Buch vorliegenden szenischen Prosa als Bühnen-Setting gewünscht. Nichts davon findet sich in dem von Katrin Brack gestalteten leeren Bühnenraum. In beständigem Blätterregen betritt Jens Harzer die Bühne, einen Stock in der einen, ein Stockerl in der anderen Hand. Sprachlich ist er wohl um einiges nördlicher als das an diesem Abend häufig beschworene Kärntner Jaunfeld anzusiedeln, doch als alter ego von Peter Handke macht er viel her. Mit seinem Haarschnitt und der zeitweilig getragenen Sonnenbrille erinnert er an den jungen Dichter, in seinem immer wieder zur Schau gestellten Furor gegen die Mitmenschen und seinen Schimpf-Tiraden an den späten Handke (den nach der Pause verpassten Rauschebart hat er nicht verdient).
Persönliche Geschichtsforschung im Mittelpunkt
Doch im Mittelpunkt von "Immer noch Sturm" steht nicht Misanthrophie und Weltverachtung, sondern ganz persönliche Geschichtsforschung, die sich zu einem Abriss der leidvollen Erfahrungen der Kärntner Slowenen in den vergangenen Jahrzehnten weitet. Die Ich-Figur begegnet ihrer Mutter (fröhlich lebensbejahend: Oda Thormeyer), deren Geschwistern (Hans Löw, Heiko Raulin, Tilo Werner und Bibiana Beglau mit sorgsam gestalteten Porträtskizzen) und ihren Großeltern (knorrige Vertreter der alten Generation: Gabriela Maria Schmeide und Matthias Leja) und beginnt sie zu befragen: "Da seid ihr nun, Vorfahren. Die längste Zeit schon habe ich auf euch gewartet. Nicht ich lasse euch nicht in Ruhe. Es läßt mich nicht in Ruhe, nicht ruhen."
Handke thematisiert erstmals seine Herkunft auf der Bühne
Seine Herkunft (Handkes Vater war deutscher Soldat, die Familie seiner Mutter slowenischsprachig) hat den Autor immer schon beschäftigt, erstmals thematisiert er sie auf der Bühne. Zwei Brüder der Mutter sterben als Soldaten an der Front, der älteste Bruder und die Schwester der Mutter kämpfen in den Wäldern als Partisanen. Manches davon dürfte Dichtung sein, anderes wiederum wortwörtliches Zitat aus Familiendokumenten. In jedem Fall wird - unterstützt auch mit Live-Musik von Sandy Lopicic und Matthias Loibner - ein schmerzhaftes Stück Geschichte deutlich, die Zerrissenheit der Kärntner Slowenen, die sich nach Kriegsende für ihren Widerstandskämpfer nicht belohnt, sondern verraten fühlten.
Schwierige Sprache
Den poetischen Grundduktus von Handkes Familienaufstellung trifft die Aufführung gut, die "vermaledeite Sprache" bekommt Gotscheff mit seinen Darstellern selten in den Griff. Was sprachlich zwischen den verhassten "Daitschen" und den sich auf uralte slawische Wurzeln berufenden Jauntalern steht, bleibt oft Behauptung. Dafür atmet man auf, wenn mal ein direkter Ton angeschlagen wird, wenn sich etwa die Mutter bei ihrem Sohn erkundigt, wie es denn bei ihm mit Frauen so stehe und ob er noch immer so viel Fußball schaue. Diese witzigen oder selbstironischen Momente schaffen Erholungspausen in einem Kraftakt, für den es am Ende viel Applaus und Jubel gab. Am Ende kam auch Peter Handke schüchtern auf die Bühne, ignorierte den einen oder anderen Buhruf und umarmte seinen Theater-Doppelgänger. Die Gespenster sind gebannt. Sturm aus.
Autor: APA / Wolfgang Huber-Lang
Das Welt-Ich irrt im Schnipselschnee
16. August 2011 | 08:22 | | BERNHARD FLIEHER (SN). |
Dimiter Gotscheff macht aus Peter Handkes poetischem, unerhörten Textbastard „Immer noch Sturm“ auf der Pernerinsel bei den Salzburger Festspielen ein leises, großes Welttheater, eine Messe für die Sprache.
Das Jaunfeld auf der Pernerinsel: eine Fläche zur Ausbreitung der Sprache für das Handke-Ich Jens Harzer. Bild: SN/dapd
„Ah, look at all the lonely people.“ Und aus dem „Ah“ machen wir ein „Ich“. Und die „people“ sind die Verwandtschaft oder eine ethnische Minderheit oder beides. Und „lonely“, also einsam, sind sie alle – auf der Suche nach Antworten, die man für Wahrheiten halten will.
Bei dieser Suche gelangen wir auf das Kärntner Jaunfeld, wo ein Ich-Erzähler seine Ahnen, nun ja, herbeiruft oder sie herbei(alb)träumt, oder sie sind immer da. Egal. Das hier ist Traum und Wirklichkeit in einem. Jedenfalls ist Sturm. Immer noch. Drinnen wie draußen. Mit dem Blick auf die Verstreuten aus dem Beatles-Song „Eleanor Rigby“, der sich im Bühnendunkel vereint mit Volkweisen, stehen wir eben nicht nur auf dem Jaunfeld, in einem bitteren Kapitel österreichischer Geschichte, sondern auch in weiter Welt und mitten in Peter Handke.
Die Beatles, sie tauchen in Melodiezitaten öfter auf an diesem Uraufführungsabend am Freitag auf der Pernerinsel, klingen als Echo der großen Welt hinein in die sogenannte kleine Welt der Familie, der angeblich lokalen Ereignisse. Und sie klingen als Echo auf die Geschichte des Dichters Handke, einst in wilden Jahren seines Anfangens ja der Literatur-Beatle. Das alles klingt in „Immer noch Sturm“: Geschichtsbeschreibung, Geschichtserträumung, Epos des Widerstands, Poesie für die Verlierer. Freilich summt da auch eine Selbstsuche, ein persönliches Einkreisen eines Dilemmas. Was ist das „Being Ich“, „Being Peter Handke“, „Being Minderheit“, „Being wer oder was und warum“? Eh aussichtslos, aber so schön poetisch!
Aus den 1960er-Jahren gibt es Fotos von Handke, schmal ist er, trendy und auch irgendwie schüchtern, mit einer Brille, die trug, wer Künstler und Popstar war: Dylan, Lennon, Richards. So sieht Jens Harzer auf der Bühne auf der Pernerinsel aus.
Harzer spielt das Ich, um das die Geschichte kreist und die er zugleich selbst zu erzählen und zu beobachten hat. Harzer bewegt sich wie die Melodie dieses Handke-Ich in der Textvorlage – als Aufgewühlter, Hadernder und Suchender, mit vielen Untertönen, mit vielen Feinheiten, ironisch und fassungslos.
Sturm an jeder Ortstafel
Familiengeschichte(n) mischt sich mit historischen Fakten um den Widerstand der Kärntner Slowenen gegen die Nazis, dem einzig militärisch organisierten auf dem Boden des Dritten Reichs. Geholfen hat es nichts. Nach dem Krieg waren sie wieder Minderheit, ihre Partisanen sind bis heute nicht geehrt, sondern – etwa von Jörg Haider – gar kriminalisiert. Eine Tragödie. Immer noch Sturm – etwa um Ortstafeln, um Ewiggestrige, die, so kommt es einem vor, schon wieder die Heutigen sind. Doch in Tagesaktualität wird man nicht verstrickt – nicht beim Lesen und erst recht nicht in der Inszenierung Dimiter Gotscheffs bei den Salzburger Festspielen.
Gotscheff verlässt sich auf die Sinnlichkeit des Wortes, auf Kraft und Poesie der Sprache, an der große Fragen nach Identität und Heimat hängen. Gotscheffs Sturm ist ein Stillstand, eine archaische Art des Geschichten-Erzählens. Innehalten, Schweigen, der Zeit zuschauen und und die Zeit vergehen lassen – diese Formulierungen strukturieren Handkes Vorlage, kehren als Absatzanfang-Mantras immer wieder. Gotscheff nimmt das feinfühlig auf.
Ein Bastard ist dieser im vergangenen Jahr erschienene Text. Unerhört in seiner Form. Nie da gewesen. Mutig. Kein Roman. Kein Drama. Dialoge und Beschreibung – das macht keinen Unterschied. Wie einst in dem 1982 in Salzburg uraufgeführten „Über die Dörfer“ (oder in „Langsame Heimkehr“ von 1979 oder „Die Wiederholung“ von 1986, in denen Familie zur Folie von Weltansichten wird) breitet sich episch ein Geschehen aus, das nicht zum Vor-Spielen oder Darstellen taugt.
Wie das auf die Bühne bringen? Wie spielen? Und gespielt in thea-tralem Sinn, gar mit Theatertricksereien, wird kaum. Rund um das Ich marschieren dessen Ahnen auf – Mutter (Oda Thormeyer), Großeltern (Gabriela Maria Schmeide, Matthias Leja), Tante Ursula (Bibiana Beglau), Onkel Valentin (Hans Löw), Onkel Benjamin (Heiko Raulin) und Onkel Gregor (Tilo Werner). Sie alle – aus dem Ensemble des koproduzierenden Hamburger Thalia Theaters – beeindrucken damit, als beschreibend Erzählende ihren Figuren charakterliche Nuancen, ja einen Plot zu geben. Sie stehen mit dem Ich meistens gemeinsam da (oder werden von ihm argwöhnisch umrundet). Wer nicht an der Reihe ist, tritt an den Rand, gerade noch erkennbar im Dunkel. Und so sehen wir: Geist, Echo, Gene mischen immer mit. Die Ahnen, wir werden sie nicht los.
Nationalhymne „Skifoan“
Die beiden Musiker Sandy Lopicic und Matthias Loibner greifen dezent, aber effektvoll mit Akkordeon und Drehleier ein, mischen Beatles und Walzer, Kärntner Volkslied und die heimliche Nationalhymne „Skifoan“, und sie verstärken die Stimmung zwischen familiärer Harmonie und gesellschaftlichen Verwerfungen.
Von der Decke lässt Bühnenbildnerin Katrin Brack grüne Schnipsel schneien – fast die ganze, Vierdreiviertelstunden lange Aufführung hindurch. Sonst nichts. Nichts als eine leere Bühne, ein großes Feld, eine Weite, in der die ganze Welt mitgedacht ist, wenn auch nur von den Tälern zwischen Triglav, Kepa oder Dobratsch die Rede ist. Ein märchenhaftes Bild ergibt der riesige Raum im Schnipselschnee (und erinnert an den atemberaubenden Molière-Marathon von Luk Perceval mit Thomas Thieme vor vier Jahren an gleicher Stelle). In der Sparsamkeit der Mittel ereignet sich Konzentration auf Wort und Sound.
Bei den Beatles heißt es weiter: „... the lonely people, where do they all come from?“ Das fragt auch Handke – für sich, aber auch für den Rest derer, die sich ohnmächtig zerrieben fühlen zwischen unheimlich unüberschaubaren Mächten, die die Geschichte zu angeblichen Siegern macht. Die Verlorenheit der Schauspieler auf der Bühne, die ein freier Plan ist, bildet dafür ein herrliches Bild.
Ein Träumer auf dem Land
Handkes Biografie, Sohn einer Kärntner Slowenin und eines Soldaten der deutschen Wehrmacht, wird zum „Gleichnis der familiären und politischen Konflikte in Kärnten“, sagt Germanist Hans Höller über „Immer noch Sturm“. Und wenn mit Gleichnis schon ein biblisches Wort da ist, so kann dieser Abend in Form und Ausführung auch als Messe (auch eine für die Heiligkeit von Sprache) begriffen werden. Die Bitte um Erbarmen gibt es. Ein Gloria taucht auf, ein Evangelium und eine Quasiwandlung, wenn die Verwandten, die in der Wirklichkeit in der Wehrmacht dienten (wo zwei der Onkel auch gefallen sind), dann plötzlich zu Partisanen werden. Nur einen Schlusssegen, den gibt es nicht. Nicht in der Minderheiten-Wirklichkeit, nicht in der Sieger-Geschichtsschreibung. Gut, es wird Friede beschworen. „You may say I’m a dreamer, but I’m not the only one ...“ Lennons „Imagine“ wurde auch kurz angespielt.
Wo Handke sich im Text aber wegen seiner Skepsis in diesen Weltfragen Zeit nimmt für gescheite Gedanken über die Politik der Geschichte (und umgekehrt), geht Gotscheff die Zeit offenbar aus. Hier greift er ein in die Vorlage. Den langen Enddialog, einen bis ins letzte Wort tiefgründigen Diskurs zwischen dem in Handkes Werk immer wieder auftauchenden Über-Onkel Gregor und dem Erzähler-Ich, lässt er Jens Harzer monologisieren. Das ist nicht nur sehr lang, sondern auch sehr pathetisch, im Gestus einer Belehrung. Unnötig, weil die existenziellen Dinge, der Furor auf Ungerechtigkeit, das Würgen an einem in Fragen von Heimat und Identität von Minderheiten und Geschichtsgewinnern locker stumpfsinnig handelnden Österreich längst klargemacht wurden. Wo aber der reine Bedacht auf die Sprache herrscht, ist ein Kunstwerk zu sehen, das (Anti-)Nationalepos ebenso sein kann wie universell gültig – im Welttheater-Text Handkes und in der leisen Feinabstimmungserzähldarstellung Gotscheffs.
© SN/SW
14.08.2011
Peter Handke in Salzburg
Salzburger Festpielzeit, Prominentenauflauf.
Die These, dass Peter Handke ein alle Zukunft überdauernder großer Dichter ist, wird von den einen mit Gewissheit behauptet, von den anderen strikt verneint.
Ich selbst kenne von ihm Beschreibungen, die ich bis heute bewundere und staunend verehre, aber auch kitschige Stellen in seiner Prosa, würdig der trivialen Literatur, keineswegs der hohen Poesie. Er stellt also einen schwierigen Fall für die Literaturkritik dar, die freilich bei Handke an allen Ecken und Enden schwächelt.
Was sie jetzt allerdings in Salzburg mit seinem Prosatext „Immer noch Sturm“ anstellten, ist modischer Kult und missbräuchliche Vereinnahmung eines Dichters für ein Prominententreffen. Denn dieses ist der eigentliche Event, angeführt von der Suhrkampwitwe Ulla Berkewicz und nicht endend beim Theater- Schwafler Peymann, der sonst noch mit 75 Lenzen juvenil rotzig sein kann, bei Handke aber sich regelmäßig lammfromm nur gibt. Auch die ganze Journalistenschar, die man auch als Handke – Anbeter, ( Fans wäre zu wenig,) bezeichnen kann, war anwesend, natürlich.
5 volle Stunden auf harten Bänken mutete Regisseur Gottscheff dem Pilgervolk zu. Denn was gut ist, muss weh tun. Das ist ein alter deutscher Glaube, den der Heiner Müller-Adept Gotscheff schon lange praktiziert.
Zum Ganzen gab es auch noch ein kleines Museum, das die Zeit dokumentierte, in der Handke 8 Jahre lang an der Salzach wandelte, schrieb und weilte. Also weiter kann die Dichterverehrung zu Livezeiten wohl nicht getrieben werden, während andere Literaturlandschaften der Epoche öde und ungepflegt vor sich hin wuchern.
Aber so ist eben der Mensch in der Zeitgeschichte, die gleichzeitig Thema des Stückes sein sollte. Handkes slowenische Familienmitglieder im Widerstand gegen die Nazis, eine Erinnerung in hohem Theaterpathos vorgetragen. Solche Mischung aus Lyrik und Politik hat die Prominenz besonders gerne. Darüber lässt sich anschließend zu den Noggerln viel und gut reden.
Natürlich können wir uns nicht an den Text halten,, bei dem wir nicht ahnen können, wie der sich zur Bühnensprache wandeln lässt oder sich dazu überhaupt eignet. Wir halten uns also an die Theaterkritik. Doch die fällt leider gleich wieder durch. Denn wenn ich lese, wie in dem Stück „dann der Krieg aus zwei Onkeln Tote macht und aus einem anderen und der Tante Partisanen und aus den Großeltern Rebellen gegen die Geschichte “ wird es mir ganz grauslig im Gemüt.
Die Geschichte oder die Nazis oder beide Feinde Handkes? Kann das sein? Und der Krieg, als sei er ein heimlicher Bäcker, „der Tote macht“, und Rebellen aus Großeltern, erscheint mir auch ziemlich daneben. Ich dachte eher,der Krieg kostet Tote oder er fordert sie, aber macht? Wie macht der Krieg das?
Nein, das kann Gotscheff alles nicht inszeniert haben, und auch Jens Harzer, Handkes Schauspieler-Liebling wird das nie im Leben spielen können. Thats too much, würde unser Amüsieronkel Gottschalk vielleicht sagen, wenn er in der Geschichte des Fernsehens jemals Partisan werden müsste.
Nein, Salzburg, Handke, Jedermann, Senta Berger, Helmut Berger, Karajan, jaja – dieses Karat muss es in Salzburg immer sein, sonst bleibt die Schikeria aus München lieber daheim.
© Peter Zwey
HANDKE-URAUFFÜHRUNG BEI DEN SALZBURGER FESTSPIELEN
Die Toten kommen nicht zur Ruhe
In
Dimiter Gotscheffs mit Spannung erwarteter Inszenierung wurde jetzt
Peter Handkes Traumspiel "Immer noch Sturm" bei den Salzburger
Festspielen uraufgeführt. Eine ehrfürchtige Verbeugung vor den Ahnen und
zugleich die Beschwörung eines Verlusts.
Grün. Eine
andere Farbe ist nicht möglich. Nicht weiß, nicht rot, nicht blau. Grün
wie die Blätter des Apfelbaums auf der Heide, in der Steppe der
Heimatgegend. Grün wie die Wälder, in denen die grünen Kader der
kärntnerslowenischen Partisanen Widerstand gegen die deutschen
Nationalsozialisten geleistet haben. Grün schweben, rieseln, torkeln
unentwegt Blätter vom Perner-Insel-Bühnenhimmel im großen Kreis auf den
schwarzen Boden im schwarzen leeren Raum. So, genau so, nur so. Unter
dem stummen unaufhörlichen traumverlorenen Niedergehen des Blätterregens
können sie sich nähern wie Goethes schwankende Gestalten: jene
Vorfahren der eigenen Sippe, die Peter Handke in seinem Traumspiel
"Immer noch Sturm" erscheinen lässt. Als sei die Zeit nie vergangen
zwischen 1936, 1943, 1945 und der Jetztzeit des "Ich", des Dichters, des
Erzählers, in dessen Macht allein es liegt, die Toten auferstehen zu
lassen.
In Dimiter Gotscheffs mit Spannung erwarteter
Inszenierung der Uraufführung von "Immer noch Sturm" bei den Salzburger
Festspielen – einer Koproduktion mit dem Hamburger Thalia-Theater – ist
der kluge und feinsinnige Schauspieler Jens Harzer fast ein Ebenbild des
jungen Peter Handke: mit Pilzfrisur und Hornbrille. Zugleich aber
schleppt er sich mit Stock und Schemel wie ein sehr alter Mann auf die
Bühne. Der Lauf der Zeit – so zeigt es dieser schöne Regieeinfall – ist
für ein Mal, für diese fünf Stunden auf der Perner-Insel in Hallein,
aufgehoben. Immer noch Sturm, wie bei Shakespeares Tragödie "König
Lear", deren Regieanweisung Handke zum Titel gemacht hat; wie in der
Geschichte, die den Menschen "PEACE – FRIEDEN – MIR – SHALOM – SALAM",
so eine visionäre "Riesenschrift" aus dem "Sturm"-Himmel, nicht gebracht
hat.
Und die Toten kommen nicht zur Ruhe. Sie verfolgen den
Dichter, und er verfolgt sie. "Immer noch Sturm" ist Handkes
ehrfürchtige Verbeugung vor den Ahnen und zugleich die Beschwörung eines
Verlusts: von Sprache, von Identität, von Geschichtsmächtigkeit.
Familiengeschichte weitet sich in diesem großen, vielschichtigen Werk
zur Weltgeschichte aus – und jede Regie ist mit der Gefahr konfrontiert,
den pathetisch-ironischen Gestus seiner Sprache, das Wechselspiel von
Erklärung und Widerspruch, Behauptung und Einspruch, hohem Ton und
bitterem Sarkasmus, Trauer und Hohn, Bekenntnis und Verzweiflung im
Auftritt von klar umrissenen Figuren zu vereindeutigen: Denn ein
Theaterstück im herkömmlichen Sinn ist dieser in fünf Kapitel/Akte
untergliederte Text mit seinem eigentümlichen Schweben zwischen
vergegenwärtigendem Erzählen und Dialog nicht.
Für den Autor ist es eine Rückkehr im Triumph
Dass
dies über weite Strecken des langen Abends nicht geschieht, verdankt
sich Gotscheffs fabelhaften – und fabelhaft geführten – Schauspielern;
verdankt sich auch den Musikern Sandy Lopicic und Matthias Loibner, die
unaufdringlich, aber sehr präzise aus Kärntner Volksweisen,
Balkanfolklore, patriotischen Partisanengesängen und angloamerikanischer
Popmusik einen akustischen Flickenteppich weben.
Auch wenn der
Großvater (Matthias Leja) die Worte "Tragödie" und "Liebe" aus seiner
Familie verbannen möchte, brechen genau diese beiden in das vom Apfelbau
lebende Bauerngeschlecht ein: als "Meine Mutter", neben ihrem
Schwerenöterbruder Valentin (Hans Löw) die lebenslustige unter fünf
Geschwistern, in einer Nacht, für sie mehr wert als tausend Nächte, mit
einem deutschen Wehrmachtssoldaten den "Bankert" – das "Ich" des Stücks –
zeugt. Oda Thormeyer, von Ellen Hofmann mit einem leichtlebigen
Taftrock ausgestattet, hat einen starken Auftritt, wenn sie
höhnisch-trotzig die deutsche Nationalhymne herunterlacht. Verachtet aus
tiefem Herzen wird sie von ihrer Schwester Ursula, die Bibiana Beglau
mit dem rauhen dunklen Stolz der von der Familie Ausgestoßenen
ausstattet. Dass sie sich als Snezena, die "Schneeige", bei den
Partisanen neu erfinden darf, ist der Sehnsucht des Autors nach einer
Einschreibung der Familiengeschichte in den slowenischen Widerstand
geschuldet. Ihre heroischen Durchhalteparolen wirken mitunter papieren –
was ebenso für Handkes nie gekannten Patenonkel Gregor gilt. Tilo
Werner erklärt sich mit der schmalen Gestalt eines Intellektuellen zum
Partisanen und feiert den 8. Mai 1945 als den glücklichsten Tag in
seinem Leben – während der "echte" Gregor Siutz 1943 in Russland
gefallen ist. Dafür sterben im Stück Benjamin, der Jüngste, Valentin und
am Ende auch Ursula – was Gabriela Maria Schmeides Großmutter Anlass zu
einem grandiosen, furchterregenden Ausbruch wütender Trauer gibt.
Am
Ende steht dann das Ich wieder allein da, im Jaunfeld, der Blätterregen
ist mit dem Verschwinden der Gespenster naturgemäß versiegt. Und Jens
Harzer wird ein schwerer, schwerblütiger, bald eine Dreiviertelstunde
dauernder Monolog aufgebürdet, der ohne ironischen Ein- und Widerspruch
zur Predigt eines Jaunfeldbeschwörers, zum Gottesdienst an den heiligen
Kärntner Slowenen, zur unfreiwillig komischen Elegie auf das
Verschwinden des gütigen Menschen mutiert – und nicht wenige Zuschauer
bei der Premiere an den Rand der Erschöpfung brachte.
Die
Ovationen für das großartige Ensemble blieben davon unberührt.
Schließlich zeigte sich sogar der scheue Dichter – und riss im Abgang,
wir haben es gesehen, kurz die Arme hoch. Peter Handke ist im Triumph
nach Salzburg zurückgekehrt. Es wird ihm eine Genugtuung gewesen sein.
Festspiele: 2/20
Zuletzt aktualisiert: 13.08.2011 um 21:15 Uhr
Magisches Treffen im Laub der Zeit
Peter Handkes "Immer noch Sturm" geriet bei der Uraufführung zum großen Theaterabend. Nicht leicht konsumierbare viereinviertel Stunden im Sog unverkennbarer Sprache.
Foto © AP
Kurz nach dem Auftreten von "Ich", der Hauptperson in Peter Handkes jüngstem Theatertext "Immer noch Sturm", beginnen Blätter auf die leere Bühne zu fallen. Erst kurz vor Ende von Dimiter Gotscheffs Erst-Inszenierung stoppt der große Laubfall. "Ich" ist erneut allein. Physisch zumindest. Aber das Publikum weiß, dass in ihm seine Großeltern, seine Mutter, seine drei Brüder und seine Schwester ihr Wesen treiben. Den Nachgeborenen belasten, ihn aber auch beleben.
Rund vier Stunden hat man Gelegenheit, sieben Personen und ihren Autor zu beobachten, wie sie einander suchen. Vor allem: ihnen bei dieser Suche zuzuhören. Denn Handkes bereits im Vorjahr in Buchform erschienener Text ist zunächst ein Sprachereignis. Sprache ist nicht nur Mittel, sie ist Mittelpunkt. Die Entscheidung des Regisseurs, auf theatralischen Firlefanz weitgehend zu verzichten, ist deshalb so klug wie nahezu zwangsläufig.
Handkes magische Familienaufstellung ist wesentlich von sprachlichem Zwiespalt geprägt. Eine Problematik, die nicht neu ist im Werk des österreichischen Dichters slowenischer und "reichsdeutscher" Herkunft.
In "Immer noch Sturm", seinem auch nach eigener Aussage bisher persönlichsten Werk, wird dieses Dilemma auf vielen Ebenen mit unterschiedlichsten Stimmen be-, vielleicht auch verarbeitet.
Widerstand
"Immer noch Sturm" (der Titel ist eine Anweisung aus Shakespeares "König Lear") ist eine Art poetische Summe von Handkes Erforschung seiner eigenen "Sippe". Wie fast immer, geht es darüber hinaus um eine engagierte Auseinandersetzung mit Zeitgeschichte, die über das Private hinausgeht. So erfährt man viel über den Widerstand slowenischer Partisanen gegen das Terrorregime der Nazis. Über die kurze Wertschätzung dieses Widerstands. Über die mehr als miese Behandlung der slowenischen Minderheit nach 1945.
Das alles auf die Bühne zu bringen, ist kein leichtes Unterfangen. Aber Gotscheff und seinem famosen Ensemble gelingt eine Produktion, die sofort in ihren Bann zieht. Obwohl, wie gesagt, Theatertricks sehr sparsam eingesetzt werden. Als Vorbeugung möglicher Ermüdung.
Einziger Aufwand ist die von Katrin Brack ersonnene Blätterbeschneiungsmaschine. Ansonsten: ein Hocker, ein Melkschemel, ein paar Kleidungsstücke, ein Bündel als Baby. Und es gibt Schauspielerinnen und Schauspieler. Allen voran Jens Harzer als "Ich". Der 39-jährige Wiesbadener, seit 2000 mehrmals Gast in Salzburg (zuletzt 2008 als Raskolnikow in Andrea Breths Version von Dostojewskis "Verbrechen und Strafe"), entwickelt eine starke Ausstrahlung, hat man sich an Stimme und Sprache gewöhnt. Sein gewaltiger Schlussmonolog ist eine Tour de Force, inspiriert und kontrolliert.
Starke und verwundbare Frauen sind Oda Thormeyer, Bibiana Beglau und Gabriela Maria Schmeide. Wie sie kommen Tilo Werner, Hans Löw, Heiko Raulin und Matthias Leja ebenfalls aus dem Ensemble des Hamburger Thalia Theaters, das die Handke-Uraufführung mit den Festspielen koproduziert.
Subtil die musikalische Begleitung durch Sandy Lopicic und Matthias Loibner.
Handzeichen
Der Lohn für die spürbar intensive Arbeit: heftiger Applaus für alle Beteiligten. Nicht zuletzt für Peter Handke, der sich sogar auf die Bühne locken ließ, Beteiligte streichelte und umarmte. An das Publikum wandte sich der Autor fast verlegen. Gab, was die Figuren des Stücks des Öfteren geben: "Handzeichen, mit denen wir einander noch zuwinken". Wie es im letzten Satz des gedruckten Textes hoffnungsvoll heißt.=
Gerechtigkeit für Peter Handke!
Eine Salzburger Urverhunzung: Wie Dimiter Gottscheff das Lesedrama "Immer noch Sturm" in Papierschnipsel zerlegt
Salzburger Sommerschicksal, wie es im Buche steht - und zwar im "König Lear" von Shakespeare: "Der Regen, der regnet jeglichen Tag", sagt darin der weise Narr. Dem "Lear", einer Szenenanweisung im dritten Aufzug, verdankt sich der Titel von Peter Handkes dramatischem Familienromangedicht. Aus "Storm still" wurde "Immer noch Sturm", aus der wilden Heide - einer Weltlandschaft von Wahn und Verzweiflung - das Kärntner Jaunfeld, irgendwann im 20. Jahrhundert.
Salzburger Festspielschicksal: Auch auf der Bühne der Halleiner Perner-Insel regnet es unentwegst, fast vier Stunden lang. Allerdings rieseln hier hellgrüne Papierschnitzel herab und ergeben ein Blätterrund als Hauptspielfläche. Fürwahr, ein hübscher, metaphorisch fruchtbarer Einfall der Bühnenbildnerin Katrin Brack. Doch weil arg überstrapaziert, erzeugt er schließlich nichts als optische Langeweile, schafft einen Schleier der Verunklärung. Keineswegs das Schlimmste, was da einem der schönsten Handke-Texte nicht nur der letzten Jahre widerfuhr: Gnadenlos, sicher nicht aus Absicht, eher aus Unvermögen, wurde er seines Kunstcharakters beinah zur Gänze beraubt.
Wie konnte das geschehen? Wer das Programmheft voll kenntnisreicher Beiträge liest, den enttäuscht die Inszenierung Dimiter Gotscheffs, eine Koproduktion mit dem Hamburger Thalia Theater, besonders bitter. Gewiss muss nicht jeder, der Handke inszeniert, Handke-Spezialist sein, zuweilen ist der - mag sein: respektlose - Blick von außen sogar hilfreich. Aber so sehr darf eine szenische Umsetzung, die Belebung des gedruckten Worts sein sollte, das ästhetische Niveau der Vorlage nie und nimmer unterschreiten.
"Immer noch Sturm" verdankt seinen Reiz auch und gerade dem Ineinander von privater und allgemeiner Geschichte. Mütterlicherseits stammt Handke, das uneheliche Kind eines deutschen Wehrmachtsangehörigen, von Kärntner Slowenen ab. Zwei seiner Onkel fielen als Soldaten im Weltkrieg, darunter sein Taufpate Gregor, der ihn und den er nie zu Gesicht bekommen hat. Gregor Siutz hatte im slowenischen Maribor an der Landwirtschaftsschule Obstbau studiert, sein handschriftliches Studienbuch nahm bei den Hinterbliebenen ebenso hohen Stellenwert ein wie seine Feldpostbriefe, in Handkes Bleibe bei Paris hat es einen Ehrenplatz.
Onkel Gregor, der "Apfelmensch", war sozusagen der erste Literat der kleinhäuslerischen Familie, wurde für den Neffen die leitmotivische Wunschtraumfigur. Mehrmals hat er ihr literarische Denkmäler gesetzt: Als Gregor Keuschnig taucht sie in "Die Stunde der wahren Empfindung" und "Mein Jahr in der Niemandsbucht" auf, unter dem Nachnamen Kobal oder nur mit Vornamen in anderen Werken. In der dichterischen Fantasie verwandelte Handke ihn freilich zum Deserteur und Kämpfer der Kärntner Partisanen, der einzigen nennenswerten bewaffneten Widerstandsgruppe auf großdeutschem Reichsgebiet.
Österreich verdankt ihnen viel: Es war jener - kleine - Beitrag zur eigenen Befreiung, den die Alliierten in der Moskauer Deklaration 1943 von den "Ostmärkern" als Vorbedingung für die künftige Unabhängigkeit forderten. Der Dank vom republikanischen Hause Österreich: Vom nationalsozialistischen Regime brutal verfolgt, stand die slowenische Minderheit auch in der Zweiten Republik unter starkem Assimilationsdruck, bis in die allerjüngste Vergangenheit wurde ihr das durch die Verfassung verbriefte Recht auf zweisprachige Ortstafeln verwehrt. Im offenbar unsterblichen NS-Jargon gelten die Kärntner Partisanen heute noch bei gar manchem Kärntner als Banditen, Mörder, Vaterlandsverräter. Einmal nur, am 8. Mai 1945, dem Tag der Kapitulation des Dritten Reichs, konnte sich die Minorität, das Volk der Knechte, als Sieger über ihre Unterdrücker fühlen.
Genau vor diesem historischen Hintergrund veranstaltet Handke seine Ahnen- und Totenbeschwörung, im Bezirk der Psychotherapie würde man das "Familienaufstellung" nennen. Der Ich-Erzähler, unverkennbar Peter Handke, sitzt auf einer Bank unter einem Apfelbaum, sieht vor seinem inneren Auge die schwankenden Gestalten von Großeltern, Mutter, Onkeln und Tante. Ohne Zweifel selbst Schwarz auf Weiß eine heikle Angelegenheit. Obendrein wird niemand leugnen: "Immer noch Sturm" hat mit traditioneller Dramentechnik ähnlich wenig gemein wie Elfriede Jelineks aus assoziativen Textflächen zusammengesetzte Stücke.
Aber wenn die deutschen Theater mittlerweile sämtliche Thomas-Mann-Romane mehr oder minder erfolgreich verwurstet haben, wäre eine angemessene Spielfassung dieses Lesedramas wohl zu verlangen gewesen. Also eine, die der Komplexität des Originals, dem Kopftheater während der Lektüre, halbwegs gerecht wird. In "Immer noch Sturm" finden sich eine Unmenge pathetischer Sätze, die indes durch den Kontext sofort gebrochen, ins Widersprüchliche gehoben werden. Das ist einer von Handkes Kunstgriffen, der es ihm gestattet, in seinen fünf Akten (Kapiteln) alles unterzubringen: Pathos und Ironie, Klartext der Geschichte und lyrische Einsprengsel, das blutig Ernste und das Spielerische dichterischer Freiheit.
Aus solchem Oszillieren zwischen den Gegensätzen ergibt sich bei ihm bezwingende Leichtigkeit, das Schwebende, kurzum: Poesie. Selbst beherzte Striche könnten kaum schaden, wenn der Geist des Ganzen erkannt und bewahrt wird. Werden indes bloß einzelne Passagen herausgegriffen, bleibt plumpes Verlautbarungs- und Sprechblasentheater übrig. Ein Traum- und Trauma-Spiel wird auf die Ebene des Platten gezerrt. Davon abgesehen, hantiert Handke mit Anspielungen und Kryptozitaten aus katholischer Liturgie, Bibel und Literatur, und der Verteidiger des "Andersschönen" weiß: In der Dichtung haben Heilige Schriften allein in blasphemischer Verfremdung Existenzberechtigung. Naturgemäß wurde derlei vom Regisseur achtlos eliminiert, verhunzt und niedergebügelt. Nein, es geht nicht um Textvollständigkeit, sondern um ein Mindestmaß an Verständnis für den von Handke geöffneten Hallraum, um Polyphonie statt tumber Eindimensionalität. Und es gäbe theatralische Möglichkeiten genug, all dies zu versinnlichen.
Könnte sich Jens Harzer von seinem nervenden Bruno-Ganz-Sound als Ich-Erzähler lösen, vertraute man ihm gerne eine Hörbuchfassung von "Immer noch Sturm" an: Denn Harzer, der Beobachter am Rande, Spielleiter und Double des jüngeren Handke, exekutiert seine Partie nicht wie auswendig gelernt, er scheint sie beim Sprechen zu verfertigen. Und Oda Thormeyer, seine Mutter, zeigt jene symbiotische Intensität im Verhältnis zu ihrem Sohn, die ihn krank machen würde, machte sie ihn nicht zum Dichter.
Wie fremd Dimiter Gotscheff Peter Handkes im besten Sinne bewegende Dichtung ist, beweist der Schluss dieser so genannten Uraufführung: An Stelle von Skepsis und Weltverdruss herrscht ungebrochener Kitsch, zu dem er eine aus dem Zusammenhang gerissene Handke-Formel degradierte: "Tausendvogelgesang samt Nachtigall
SALZBURGER FESTSPIELE
Design: Gotscheff inszeniert Handke
Foto: dapd
Ahnen unterm Apfelbaum: Oda Thormeyer (l.) und Bibiana Beglau im Schnipselgestöber von Katrin Brack.
von Dirk Pilz
Salzburg - Und als dann der Dichter vor dem jubelnden Festspielpremierenpublikum erschien, über die Bühne irrte und verschüchtert winkte, war’s, als würde hier der verlorene Sohn gefeiert. Draußen in Hallein, vor den Toren Salzburgs, wurde am Freitag "Immer noch Sturm" von Peter Handke uraufgeführt, die Agenturen meldeten Triumph.
Das neue Handke-Stück ist eine Seance in fünf Prosaakten, betitelt nach einer Regieanweisung in Shakespeares "King Lear". Der Sturm ist bei Handke die "vermaledeite" Geschichte, ist "der Teufel in uns, in dir, in uns allen, spielt Gott, höchste Instanz, höchstes Prinzip". Handke ringt mit diesem seinem höchsten Gott wie nur Gläubige zu ringen vermögen. "Aus der Geschichte lernen? Ja, die Hoffnungslosigkeit." Das verkündet dieser Text, Kurzroman und Großdrama in einem, an seinem Ende.
Es fällt kein Apfel weit vom Stamm
"Gang der Geschichte? Nicht eher Lindwurm, der sich selber in den Schwanz beißt?" Es gibt kein Entkommen aus der Geschichte, kein Vorwärts, kein Besser. "Immer noch Sturm": eine Schwarz-Messe, eine Geisterbeschwörung, wieder einmal. Immer rufen Handkes Texte in den Resonanzraum der Geschichte hinein, und was sie verzeichnen, sind Kartographien des Verschwundenen, die unerbittlich ihre Schatten auf das Hier und Heute werfen. Das Tragische, das Theaterdramatische ist bei Handke stets in diese Schattenwürfe gebettet, in diesem Stück besonders.
Das Setting dabei: denkbar einfach. Es sitzt da einer auf einer Bank unter einem Apfelbaum. Es nähern sich ihm, "von allen Seiten", seine Vorfahren, umstellen das "Ich", die "heutige Allerweltsfigur". Es fällt schwer, in ihr nicht Handke zu entdecken. "Immer noch Sturm" ist, wieder einmal, ein hyperpersönliches Handke-Heimatstück. Denn die da erscheinen sind Kärntner Slowenen im Jauntal, Handke-Vorfahren, die Geister seiner "Sippe", sattsam Bekannte aus seinen autobiographischen Ringkampftexten. Hier erzählt er vom Widerstand seiner Jaunfeldtaler gegen das Nazi-Regime, dem einzig bewaffneten Aufstand innerhalb der Grenzen des Tausendjährigen Reiches.
Wir hören Onkel Gregor und Tante Ursula, die zu den Partisanen in den Wäldern gehen, den Großvater, der von "Liebe" und "Gott" in seinem Haus nichts wissen will, den "Weiberer" Valentin, die Mutter. Sie kämpfen für ihre slowenische Minderheitensprache, ihr Kärntner Gebirgsgrenzland, ihre Familienapfelbäume.
Was sie den Nazis abtrotzen, wird ihnen von den demokratischen Nachfahren genommen; bis heute sind sie schlecht gelitten in Österreich. Das "Ich" erträumt ihnen eine Auferstehung um der Gerechtigkeit willen - die Toten sind nicht tot, so lange einer sie träumt. Das ist Handkes Hoffnungsglaube: Rettung kommt aus dem Vorvergangenen. Das ist seine Gewissheit: Es fällt kein Apfel weit vom Stamm.
Untypische Bebilderung
Claus Peymann sollte dieses Stück uraufführen; er hat sich mit Handke überworfen. Jetzt hat sich Dimiter Gotscheff in einer Koproduktion mit dem Hamburger Thalia Theater bei den Salzburger Festspielen daran versucht. Es sind fünf Stunden Theater entstanden, das viele Worte macht, aber dem Text stets nur hinterherhumpelt. Die Schauspieler wirken wie Seifenblasenhäscher: Jeder Satz zerplatzt, sobald sie ihn zu fassen bekommen. Welch seltsame Leere, welch bleierne Virtuosität dieser Abend verströmt.
Jens Harzer ist der "Ich"-Erzähler. Mit Stock und Schemel wankt er auf die leere Bühne, tastet sich in seine Rolle hinein, jongliert mit ironischen Untertönen, versucht sich in Wut und Zorn, schmeckt den Worten ihre melancholische Tiefe ab - und bleibt vor ihnen doch wie ein Fremdling stehen. Alle an diesem Abend umtappen den Text wie Ungläubige die Altäre des Heiligen. Bibiana Beglau, Hans Löw, Oda Thormeyer, Matthias Leja, Tilo Werner, Gabriela Maria Schmeide, Heiko Raulin: virtuose Wortspieler, aber Vereinzelte, verloren zwischen den Zeilen.
Gotscheff ist ein Meister darin, Dramen in bühneneigensinnige Partituren zu verwandeln. Seine besten Arbeiten sind scharfkantige, schmockfreie Sprechopern. Hier aber bleibt er zwischen Aufsage- und Figurenausmaltheater hängen. Untypisch für ihn: Er bebildert. Es wird marschiert, wenn von Soldaten gehandelt wird. Es wird gegreint, wenn es um Tränen geht. Es werden Äpfel gegessen, weil von Äpfeln die Rede ist.
Und Katrin Brack, die Bühnenbildnerin, lässt fortwährend grün-gelbe Schnipsel aus dem Himmel regnen. Es sind schöne Designtheaterbilder, die daraus entstehen: lauter verwischte Figuren im Blättersturm. Handkes gestochen scharfe Traumgesichte verwandeln sich so in ein verschwiemeltes Beraunen des Vergangenen: Die Geschichte wird zum dumpfen, stummen Schicksalsblock. Ein trauriger Triumph.
Berliner Zeitung, 15.08.2011
Peter Handkes Kärnten-Stück "Immer noch Sturm": Uraufführung bei den Salzburger Festspielen
Die Slowenen zum Sprechen gebracht
Von Hans Haider aus Hallein
Oda Thormeyer als Mutter und Bibiana Beglau (oben) als Schwester Ursula in Peter Handkes Stück "Immer noch Sturm".APAweb / Gindl
Claus Peymann wollte im Burgtheater Peter Handkes dramatische Erzählung "Immer noch Sturm" herausbringen. Doch der Meister kalkulierter Erregungsspiele kapitulierte vor der wundersam langsamen, gedanken- und empfindungstiefen Sprechpartitur über die Kärntner Slowenen, ihren Widerstand im Deutschen Reich, ihre Assimilation bis heute.
Der mit Heiner Müller in Deutschland zu Regieehren gekommene Dimiter Gotscheff empfahl sich als Regisseur für die Uraufführung bei den Salzburger Festspielen. Er hat den Selbstbehauptungswillen südslawischer Völker im Kopf und vielleicht auch im Blut. Und jedenfalls die Melodik des Volksgesangs.
Sandy Lopicic, mit bosnischen Wurzeln, malt in seiner Musik nicht nur Folklorekulissen. Sie bildet auch Dissonanzen, Brüche ab in der bäuerlichen Kultur des Jaunfelds. Katrin Brack ließ das schwarze Bühnenmaul, groß wie ein Hangar, undekoriert. Aus dem Bühnenhimmel rieseln stetig grüne, gelbe, braune Blätter. Ein schimmernder Spielboden aus Laub, so real wie irreal. Hier soll, mit vielen Sprüngen auf der Zeitachse, ein erzählendes "Ich" seine slowenischen Großeltern, seine Mutter und deren Geschwister sowie sich selbst zum Sprechen bringen.
"Sprache retten ist Seele retten", bekennt Handke in seinem Kompendium poetischer, philosophischer, politischer Positionen (viele davon sind im Erschrecken vor großen Worten wieder aufgehoben), von Verwünschung und Heldenverehrung, Selbstbezichtigungen und Liebeserklärungen, Blödelei ("Wie heißt der Erfinder der Schuhlöffels") und Erlösungssehnsucht.
Die zu rettende Zunge ist die slowenische. In Onkel Gregors 1936 handgeschriebenem Werkbuch zum Obstbau ("Sadjarstvo!") klingt sie paradiesisch rein wie eine Schöpfungsgeschichte. Tilo Werner hält es überm Kopf wie die Bibel in der lateinischen und orientalischen Messe. Gregor wird sieben Jahre später in die Wälder abtauchen zu den Partisanen - wie zuvor seine "düstere" Schwester (Bibiana Beglau), die gefoltert und getötet wird. Bruder Benjamin (Heiko Raulin) fällt als Wehrmachtssoldat.
Valentin kehrt vom Urlaub "heim in den fremden Krieg" - und nie zurück. Die jüngere Schwester (Oda Thormeyer), für den Ich-Erzähler "Meine Mutter", von einem deutschen Soldaten schwanger, flieht aus dem Druck von Familie und Volksgruppe nach Berlin. Das Wickelkind in ihren Armen: ein Kuckuck im Nest, ein Volksfeind. Mit fast siebzig Jahren wird sich dieses vaterlose Kind eine Ahnengalerie auf Papier ausmalen. Mit Lebensfarben und Traumpasten. Seinem Buch stellte Handke ein Zitat von Georges Bernanos voran. Einzig "den Kindern, den Helden und den Märtyrern", so der Prediger für den Renouveau catholique und die Résistance, gehöre der für "eine Errettung noch zugängliche Teil der Welt".
Es fällt kein Apfel weit vom Stamm
Dimiter Gotscheff hat bei den Salzburger Festspielen «Immer noch Sturm» uraufgeführt, das neue Stück von Peter Handke
Dirk Pilz ⋅ Das neue Stück von Peter Handke ist eine Séance in fünf Prosaakten, «Immer noch Sturm» betitelt, nach einer Regieanweisung in Shakespeares «King Lear». Der Sturm ist bei Handke die «vermaledeite» Geschichte: «der Teufel in uns, in dir, in uns allen, spielt Gott, höchste Instanz, höchstes Prinzip». Handke ringt mit diesem seinem höchsten Gott, wie nur Gläubige zu ringen vermögen. «Aus der Geschichte lernen? Ja, die Hoffnungslosigkeit.» Das ist die Summe, das verkündet dieser Text, Kurzroman und Grossdrama in einem, an seinem Ende, der kein Abschliessen, sondern wütendes Verzweifeln darstellt.
«Gang der Geschichte? Nicht eher Lindwurm, der sich selber in den Schwanz beisst?» Es gibt kein Entkommen, kein Vorwärts, kein Besser. «Immer noch Sturm»: eine Schwarz-Messe, eine Geisterbeschwörung, wieder einmal. Immer rufen Handkes Texte in den Resonanzraum der Geschichte hinein, und was sie verzeichnen, sind Schmerzechos des Verlusts, Kartografien des Verschwundenen, die unerbittlich ihre Schatten auf das Hier und Heute werfen. Das Tragische, das Theaterdramatische ist bei Handke stets in diese Schattenwürfe gebettet, in diesem Stück besonders.
Das Setting dabei: denkbar einfach. Einer sitzt auf der Bank unter einem Apfelbaum, «behängt mit etwa 99 Äpfeln». Es nähern sich ihm «von allen Seiten» seine Vorfahren, «in Schwarzweiss», erzählen, bedrängen, verhöhnen den Sitzenden, das «Ich», die «heutige Allerweltsfigur». Es fällt schwer, in ihr nicht Peter Handke zu entdecken. «Immer noch Sturm» ist, wieder einmal, ein hyperpersönliches Handke-Heimatstück. Denn die da erscheinen, sind Kärntner Slowenen im Jauntal, Handke-Vorfahren, die Geister seiner «Sippe», sattsam Bekannte aus Handkes Texten, die stets auch autobiografische Kämpfe sind.
Hier erzählt der Dichter vom Widerstand seiner Jaunfeldtaler gegen das Nazi-Regime, dem einzigen bewaffneten Aufstand innerhalb der Grenzen des Tausendjährigen Reiches. Wir hören Onkel Gregor und Tante Ursula, die zu den Partisanen in den Wäldern gehen; den Grossvater, der von «Liebe» und «Gott» in seinem Haus nichts wissen will; den «Weiberer» Valentin; die Mutter. Sie kämpfen für ihre slowenische Minderheitensprache, ihr Kärntner Gebirgsgrenzland, ihre Familienapfelbäume. Was sie den Nazis abtrotzen, wird ihnen von den demokratischen Nachfahren genommen; bis heute sind sie schlecht gelitten in Österreich. Das «Ich» unterm Apfelbaum erträumt ihnen eine Auferstehung um der Gerechtigkeit willen – die Toten sind nicht tot, solange einer sie träumt. Das ist Handkes Hoffnungsglaube: Rettung kommt aus dem Vorvergangenen. Seine Gewissheit: Es fällt kein Apfel weit vom Stamm.
Claus Peymann sollte dieses Stück uraufführen; er überwarf sich mit Handke. Jetzt hat sich Dimiter Gotscheff bei den Salzburger Festspielen daran versucht. Es sind fünf Stunden Theater entstanden, das viele Worte macht und Bilder arrangiert, aber dem Text stets nur hinterherhumpelt. Die Schauspieler wirken wie Seifenblasenhäscher: Jeder Satz zerplatzt, sobald sie ihn zu fassen bekommen. Welch seltsame Leere, welch bleierne Virtuosität.
Jens Harzer ist der «Ich»-Erzähler. Mit Stock und Schemel wankt er auf die leere Bühne, tastet sich in seine Rolle hinein, jongliert mit ironischen Untertönen, versucht sich in Wut und Zorn, schmeckt den Worten ihre melancholische Tiefe ab – und bleibt vor ihnen doch wie ein Fremdling stehen. Alle an diesem Abend umtappen, beschnuppern, bestaunen den Text wie Ungläubige die Altäre des Heiligen. Bibiana Beglau, Hans Löw, Oda Thormeyer, Matthias Leja, Tilo Werner, Gabriela Maria Schmeide, Heiko Raulin: virtuose Wortspieler, aber Vereinzelte, verloren zwischen den Zeilen. Sie leisten schwerste Textverwertungsarbeit, zäh und zahm. Niemand hat der Vorlage etwas entgegenzusetzen, hinzuzufügen.
Gotscheff ist ein Meister darin, Dramen in Bühnen-Partituren zu verwandeln. Seine besten Arbeiten sind strenge, scharfkantige Sprechopern, frei von Schmock und Schnörkeln. Hier aber bleibt alles im Unentschiedenen hängen, zwischen Aufsage- und Figurenausmaltheater. Es wird marschiert, wenn von Soldaten gehandelt wird. Es wird gegreint, wenn es um Tränen geht. Es werden Äpfel gegessen, weil von Äpfeln die Rede ist. Und Katrin Brack, die Bühnenbildnerin, lässt fortwährend grün-gelbe Schnipsel aus dem Himmel regnen. Daraus entstehen schöne Designtheaterbilder: verwischte Figuren im Blättersturm. Handkes gestochen scharfe Traumgesichte verwandeln sich so in ein verschwiemeltes Beraunen des Vergangenen. Die Geschichte: ein dumpfer Schicksalsblock.
Vom Publikum wurde Handke gefeiert wie der heimgekehrte verlorene Sohn. Er irrte über die Bühne, winkte, staunte.
Verbeugt hat er sich nicht.
© SN/SW
Peter Handkes Familien-Traum-Stück in Salzburg uraufgeführt
Von Karin Fischer
In Peter Handkes Werk "Immer noch Sturm" spürt der Dichter den Geheimnissen der Existenz nach - und zwar vor allem seiner eigenen, familiären. Das in Salzburg uraufgeführte Familienepos erzählt vom Widerstand slowenischer Partisanen aus dem Innern des Großdeutschen Reiches gegen die Nazis.
Handkes Text ist mehr dialogisches Traum-Spiel als Drama oder Erzählung, nicht kategorisierbar, formal ein Bastard, wie das Ich im Text, das von der slowenischen Mutter mit einem deutschen Soldaten gezeugt wurde. Dieses "Ich", natürlich ein Alter Ego des Autors, träumt sich auf einer Sitzbank im Kärntner Jaunfeld seine Familie herbei, und damit eine Geschichte, die eigentlich eine Tragödie ist. Handke erzählt vom einzigen Widerstand aus dem Innern des Großdeutschen Reiches gegen die Nazis: slowenische Partisanen in Kärnten erhoben sich gegen die Fremdherrschaft, mussten nach dem Krieg aber erfahren, dass die größeren Räder der Geschichte noch einmal rücksichtslos über sie hinweggingen.
In einem Interview hat der Dichter das Stück einen "Sturm gegen die Geschichte, gegen Geschichte als Fortschrittskategorie" genannt. Das stimmt. Alles bleibt aber eine große, poetisch durchformte Fantasie in der die slowenische Apfelbaumlandschaft oder die Sprache eine ebenso große Rolle spielen wie die eingestreuten Geschichtssplitter oder politischen Hintergründe. Gleich am Anfang steht der Duktus des "oder", das Motiv der Täuschung:
"Eine Heide, eine Steppe, eine Heidesteppe, oder wo. Jetzt, im Mittelalter, oder wann. Was ist da zu sehen? Eine Sitzbank, eine zeitlose, im Mittelgrund, und daneben oder dahinter oder sonstwo ein Apfelbaum, behängt mit etwa 99 Äpfeln, Frühäpfeln, fast weißen, oder Spätäpfeln, dunkelroten. Ob das Gedächtnis täuscht oder nicht: aus der einen, dann der anderen Ferne ein Angelusläuten."
Die Bühnenbildnerin Katrin Brack, berühmt für ihre einfach-bedeutsamen Bühnenzeichen, lässt, unaufhörlich, vier Stunden lang, grüne Papierschnipsel kreisrund auf den Boden regnen. Der Blätterregen ist Vorhang, Landschaft und ausgeleuchtete Spielfläche zugleich. Jens Harzer als "Ich" sitzt meist außerhalb, auch Bibiana Beglau als "Düsterschwester" Ursula tritt erst später in den Kreis. Sie ist fast immer wütend und stimmt früh die wichtigen Themen an: Identität, Sprache, Krieg.
"Vielleicht stimmt er ja doch, der Spruch aus der Gegend: Einen Platz findet nur, wer ihn selber mitbringt? Habe ich vielleicht nie das, wie soll ich sagen, Platzhaben verkörpert? Nicht ihr habt mir also keinen Platz gelassen, sondern ich bin schon platzlos geboren, und demgemäß auf Krieg aus, auf Welt- wie Familienkrieg? Erbarmen, Mutter. Hast du mir nicht erzählt, dass in unserer Sprache hier "Mutterleib" und "Erbarmen" dieselbe Wurzel haben?"
Das Familienepos zeigt die Großeltern und deren fünf Kinder, darunter die Mutter des Ich-Erzählers, von 1936 bis nach dem Krieg, mit wenigen Andeutungen entstehen ganz eigenständige Charaktere. Vielleicht, um die Künstlichkeit der Szene zu verdeutlichen, stellt Regisseur Dimiter Gotscheff den Text mehr aus, als dass er ihn spielen ließe. Die Figuren wirken so wirklich wie aus einer fremden Welt, wie aus einem Märchen, bestreiten aber die erste Hälfte auch wie festgewachsen, als frontales Steh- und Erzähltheater. Wo Handke Bilder und Stimmung evoziert, nagelt Gotscheff Worte fest. So entsteht eine ungute Diskrepanz zwischen der leicht flirrenden Sprach-Welt des Autors und der merkwürdigen Starrheit der Szene. Erst spät, und vor allem im zweiten Teil, verwandeln die zwei Musiker im Bühnenhintergrund und mehr Gesang der Schauspieler das Stück in seine angemessene Form als Klang-Gedicht. Herausragend: Oda Thormeyer als zweite Schwester und Mutter des Ich-Erzählers. Wenn sie die deutsche Nationalhymne "lacht" oder die Konfrontation mit einem "Obersturmkommandant" spielt, entsteht unmittelbares, lebendiges Theater.
Zwei Brüder fallen an der Front, Gregor, der Partisanen-Kommandant, überlebt, Ursula, auch sie im Widerstand, stirbt in den Händen ihrer Folterer. Den Schlussdialog zwischen Gregor und dem Erzähler legt Gotscheff allerdings alleine Jens Harzer in den Mund, wodurch die Inszenierung in schlechtem Pathos endet. Harzer verfehlt damit die klugen geschichtspolitischen Gedanken Handkes und spitzt die Szene zur näselnd-manirierten Abrechnung eines selbstmitleidigen Erzählers zu. So galt der größte Applaus am Ende nicht dem Regisseur, sondern dem scheuen Dichter Peter Handke, der mit "Immer noch Sturm" die eigenen Lebensthemen mit der Ungerechtigkeit von Geschichte verknüpft und damit nicht nur ein vielstimmiges, vielschichtiges Vermächtnis geschaffen hat, sondern den Kärntner Slowenen auch auf höherer Ebene Gerechtigkeit widerfahren lässt.
NACHTKRITIK
Handkes große Bühnen-Poesie
12. August 2011 23:03
"Immer noch Sturm" auf der Salzburger Pernerinsel
Hallein - Peter Handke betreibt in seinem Kärntner Welttheatertext "Immer noch Sturm" poetische Wurzelkunde: Er beschwört die Erscheinung seiner slowenischen Vorfahren. Er zitiert sie - und sich - auf das Jaunfeld, um als Zuhörer wie als familiär Verstrickter über das Schicksal einer ganzen Volksgruppe Gericht zu halten - als ein Liebender, die eigene Sippe Belauschender, der ihr die herrlich tönenden Handke-Wörter und -Sätze spendiert.
Die Uraufführungsinszenierung der Salzburger Festspiele mobilisiert auf der Perner-Insel in Hallein Naturgewalten: Bühnenbildnerin Katrin Brack lässt ohne Unterlass hellgrüne Papierschnitzel auf die Spielfläche regnen. Auf dieser ereignet sich - so der Eindruck zur Pause - die Aufhebung des Theaters durch reine Poesie: Man meint, Regisseur Dimiter Gotscheff hätte alle Rücksichten auf die Unterhaltungsgelüste des Festspielpublikums fahren lassen! Im Blättergestöber werden Lebensschicksale binnen Sätzen durchmessen; im engen Lichtrund wird die Tragödie der Kärntner Slowenen gegen die so genannte Geschichtsschreibung behauptet.
Ein oratorisches Ereignis: archaisch, von Handkes schrägem Humor belebt und aus der Grube des falschen Tiefsinns immer wieder triumphal herausgerissen. In einem makellosen Hamburger Thalia-Ensemble dominiert Jens Harzer als Ich-Erzähler, der gaumig und sarkastisch einen antiken Seher gibt - von heute hinter der Handke-Brille hervorlugend, die Schemen der Vergangenheit taxierend und prüfend. Großes Gegenwartstheater auf der Höhe von Max Reinhardts Träumen. (Ronald Pohl/DER STANDARD, Printausgabe, 13.8.2011)
"Immer noch Sturm": Handkes poetische Familiensaga
13.08.2011 | 17:50 | von Norbert Mayer (Die Presse)
Regisseur Dimiter Gotscheff hat "Immer noch Sturm" bei den Salzburger Festspielen uraufgeführt. Pathos und Ironie fügen sich zu einem beeindruckend dichterischen Spiel, nur der Schluss gerät aus den Fugen
Gelegentlich unternimmt der Schriftsteller Peter Handke in seinen Werken eine sentimentale Reise in seine alte Heimat Koroška/Kärnten. Dann wird Familiengeschichte aufgearbeitet, so wie zum Beispiel in dem dramatischen Gedicht „Über die Dörfer“, das 1982 in Salzburg uraufgeführt wurde, oder in dem Roman „Die Wiederholung“ von 1986, einem für die zeitgenössische europäische Literatur bedeutenden T
Eindrücklich ist ihm die langsame Heimkehr auch mit dem 2010 veröffentlichten Drama „Immer noch Sturm“ gelungen, das am Freitag bei den Salzburger Festspielen auf der Pernerinsel in Hallein uraufgeführt wurde.
Der bulgarische Regisseur Dimiter Gotscheff hat diesen 166 Seiten langen Text bis zur Neige ausgekostet. Es wird reichlich erzählt und nur sparsam gespielt. Fast fünf Stunden inklusive einer kurzen Pause dauert die Vorstellung, eine Koproduktion mit dem Thalia Theater Hamburg. Mit List, Sanftheit und auch mit Brutalität weist er acht Schauspieler und zwei Musiker an, in edelster deutscher Sprache das Epos vom tapferen slowenischen Volk in Koroška/Kärnten vor und im Zweiten Weltkrieg zu singen. Keine Show, sondern ein Hochamt. Der Text ist über weite Strecken höchst impressiv, endet aber, und das mindert das Schauspiel dieses schönen Abends letztendlich doch, in einem langen Monolog, der pathetisch kommentiert, was zuvor ohnehin deutlich herausgearbeitet wurde: Österreich ist das Fette, an dem Handke würgt, das schöne Jauntal hingegen ist die verloren gegangene Bleibe, die ihm das Herz zerreißt.
King Lear auf der Heide. Drei Generationen suchen eine Geschichte, auf einer Heide, einer Steppe, einer Heidesteppe („Immer noch Sturm“ lautet eine Regieanweisung in Shakespeares „King Lear“). Hier also, im Osten von Kärnten, lässt ein „Ich“ (Jens Harzer) seine Vorfahren aus dem Nebel wie aus dem Nichts auftauchen. Dieser Dichter geht bereits am Stock, er trägt ein Stockerl mit sich, auf ihm hockend schaut er ins Land hinein, durch seine braun getönte Hornbrille, die an den jungen Handke vor mehr als 40 Jahren erinnert.
Katrin Brack hat die Bühne minimal ausgestattet. Schwarz und groß ist sie, während der ganzen Vorstellung rieseln grüngelbe Lamettablätter herab, die eine Herbstwiese entstehen lassen. Die Musiker Sandy Lopicic und Matthias Loibner, die eine spannende Atmosphäre entstehen lassen auf dem schmalen Grat zwischen Dissonanz und Harmonie, halten sich im Dunkel des Hintergrunds.
Vorne sitzt der Autor auf einer imaginierten Bank, bald gesellen sich die Großeltern (Gabriela Maria Schmeide, Matthias Leja), die Mutter (Oda Thormeyer) und deren vier Geschwister dazu. Sie necken den Nachfahren, den Zerrissenen, der inzwischen älter ist als sie selbst. „Kannst du uns nicht endlich in Ruhe lassen?“, fragen sie mürrisch. Und bieten sich zugleich willig als Projektionsfläche für die Fantasien des Dichters an.
Wovon träumt der? Vom richtigen Leben im falschen? Zwei der Geschwister seiner Mutter sind zu den Partisanen gegangen, waren beim einzigen organisierten Widerstand gegen das Nazi-Regime im ganzen Reich: Ursula (Bibiana Beglau), die bittere Magd, die aufblüht, als sie unter dem neuen Namen Snežena (die Schneeige) zur Kämpferin wird. Aufgelehnt hat sich auch der verehrte Onkel Gregor, der sensible, einäugige Obstbauer, der an der Fachschule in Maribor/Marburg als junger Mann in der Zwischenkriegszeit die Welt kennengelernt hatte, der kein Blut sehen kann und (bei Gotscheff) zum Kommandanten im Wald wird, der nicht vor der Hinrichtung schwach gewordener Mitkämpfer zurückschreckt. Jonatan nennt er sich dort oben in den Bergen.
Starke Frauen. Diese beiden Geschwister sind die Leitfiguren des Dramas, konsequent in ihrem Widerstand. Pathos und Sentiment, dem Kärntner an sich nicht fremd, ist in diesem Fall angebracht. Die überwiegende Mehrzahl der Partisanen ist damals im Kampf gegen Hitlers Truppen gefallen. Valentin hingegen (Hans Löw), der zweitälteste Bruder, ist ein leichtlebiger Frauenheld, der sich zu arrangieren weiß, der Englisch spricht und vom Westen träumt, während er in der Wehrmacht dient. Und Benjamin (Heiko Raulin), der unbeholfene jüngste Bruder, bleibt eine Randfigur, auch weil er als erster beim Fronteinsatz ums Leben kommt.
Drei Kinder verlieren die Großeltern im Zweiten Weltkrieg, und diese Szenen mit den Todesnachrichten sind tatsächlich rührend. Fluchend und lästernd, heulend wie irre Könige auf der Heide begegnen sie dem Grauen. Zur Überfigur wird da die Großmutter in ihrem Hader, den zusammengekauerten Großvater im Schoß wiegend. Diese starke Frau wird dennoch die Überlebenden zurück zu den Partisanen schicken. (Stark ist dieser Auftritt, stark auf ihre jeweils individuelle Art sind die drei Schauspielerinnen in einem hervorragenden Team.) Harte, Härte gewohnte Bauern sind diese Eheleute. Das Wort Tragödie darf in ihrem Haus nicht vorkommen. Und auch das Wort Liebe verbittet sich der Großvater.
Die Liebe aber kommt auf Umwegen in dieses Haus und trifft umso stärker die am ärgsten zerrissenen der Figuren. Die Mutter des Erzählers wird in ihrer ersten Liebesnacht von einem deutschen Soldaten geschwängert, sie ist eine lebenslustige Person und auch des Spotts mächtig. Thormeyer hat eine grandiose Szene, als sie zu lachen beginnt und aus diesem Gelächter die Parodie der deutschen Hymne wird.
Mit Misstrauen begegnen die Geschwister ihrem Bankert, das vom Großvater im Schmerz in einem Atemzuge mit der Hitlerei und all dem Bösen verflucht wird. Das treibt die Mutter aus dem Haus, bis nach Deutschland, auf der Suche nach dem Kindsvater. Nur am Rande wird diese Geschichte erzählt, beiläufig, und ist gerade deshalb wahr.
Diese Umstände erklären vielleicht die Vorsicht und die Ambivalenz, mit welcher der Erzähler mit seiner Geschichte verfährt. Der Riss geht mitten durch die Familie, durch die Person. Auch zur Sprache entwickelt er eine Hassliebe, träumt von slowenischen Urworten, verachtet das neudeutsche Klischee. Unbeholfen und beholfen zugleich sind seine Sätze, der höchsten Poesie, dem Kalauer wie auch dem Pathos ist der Dichter fähig. Das Kind des Deutschen verkündet in hohem Ton in der Sprache der Herren jene Episode, in der die slowenischen Kärntner einmal Sieger sein durften. Aber der Obstgarten Gregors geht dann trotzdem in Flammen auf, weil andere Sieger, die Briten, einen Parkplatz für ihre Panzer brauchten und weil sie sich rasch arrangierten mit den anderen.
Der Schluss aber, den Gotscheff zu einem viel zu langen Monolog macht, in dem Harzer wütend in der Klage und allzu belehrend wird, wirkt wie ein schwaches Nachspiel zu den besinnlichen vier Stunden davor. Man fragt sich, ob der Regisseur nun nicht gar ein dekonstruktives neues Spiel begonnen hat, das den Autor ironisch persifliert. Schon in einer Szene zuvor war das Ich mit einem langen Bart aufgetreten, wie ein wütender Prophet, der seine Jeremiaden gegen die Welt schleudert. Harzer schwankt über die Bühne, fällt hin, richtet sich auf, fällt wieder hin. So niederschmetternd kann sentimentale Erinnerung sein?
Befreit von schwerer Last. Wie eine Verirrung wirkt dann auch der letzte Auftritt, eine Suada jenseits der Familientherapie, bei der unser Dichter auf eine imaginäre Couch gelegt wird. Verlassen, verlassen ist er, von allen seinen guten Geistern, die wieder im Dunklen verschwunden sind. Ein einsames altes Kind. Der Blätterregen hat aufgehört, die starken Bilder und Sprachbilder wirken noch nach. Jetzt ist es Zeit für den Applaus; höflich erst, herzlich dann und schließlich stürmisch, als der Autor vom Regisseur auf die Bühne gebeten wird. Er lächelt sogar und winkt ins Publikum, als wäre er befreit von schwerer Last.
Weitere Aufführungen bei den Salzburger Festspielen in Hallein: 17., 18., 23., 24., 26. und 27. August, 19 Uhr
("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.08.2011)
Handke wird bei Uraufführung mit Applaus überschüttet
13.08.2011, 14:14 UhrAnna Ringle-Brändli
Regisseur Gotscheffs Inszenierung von „Immer noch Sturm" beklemmend und heiter zugleich
Peter Handkes "Immer noch Sturm"
Foto: dpa
HALLEIN. Ein Lächeln huscht Schriftsteller Peter Handke übers Gesicht, als er die Bühne betritt. Der tosende Applaus von 800 Theaterbesuchern der Salzburger Festspiele nach der Uraufführung seines Stücks „Immer noch Sturm“ am Freitag gilt vor allem ihm. Der Autor, der bei Paris lebt, wird von den acht Schauspielern, darunter Bibiana Beglau und Jens Harzer, und dem bulgarischen Regisseur Dimiter Gotscheff, umringt. Dessen mehr als vier Stunden lange Inszenierung wurde auf der Perner-Insel in Hallein mit großer Begeisterung aufgenommen.
Eine Familie mit slowenischen Wurzeln ist unter einem Apfelbaum im Jaunfeld versammelt, unweit ihres Hofguts in der Kärntner Gegend in Österreich. Das Elternpaar und seine fünf Kinder bringen sieben unterschiedliche Blickwinkel auf das gemeinsame Leben mit. Sie erinnern sich an die 1930er und 1940er Jahre – freudig und verbittert zugleich.
Es ist ein Spiel zwischen Traum und Wirklichkeit, denn ein Nachfahre – das „Ich“ – lässt die Figuren, seine Ahnen, sprechen. Mal klinkt er sich in die Dialoge ein, mal zieht er sich auf eine erzählerische Ebene zurück und bleibt auch räumlich abseits der Gruppe. Seine Träume und Erinnerungen rollen ein Familiendrama vor dem Hintergrund der Partisanenkämpfe der Kärntner Slowenen gegen die Nationalsozialisten auf.
Da sind etwa die Geschwister, wie Außenseiterin Ursula und Frauenheld Valentin sowie der Vater, der das Wort Liebe in seinem Haus nicht hören will. Alltagsprobleme wie Essen, Stallarbeit und die Suche nach der eigenen Rolle innerhalb der Familie mischen sich mit dem Kampf um kulturelle Identität als slowenische Minderheit.
Gotscheff schafft viele beeindruckend beklemmende Situationen. Etwa in der Figur der Ursula, „für die im Haus kein Platz ist“, wie sie sich selbst beschreibt. „Im Krieg werde ich endlich einen Platz finden“, hofft sie und wird später Widerstandskämpferin.
Oder in der Mutter des „Ichs“, die eine Beziehung mit einem der nationalsozialistischen Besatzer eingeht und damit ihre eigene Kultur verleugnet. Der Regisseur löst diese Momente oft mit heiteren Szenen auf und schafft Freiräume: Akkordeon und Percussion lassen unter anderem mit slowenischen Volksliedern die Figuren sorgenfrei tanzen.
Handkes Stück ist textgewaltig – das unterstreicht auch Gotscheff mit seiner Inszenierung. Das Bühnenbild von Katrin Brack ist schlicht, es fungiert vielmehr als Projektionsebene: Requisiten werden spärlich verwendet, Blickpunkt auf der leeren, schwarzen Bühnenfläche sind grüne Blätter aus Flitter, die ununterbrochen von der Decke fallen. Im Vordergrund stehen die Gedankenwelten der Figuren. Vor allem Jens Harzer in der Rolle des „Ich“ bietet minutenlange Monologe akzentuiert und facettenreiche dar.
Das Ende bleibt verstörend. Auch nach dem Krieg und dem Sieg über die nationalsozialistische Unterdrückung gebe es „Immer noch Sturm“, resümiert das „Ich“. „Gütige Menschen – wie ich mich danach sehne.“
Zwtl.: Uraufführung zunächst in Wien geplant
Auf die Uraufführung mussten die Theaterbesucher länger warten, als zunächst geplant. Bereits im Februar sollte Regisseur Claus Peymann „Immer noch Sturm“ am Wiener Burgtheater inszenieren – doch die Zusammenarbeit zwischen Handke und dem Intendanten des Berliner Ensembles wurde abgebrochen. Peymann hatte zuvor bereits mehrere Werke von Handke auf die Theaterbühnen gebracht.
Die jetzige Koproduktion mit dem Thalia Theater Hamburg wird außerdem am 17., 18., 23., 24., 26. sowie am 27. August bei den Salzburger Festspielen zu sehen sein. In Hamburg ist die Premiere am 17. September geplant.
Von Sabine Strobl
Salzburg – Das Jaunfeld, Heide- und Steppenlandschaft, ein Apfelbaum, „mit ca. 99 Äpfeln“, eine Bank. Hier trifft ein Nachfahre in seinen Kindheitserinnerungen und Träumen die „Ahnen“. Das sind die ersten Bilder, die Peter Handke in „Immer noch Sturm“ entwirft. Das Werk ist eine poetische Liebeserklärung an Handkes slowenische Familienlinie. Die Uraufführung vergangenen Freitag auf der Perner Insel in Hallein wurde mit Applaus, aber auch mit Vorbehalten aufgenommen.
Der bulgarische Regisseur Dimiter Gotscheff, der die Aufgabe der Uraufführung vom ausgeschiedenen Claus Peymann übernommen hat, setzt auf Einfachheit und die Wirkung der Sprache. Was für alle Beteiligten des Abends zu einer reizvollen Auseinandersetzung wird. Gotscheffs Raum für den Text, das Jaunfeld, ist weit, leer, Träumen entsprechend auch dunkel. Licht fällt nur auf den Kreis, in dem sich die Familienangehörigen aufstellen. Bühnenbildnerin Katrin Brack lässt für Stunden grüne Blätter vom Himmel rieseln. Die Kameraeinstellung ist ein für alle Mal geklärt. Die Aufmerksamkeit kann dem Ensemble des Thalia Theaters gelten.
Handkes Text, in dem er viele Details seiner Herkunft und Familiengeschichte verarbeitet, zeigt selten klar, wie sehr das Geschehen des Zweiten Weltkrieges das Leben Einzelner zerstört und die folgenden Generationen geprägt hat. Der schon lange nahe Paris lebende Schriftsteller (Sohn eines deutschen Soldaten und einer Kärntner Slowenin) lässt ein „Ich“ zum Apfelbaum nach Kärnten zurückkehren. Jens Harzer, der bei den Salzburger Festspielen in Dostojewskis „Verbrechen und Strafe“ zu sehen war, schlüpft in die Rolle von Handkes Alter Ego. Wie der Schriftsteller mit einer Brille mit dunklen Gläsern ausgestattet. „Dober Dan“. Es geht viel um Sprache. Und so gesellt sich die nördlichere Sprachfarbe der Schauspieler in die slowenisch, österreichische des Textes. Die „Sippe“ erscheint: die lebenslustige Mutter (Oda Thormeyer). Deren „14-Tage-Regenwetter-Schwester“ Ursula (Bibiana Beglau), die als Widerstandskämpferin umkommt. Der Frauenheld-Bruder der Mutter, Valentin (Hans Löw), der Nachzügler Benjamin (Heiko Raulin), der schroffe Großvater (Matthias Leja). Ein weiterer Bruder der Mutter, Gregor, ist in Handkes Familiengeschichte der erste Schreibende, er hat 1936 auf Slowenisch ein Buch über Apfelbäume verfasst. Handke hält es in Ehren, kennen gelernt hat er seinen im Krieg gefallenen Taufpaten nie. In „Immer noch Sturm“ bekommt Gregor die Rolle des Partisanen Jonatan (Tilo Werner). Es gelingen wunderbare Porträts der Familienmitglieder und einige tiefgehende Szenen. Gabriela Maria Schmeide macht Gänsehaut, wenn sie als Großmutter in ihrer Trauer um den ersten gefallenen Sohn die anderen in den Alltag zurücklotsen will. Das Ensemble ist warmgespielt, unterstützt von den südosteuropäischen Klängen Sandy Lopicics. Konzentration auf der Bühne und im Zuschauerraum.
Bei aller Reduktion legt Regisseur Dimiter Gotscheff doch einige entbehrliche Regieeinfälle vor, die vom Zitat der beliebten Kinderfigur Benjamin Blümchen bis zum einstigen Ambros-Hit „Schifoan“ reichen. Nach der Pause ist die Spannung nicht wieder aufzubauen. Ich-Darsteller Jens Harzer ist am Premierenabend seiner Rolle nicht gewachsen. Abschließend wird das Augenmerk noch einmal auf die Situation der Slowenen im Zweiten Weltkrieg gerichtet. Sie waren die Volksgruppe, die in Österreich den Widerstand gegen Hitler wagte. Ohne explizit dazu aufgefordert zu werden, wenden sich die Gedanken dem Ortstafelstreit der slowenischen Minderheit in Kärnten zu. Immer noch Sturm.
Das Publikum ist schon beim Aufstehen. Da gesellt sich Peter Handke, um Unauffälligkeit bemüht, zu den Schauspielern auf die Bühne. Und aller Applaus gehört ihm. Die Koproduktion mit dem Hamburger Thalia Theater übersiedelt nach den Salzburger Festspielen im September nach Hamburg.
Tiroler Tageszeitung, Printausgabe vom So, 14.08.2011
„Immer noch Sturm“ von Peter Handke
Neues Stück mit Spektakulärer Vorgeschichte
© Die Berliner Literaturkritik, 07.10.10
Von Nada Weigelt
Peter Handkes neues Werk hatte schon eine spektakuläre Geschichte hinter sich, lange bevor es jetzt auf den Markt kam. Claus Peymann, der „Papst“ unter den deutschen Theatermachern, wollte das neue Stück seines langjährigen Freundes Handke als Gastspiel am Wiener Burgtheater uraufführen. Doch Regisseur und Autor zerstritten sich, der Plan wurde gekippt.
Jetzt hat Handke (67), der große Provokateur unter den deutschsprachigen Dramatikern, sein Stück „Immer noch Sturm“ in einer Buchfassung bei Suhrkamp herausgebracht. Und der Wunsch des gebürtigen Kärnters nach einer Uraufführung in Österreich wird doch noch wahr: Erst vor wenigen Tagen wurde bekannt, dass der „Sturm“ unter der Regie des Bulgaren Dimiter Gotscheff im August 2011 bei den Salzburger Festspielen Premiere feierte.
Die Buchfassung ist eine packende und zugleich poetische Zeitreise in Handkes Familiengeschichte. Als Ich-Erzähler begegnet er in Szenen zwischen Traum und Wirklichkeit seiner Mutter, ihren vier Geschwistern und den Großeltern, die als slowenische Minderheit in Kärnten leben.
Zwei der Geschwister schließen sich angesichts der Verfolgung durch die Nazis im „Großdeutschen Reich“ dem bewaffneten Widerstand einer Partisanengruppe an. Die Auseinandersetzung mit diesem Teil der Familiengeschichte wird zugleich zur Frage an den nachgeborenen „Kümmerer“. „Nicht ich lasse Euch nicht in Ruhe. Es lässt mich nicht in Ruhe, nicht ruhen“, sagt er einmal.
Malte Herwig, dessen Handke-Biografie „Meister der Dämmerung“ demnächst erscheint, nennt das Buch ein „großes Alterswerk im besten Sinne“. Und Thomas Oberender, der Schauspielchef der Salzburger Festspiele, sagte: „Es ist ein großes homerisches Epos, in dem Homer die von ihm erfundene Welt selber betritt.“
Freilich, vieles ist nicht erfunden: Der heute in der Nähe von Paris lebende Autor wurde 1952 im kleinen Ort Griffen in Südkärnten geboren. Seine Mutter war Slowenin, sein verschwundener Vater ein deutscher Wehrmachtssoldat. Von ihm erfährt Handke erst, als er kurz vor dem Abitur steht.
Hauptfigur im Buch ist sein Pate und ältester Onkel Gregor, der 1942 an der Ostfront fiel. Er hatte eine Schlüsselrolle in der Familie und kommt als literarische Figur bei Handke immer wieder vor. In „Immer noch Sturm“ schließt er sich den Partisanen an, für die nach 1945 der „frische Frieden“ bald in einen faulen umschlägt.
„Einmal die Heimat verloren - für immer die Heimat verloren. Es herrscht weiterhin Sturm. Immer noch Sturm“, sagt der Onkel in der Passage, die dem Stück den Titel gab. Wenngleich aus anderer Perspektive, so klingt hier erneut das Thema an, mit dem Handke sich Mitte der 90er Jahre politisch ins Zwielicht brachte. Auch seine damals so umstrittene Parteinahme für Serbien entsprang letztlich der Idee eines Vielvölkerstaats Jugoslawien.
Spannend an dem gerade mal 166 Seiten starken Buch ist aber nicht nur die Verschränkung von Familien- und Weltgeschichte, sondern auch die literarische Form. In einer Mischung aus Drehbuch und Roman entwickelt Handke seine Szenen in dichten, wortgewaltigen Dialogen, die sein „Ich“ mit den familiären Traumgestalten führt. Zum Schluss bleibt der sich selbst genügenden Familie als Wahlmöglichkeit nur, ihren „Weltverdruß“-Walzer einmal als Polka zu singen. „Zwar auch nicht gerade Zukunftsmusik, aber naja ...“
Handke, Peter: Immer noch Sturm, Suhrkamp Verlag Berlin, 166 S., 15,90 €.
Peter Handke: "Immer noch Sturm"
Peter Handke, 1942 in Griffen, Südkärnten, geboren, entstammt mütterlicherseits einer Familie von slowenischen Kleinbauern und Handwerkern. Sein Großvater, der Bauer und Zimmermann Gregor Siutz, hatte drei Söhne und zwei Töchter, eine davon, Maria, ist Handkes Mutter. Der älteste Sohn, Gregor, war, so Handke, der letzte bewusste Slowene in der Familie. Er und sein jüngster Bruder Hans fielen, zwangsrekrutiert in der deutschen Wehrmacht, im Zweiten Weltkrieg. Von Gregor, der vor dem Krieg an der Ackerbauschule im slowenischen Maribor lernte, bewahrte die Familie seine slowenisch geschriebenen Aufzeichnungen zum Obstbau auf. Auch fanden sich Gregors Feldpostbriefe nach dem Tod des mittleren Bruders Jure in dessen Nachlass.
Dem vaterlosen Peter Handke (seinen leiblichen Vater, einen anderweits verheirateten Norddeutschen, lernte er erst als Erwachsener kennen, seinen Stiefvater Bruno Handke hat er nie als Vater akzeptiert) war der älteste Mutterbruder, sein Taufpate, seit jeher Vorbild und eine Art Wunschvater. Die slowenische Herkunft – das Slowenische überhaupt – erweist sich als ein Lebensthema Handkes, das sein gesamtes Œuvre untergründig durchzieht. Wiederholt gibt er seinen literarischen Protagonisten den Namen Gregor. Und immer wieder erinnert er in seinen Werken an seine Sippe von Kärntner Slowenen, seine Herkunftsgeschichte und an "das Neunte Land", ein mythisch verklärtes Slowenien jenseits der Karawanken.
Doch nirgends hat er seiner Sippe ein nachdrücklicheres Denkmal gesetzt als in seinem jüngsten Werk mit dem bei Shakespeares König Lear entliehenen Titel Immer noch Sturm. Dessen Genre ist schwer zu bestimmen. Es handelt sich um einen Prosatext mit eingestreuten Dialogen und Regieanweisungen, eine eigentümliche Mischung aus Familien-Saga, Lesedrama, poetischem Totengespräch und Historienstück. Es ist feierlich überhöhte Sippschaftsgeschichte und politisches Helden-Epos zugleich, Ahnentafel mit biblischen und liturgischen Konnotationen, Menschheitsgeschichte, Privatmythos, imaginäres festliches Familientreffen und Partisanenstück über den Widerstand der Kärntner slowenischen Partisanen gegen das Nazi-Regime. Immer noch Sturm lässt sich wie ein poetischer Prosatext lesen, ist aber auch eine Art Libretto und wird als Bühnenstück bei den Salzburger Festspielen 2011 uraufgeführt werden (in der Regie von Dimiter Gotscheff und in Koproduktion mit dem Hamburger Thalia Theater).
Schauplatz ist eine Heide oder Steppe, das Jaunfeld in Südkärnten, mit einer "zeitlosen" Sitzbank vor einem Apfelbaum, "behängt mit etwa 99 Äpfeln". Dort lässt eine "Ich"-Figur, der jüngste Spross der Sippe und unverkennbar mit dem Autor Handke weitgehend identisch, seine verstorbenen Vorfahren auftreten: die Großeltern, die "blutjunge" Mutter und deren Geschwister, seine Onkeln und seine Tante. Das "Ich" beschwört die Ahnen herauf, träumt sie herbei: "Da seid ihr nun, Vorfahren. Die längste Zeit schon habe ich auf euch gewartet. Nicht ich lasse euch nicht in Ruhe. Es lässt mich nicht in Ruhe, nicht ruhen. Ihr lasst mich nicht in Ruhe."
Im Wechselgespräch mit den toten Vorfahren wird nun eine Zeitreise veranstaltet, die Familiengeschichte wird vielstimmig erinnert und nacherzählt. Sie führt zurück ins Jahr 1936 ("unser glücklichstes Jahr"), verweilt in den Jahren 1942 (dem Geburtsjahr der vaterlosen "Ich"-Figur) und 1943 (dem Jahr, in dem zwei Brüder der Mutter fallen und der Bruder Gregor und die Schwester Ursula sich den slowenischen Partisanen in der Kärntner Bergwäldern anschließen) und mündet ein in die Nachkriegszeit mit ihren bitteren Enttäuschungen für die Kärntner Slowenen.
1945 hat Handke seinen Gregor noch schwärmen lassen: "Nach dem Krieg werden wir den Leuten im Land die Hand reichen, und wir werden zusammen zu dem großen freien Europa gehören. Keiner wird mehr ein Knecht sein hierzulande, kein Volk wird mehr ein anderes unterkriegen wollen. Zum ersten Mal in unserer Geschichte werden wir frei sein, Eltern." Doch der einsame Kampf der Kärntner Slowenen im Widerstand gegen Nazi-Deutschland wird von Österreich nach 1945 nicht honoriert, die Slowenen bleiben eine entrechtete Minderheit, deren Sprache und kulturelle Eigenart vom Mehrheitsvolk unterdrückt und nicht anerkannt wird. "Es ist eine Tragödie, eine zum Lachen", wie der desillusionierte Widerstandsheld Gregor feststellt.
Peter Handke hat in Immer noch Sturm seine Sippengeschichte fiktiv und feierlich überhöht und in wichtigen Details verändert. Das beginnt bereits mit dem Familiennamen, der im Stück "Svinec" lautet und nicht "Siutz". In Handkes Familie gab es keine Partisanen, die Widerstandshelden Gregor und Ursula sind der dichterischen Freiheit geschuldet, nicht der biografischen Faktenwahrheit; und dass Handke seinen Lieblingsonkel Gregor den Krieg überleben lässt, ist eine Wunschphantasie des Autors.
Immer wieder lässt Handke hinter dem privaten Mysterienspiel, dem Familien-Tableau, das Menschheitsdrama aufscheinen: "Im Fernsehen oder wo ein junges Kriegsopfer aus einem arabischen und sonst einem Land: der jüngste unserer Sippe." Gleichwohl bleibt "Immer noch Sturm" Handkes persönlichster und autobiografisch aufgeladenster Text – jenes Werk, auf das die zahllosen Slowenien-Verweise in seinem Œuvre von Anbeginn an abzielten. Mit dem Worten der Mutter im Stück: "Es ist dein einziges Spiel, seit jeher, dein einziger Bauplan. Bleib bei uns, Sohn."
Sigrid Löffler, kulturradio
Peter Handke: Immer noch Sturm
Enkel Lear auf der Wunschtraumheide
Du kannst nicht alles bestimmen, Herr Sohn: Mit „Immer noch Sturm“ unternimmt Peter Handke eine Expedition in die eigene Familiengeschichte.
Peter Handke: Immer noch Sturm
05. November 2010
Auch Lear war einmal Enkel. Aber darüber wissen wir nichts. Hatte Lear Eltern? Natürlich, aber sie haben Shakespeare nicht interessiert. Mit dem Lear hat Shakespeare die Figur geschaffen, die das Ende aller Kontinuitäten verkörpert. Was folgt aus diesem Ende? Äußerste Einsamkeit. Alle Bindungen brechen, alle Bande reißen.
Bei Shakespeare ist der greise König der letzte Patriarch seiner Sippe. Nach ihm kommen nur Töchter, die den Alten, nachdem er sein Erbe zu Lebzeiten verteilt hat, gnadenlos abservieren. Verzweifelt und wahnsinnig vor Kummer und Wut irrt er im dritten Akt über die wetterumtoste Heide. „Still storm“, immer noch Sturm, lautet Shakespeares Bühnenanweisung für die Szene, in der Lear Blitz und Donner anfleht, sie mögen seine Kinder und mit ihnen die ganze Welt vernichten: „Schlag flach den runden Erdenball!“
Peter Handke greift Shakespeares Bühnenanweisung auf und stellt sie seinem neuem Buch als Titel voran. „Immer noch Sturm“ ist ein Theaterstück in Prosa, ein Roman in Dialogen und Regieanweisungen, kommentiert von einem Ich-Erzähler, der als Hauptfigur agiert und Shakespeares Stück auf den Kopf stellt. Ein poetisches Spiel und ein mal leichthändiges, mal schwerblütiges Alterswerk, in dem sich der Dichter als altes Kind seiner jung gebliebenen toten Vorfahren imaginiert: King Lear, der letzte seiner Sippe, als ewiger Sohn und Enkel. In diesem Traumspiel sind alle Bande unversehrt. Bei Shakespeare ist die Heide der Ort der größten Einsamkeit, verlassener als hier kann man nicht sein. Auf Handkes Heide wachsen Apfelbäumchen, und eine Bank steht bereit für das Familientreffen, das hier stattfinden soll. Lears Heide ist der Albtraumort, Handkes Heide ist der Wunschtraumort Familiengeschichte als Traumspiel
Wo der greise König sein Erbe - die Macht und ein ganzes Königreich - verteilt hat, sucht sich hier ein Nachgeborener seine Erbschaft zusammen. Sie besteht aus dem Reich der Erinnerungen und der Macht zu träumen. Wo Lear seine Nachkommen verstoßen hat, versammelt hier der jüngste Spross der Familie seine Vorfahren um sich: die Großeltern, die Mutter, deren Schwester Ursula und ihre drei Brüder, Gregor, Valentin und Benjamin. Handke erzählt sich selbst seine Familiengeschichte als Traumspiel: wie es war und nie gewesen ist.
Handke, Peter
In diesem Spiel ist der Jüngste zugleich auch der Älteste. „Wer sind Sie“, fragt der Erzähler die junge Frau, die mit offenem Haar und auf hohen Schuhen eben noch an einem Apfelbäumchen lehnte. „Und die Unbekannte antwortet: ,Einmal darfst du raten, Alterchen.' Und ich: ,Frau Mutter.' Darauf die Mutter: ,Woran hast du mich erkannt?' Und ich: ,An Eurer Stimme, Frau Mutter, ohne Akzent und ohne Dialekt.'“
Es ist bei weitem nicht das erste Mal, dass Peter Handke sich seiner Familiengeschichte bedient, sie literarisch verarbeitet oder sich ihrer poetisch zu vergewissern versucht. „Wunschloses Unglück“ von 1972, „Über die Dörfer“, neun Jahre später erschienen, oder zuletzt, 2008, „Die morawische Nacht“: Immer wieder hat Handke in seinen Büchern die Mutter, den früh verstorbenen Patenonkel Gregor oder den Vater, den er nicht hatte, zum Thema gemacht. „Deinen Vater los: der Freieste der Freien? Nicht doch, mein Lieber: keines-Vaters-Kind wird nie ein Erwachsener“, hieß in der „Morawischen Nacht“, als der Erzähler das Grab des ihm unbekannten Vaters besucht.
Biografische Bezüge gut möglich
Genaueres über das Verhältnis zum Vater, der die Familie verlassen hatte und dem Handke als Achtzehnjähriger zum ersten Mal begegnete, ist in Malte Herwigs neuer Biographie nachzulesen, die auf dieser Seite besprochen wird. Dass Handke den Stiefvater nicht akzeptierte und sich als vaterlos aufgewachsen empfand, wird nun im jüngsten Buch als Vorwurf der Mutter und ihrer Familie in den Mund gelegt: „Mein Sohn, der nie zu uns hier, zur Familie, zur Sippe gehören wird, Vaterloser du, der du Ersatz, Halt und Licht suchst bei Deinen Vorfahren.“ Aber der hohe Ton wird sogleich gebrochen, wenn die Mutter fortfährt: „Und jetzt zu deiner Frage, die mal wieder keine war: Doch, das hier ist unsere Gegend.“
Die Gegend, das ist das Kärtner Jaunfeld, im Grenzgebiet zwischen Österreich und Slowenien. Die Zeit ist die des Zweiten Weltkrieges, die Atmosphäre die des friedlichen Landlebens in weltvergessenem Winkel. Die karge Ebene erscheint als Landschaft des Übergangs: zwischen den Sprachen, den Ethnien, den Zeiten, zwischen Traum und Wirklichkeit. Dass hier im Grenzgebiet die Sprache der slowenischen Minderheit verboten war, kommt in der Abneigung gegen alles Deutsche zum Ausdruck, zumal gegen das „Reichsdeutsche“. Die Verteidigung des Eigenen gegen das Fremde, des vermeintlich Schwachen gegen das vermeintlich Starke, nimmt, wie so oft bei Handke, zuweilen befremdliche Züge an: „Wer ,Schrank' sagt statt ,Kasten', ,Jacke' statt ,Rock', und ,Káffe' statt ,Kaffee', der hat schon die Heimat verloren. Der hat schon die Heimat verraten“, erklärt der Großvater. Wer hingegen Wörter wie Preiselbeeren oder Frühäpfel in den Mund nähme, der werde „nie ein Henker sein“.
Dann schließt sich eine Art familiärer Apfelgottesdienst an: Gregor, der Lieblingsonkel, hält eine Messe in slowenischer Sprache. Er liest aus dem „heiligen Buch der Familie“, seinem „weithin berühmten Werkbuch zum Obstbau“, einem apfelkundlichen Werk über den Welschbrunner und andere Apfelsorten.
Im fotzelnden Familiensound
Dieser Taufpate wandert schon lange und in mancherlei Gestalt durch Handkes Werk, als Gregor Keuschnig oder als Gregor Kobal. Jetzt ist Gregor, der 1943 als Wehrmachtssoldat in Russland starb, einerseits der Verfasser des Apfelbuchs, dieser Bibel der Friedfertigen, aber andererseits kehrt er als Partisan ins österreichisch-slowenische Grenzgebiet zurück, wo damals tatsächlich Widerstandskämpfer gegen das NS-Regime aktiv waren. Die Verletzungen werden erinnert, der Widerstand wird erträumt.
Pathos und sakraler Ton, Heldentum und kleinlicher familiärer Zwist, Neckereien und Familienträgödien, Verklärung und Entzauberung: Handke baut Positionen auf, nicht um sie zu behaupten, sondern um sie in Frage zu stellen, zu unterlaufen und zu brechen. Alles geschieht in der Sprache, deren Tonfall unablässig wechselt. Unter das Deutsche werden Dialektbrocken und Ausdrücke oder ganze Sätze auf Slowenisch gemischt, dem hohen Ton folgt der frotzelnde Familiensound, dem Alltagsdialog die Verlautbarungsprosa. Handke ist böse und sanftmütig, aufbrausend und kleinmütig. Er fleht die Familie an, „Ohne euch kein Spiel. Wer spielt mit mir? Kommt wieder.“, und er bittet um Feinde. Zahllos sind die Bezeichnungen und Beleidigungen, die sich die Familienmitglieder an den Kopf werfen, von Erztrottel über Finsterbraue bis zu Herrgottswinkelverpesterin, Krampfhilde, Übelheid und Ekeltraud.
Gegen Ende zeigt sich Peter Handke, der scheinbar allmächtige Spielleiter dieses Traumspiels, selbst die Grenzen auf. „Du kannst nicht alles bestimmen, Herr Sohn“, lässt er die Mutter sagen, als er unerwartet und unwillig sich selbst als jungem Mann gegenübersteht. Dann beginnt ein Kampf, an dessen Ende der alte Handke vom jungen Handke, dem „knieweichen Brillenträger“ und „Pickelgesicht“, am Schopf gepackt und herumgewirbelt wird. Was das soll? Getreu nach Nestroy, in dessen Fußstapfen man den Dichter bislang nicht vermuten durfte, wollte Peter Handke doch einmal sehen, wer stärker ist, „ich oder ich“.
Peter Handke: „Immer noch Sturm“, Suhrkamp Verlag, Berlin 2010. 167 S.,geb., 15,90 Euro
Buchtitel: Immer noch Sturm
Buchautor: Handke, Peter
Text: F.A.Z.
Bildmaterial: Suhrkamp
Stille Post vom toten Paten
Warum musste Gregor sterben? Die wahre Geschichte hinter Peter Handkes neuem Buch.
Diese Geschichte beginnt mit einem Traum in einem anderen Land. Sturm und Regen peitschen über das Feld auf der Halbinsel Krim, wo ein verlorener Haufen Wehrmachtssoldaten im Oktober 1943 auf den »siegreichen Rückzug« wartet. In einem Zelt kauert der Obergefreite Gregor Siutz und schreibt an die Familie im fernen Kärnten: »Nach etlichen Tagen finde ich endlich Zeit, Euch bekannt zu geben, daß ich noch lebe. Obwohl das Leben, das wir hier führen, schon mehr den ersten Menschen gleich sieht als jetzt dem hochkultivierten Deutschland.«
Wut und Verzweiflung sprechen aus Gregors hingekritzelten Zeilen. Sein Bruder Hans ist bereits gefallen, der andere, Jure, ist in englischer Gefangenschaft. Dann berichtet der Briefschreiber noch von einem Traum, den er auf dem stürmischen Feld gehabt hat: »Der Krieg war aus, der Jure und ich kamen nach Hause und heirateten beide zugleich. Wie wir so im Stift mit unserem Fuhrwerk ankamen und zur Kirche gingen, erscheint ein schöner Wagen. Aus ihm steigen ein junger Herr und eine alte Dame, schön angezogen. Wie sie näher kamen, waren es Hans und Großmutter. Nach der Trauung verschwanden sie wieder. Das merkte ich mir gut und sagte mir, das schreibst du heim.« Es ist das letzte Lebenszeichen. Am 2. November 1943, seinem dreißigsten Geburtstag, fällt auch Gregor Siutz, der Onkel des Schriftstellers Peter Handke.
65 Jahre später hat auch Handke einen Traum: »Prozession der toten Vorfahren, auch Nachbarn, aus dem Dorf, zwischen Erhabenheit und Bedrohlichkeit, und ich uralt wie sie alle«, notiert er im Januar 2008 in seinem Tagebuch. Es ist nicht der einzige Traum dieser Art. Sie lassen ihn nicht los, die Vorfahren, richtig lästig können sie manchmal werden. Und doch: ohne sie kein Schreiben.
Nun hat Handke ein neues Theaterstück verfasst. Es heißt Immer noch Sturm, und die Literaturkritik wird es wie üblich als eines jener zwischen Lyrik und Epos traumwandelnden Handke-Bücher rezensieren. Als erfundenes Traumstück, nicht als gefundenes. Selbst die Klappentext-Verantwortlichen bei Suhrkamp konnten sich nicht entscheiden: Ist es eine Familientragödie? Ein Epos der Kärntner Slowenen? Ein Geschichtsdrama? Ein historisches Traumspiel über den Kärntner Widerstand »und die Geschichte meiner Familie« hat Handke sein neues Stück genannt. Er sei, gestand der Autor, beim Durchlesen selbst bewegt davon gewesen. Seinen Kritikern, die ihn seit Jahrzehnten als selbstbeweihräuchernden Hohepriester religiöser Utopien abkanzeln, macht es der Autor mit solchen Aussagen gerne leicht. Poesie, Politik und Partisanen, kann das gut gehen?
Schon seine Reiseberichte wie Gerechtigkeit für Serbien hat man dem Dichter als unbefugtes Betreten von fremdem Diskursland verübelt. Vollends in öffentliche Ungnade fiel Handke, als er 2006 demonstrativ am Begräbnis von Slobodan Milošević teilnahm. Zuletzt munkelten die Feuilletons, es sei »still geworden« um Peter Handke. Sein neues Stück, ein großes Alterswerk im besten Sinne, zeigt: Es war die Ruhe vor dem Sturm. Vorweg: Das Werk hat lange Wurzeln. Den Titel hat Handke sich bereits vor 20 Jahren in seinem Tagebuch vorgemerkt: »Storm still« lautet die Regieanweisung im dritten Akt von Shakespeares King Lear, in dem der alte König über die stürmische Heide irrt. Bei Handke findet der »Welt- wie Familienkrieg« auf einer Heidesteppe im Kärntner Jaunfeld während des Zweiten Weltkriegs statt. Die Großeltern, die Mutter, ihre Brüder und eine Schwester treten auf und ab, reden miteinander und auch mit dem »Ich«, welches die Vorfahren vom Rande der Szene her beobachtet: »Was willst du von uns, Nachfahr? Warum wir? Wir haben doch verloren. Sind kein Thema. Und auch kein Stoff zum Träumen.«
Ja, Verlierer im großen Welttheater scheinen sie alle, diese Mitglieder einer bäuerlichen slowenischen Familie in Kärnten. Ihre Sprache (die im Stück häufig erklingt) wird im »Dritten Reich« als »Untermenschenkauderwelsch« verboten. Die Mutter lässt sich von einem »reichsdeutschen Ziegenbock« schwängern, der sie noch vor der Geburt verlässt. Zwei ihrer Brüder fallen im Krieg.
Nur Gregor, der Älteste, überlebt und schließt sich mit seiner Schwester Ursula den jugoslawischen Partisanen an, die in Kärnten gegen die Nationalsozialisten kämpfen. In den dreißiger Jahren hat dieser Gregor in Slowenien Obstbau studiert und der Familie nach seiner Rückkehr nicht nur den Weg in die wirtschaftliche Unabhängigkeit gezeigt. Er hat ihnen auch unablässig den Stolz auf die slawischen Vorfahren eingeimpft.
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»Der mit seinem ewigen Jugoslawien«, stöhnt Gregors entnervte Schwester Ursula, und man kann nicht umhin, darin eine selbstironische Anspielung Handkes auf sein eigenes Engagement für Serbien zu sehen.
Ein Partisan, ausgerechnet Gregor? Der sanfte Bruder, der immer in seinen Obstgarten verschwunden ist, wenn die anderen Männer wildern gingen? »Du bist ein Apfelmensch, und ein Apfelmensch ist nichts für den Krieg«, warnt ihn sein Vater. Doch Gregor bleibt stur: Unter dem Kampfnamen Jonatan (nach seiner liebsten Apfelsorte) schließt er sich den Partisanen an, um die »Brut der Tausend Jahre« zu bekämpfen. Aus Idealismus wird der Apfelmensch zum Krieger, träumt aber weiter von einer friedlichen Welt: »Nach dem Krieg werden wir den Leuten im Land die Hand reichen, und wir werden zusammen zu dem großen freien Europa gehören. Keiner wird mehr ein Knecht sein hierzulande, kein Volk wird mehr ein anderes unterkriegen wollen. Zum ersten Mal in unserer Geschichte werden wir frei sein, Eltern.«
Bekanntlich kommt es anders. Der Kalte Krieg führt schon bald dazu, dass die einstigen Nazis mit Duldung der Westalliierten in Kärnten wieder das Wort führen, während die slowenische Minderheit weiter unterdrückt wird. Gregors Obstgarten wird planiert, um als Panzerparkplatz zu dienen. »Immer noch Sturm«, entgegnet er resigniert dem »Ich«. Sie bleiben Verlierer, die Gefallenen, Entrechteten, Armen dieses Landstrichs, und tanzen am Ende des Stücks den »Weltverdrusswalzer«. Also aus der Traum? Eben gerade nicht. Immer noch Sturm ist kein Kunststück um der Kunst willen. Es ist eine Dichtermesse für die Verstorbenen, Totenklage und literarische Auferstehungsfeier zugleich: »So gedenke ich euer, und denke umgekehrt von euch mich gedacht.« Es sind nicht irgendwelche Figuren, die der Autor hier zum Leben erweckt, sondern seine eigenen Angehörigen. Zwar ist weder Gregor Siutz noch ein anderes Mitglied von Handkes Familie je zu den Partisanen übergelaufen. Aber der Onkel ist der Erste unter diesen Kleinbauern, der ein Buch geschrieben hat. Von 1932 bis 1937 studierte er auf der Landwirtschaftsschule in Maribor Obstbau und verfasste ein handschriftliches Studienbuch über die Apfelzucht. Gregors Obstbaubuch und seine Feldpostbriefe, die der Großvater in einer Truhe aufbewahrte, wurden in Handkes Kindheit immer wieder im Kreis der Familie gelesen. So wurde der tote Onkel mit der schönen Handschrift für Handke schon früh zum Vorbild des »schreibenden Vorfahren«.
Das Studienbuch hat heute einen besonderen Platz in Handkes Haus in Chaville bei Paris: Es hängt im Herrgottswinkel. »Ich schau oft da hinauf«, sagt Handke. Dessen Lektüre zeigt: Nicht nur hinauf hat Handke geschaut, sondern auch hinein ins Apfelbuch des Onkels. In Immer noch Sturm lässt er Gregor wörtlich auf Slowenisch daraus zitieren wie aus einer Bibel. Es wird ein großes Werk des Friedens daraus. In Handkes literarischem Familienmythos wird das Apfelbuch zum Neuen Testament, und Gregors Feldpostbriefe gleichen den Briefen der Apostel. Sie tauchten 2009 im Keller von Handkes 91-jährigem Onkel Jure wieder auf, der als schlitzohriger Frauenheld »Valentin« ebenfalls eine Rolle im neuen Stück spielt. Auch aus ihnen zitiert Handke wörtlich wie aus einer Liturgie. Kennengelernt hat Handke den ältesten Bruder seiner Mutter nie. Als er im Dezember 1942 getauft wird, liegt Gregor im Feld und muss sich als Taufpate von seiner Schwester vertreten lassen. In Gedanken aber ist er bei dem Neugeborenen. Am 10. November 1942 schreibt er an seine Schwester Maria, Handkes Mutter: »Wie gerne möchte ich persönlich Pate spielen, aber der Krieg erlaubt es nicht. So macht alles gut in meinem Namen.« Zeitlebens hat sich Peter Handke an diesen Auftrag seines Taufpaten gehalten. »Der einzige, der uns noch träumt«, heißt es im Stück. In vielen Werken hat er dem Namen dieses Soldaten wider Willen ein Denkmal gesetzt: Gregor Benedikt in den Hornissen, Gregor Keuschnig in der Stunde der wahren Empfindung und in Mein Jahr in der Niemandsbucht, Gregor Kobal in Die Wiederholung und Gregor in Über die Dörfer. Nun wissen wir, warum. Solange einer träumt, sind die Toten noch nicht verloren.
Peter Handke: Immer noch Sturm
Suhrkamp Verlag, Berlin 2010; 165 S., 15,90 €
Die Familiengeschichte als Spiegel der Weltgeschichte
Peter Handke: "Immer noch Sturm", Suhrkamp, Berlin 2010, 165 Seiten
Peter Handke verwendet für "Immer noch Sturm" Figuren aus seiner Familiengeschichte. Im Mittelpunkt steht ein "Ich", das ziemlich eindeutig die Konturen der konkreten Person Peter Handke hat, und drumherum seine Großeltern und deren fünf Kinder.
Peter Handke hat bereits in vielen seiner Texte mit Formen und Genres gespielt. Es gibt Theaterstücke von ihm, in denen kein einziges Wort gesprochen wird, es gibt Gedichte, die wie Prosa wirken, und es gibt Prosa, die abwechselnd theatralisch und poetisch ist. "Immer noch Sturm" scheint ein Paradebeispiel dieser literarischen Technik zu sein.
Das Buch hat keine Genrebezeichnung und keinen Untertitel. Nirgendwo gibt es einen Hinweis darauf, dass es sich um ein "Theaterstück" oder ein "Drama" handeln könnte, obwohl es im nächsten Jahr bei den Salzburger Festspielen uraufgeführt werden soll. Man kann "Immer noch Sturm" auch als den inneren Monolog eines erzählenden Ichs lesen, als suggestiven Prosatext, bei dem die Bilder erst beim Lesen entstehen - man hat nicht unbedingt sofort Figuren vor Augen, die per se auf der Bühne stehen und sich durch Dialoge, Gesten und Handlungen charakterisieren.
Es sind Figuren aus der Familiengeschichte Handkes, die wir zum Teil bereits aus dem "Wunschlosen Unglück" kennen, dem Buch über den Tod seiner Mutter, oder aus der "Wiederholung", in der das österreichisch-slowenische Grenzgebiet eine herausragende Rolle spielt. "Später werde ich über all das genaueres schreiben", der berühmte Schlusssatz aus "Wunschloses Unglück", scheint als Vorgabe über allen Versuchen Handkes zu stehen, seine Herkunft und die spezifischen Bedingungen seiner Familie zu thematisieren.
Mit "Immer noch Sturm" wird dieses Vorhaben wohl keineswegs zu Ende sein. Im Mittelpunkt steht ein "Ich", das ziemlich eindeutig die Konturen der konkreten Person Peter Handke hat, und drumherum seine Großeltern und deren fünf Kinder, von denen eines die Mutter des erzählenden Ichs ist.
Es gibt die verschiedensten Situationen und Konstellationen, in denen diese Familienfiguren hier aufscheinen, Situationen, die das Ich träumt oder die ihm erzählt worden sind. Die Familiengeschichte wird hier ganz selbstverständlich zu einem Spiegel der Weltgeschichte. So sterben zwei Brüder im Ersten Weltkrieg. Ein für Handke wesentliches Moment ist die Beschreibung der Slowenen - seine Mutter gehörte der slowenischen Minderheit in Kärnten an, und er legt großen Wert darauf, dass just diese Slowenen den einzigen bewaffneten Widerstand gegen den Nationalsozialismus in "Großdeutschland" wagten.
Handkes Beschäftigung mit dem ehemaligen Jugoslawien, dem Traum- und Sehnsuchtsland seiner Jugend, hat hier ihren Ursprung. "Immer noch Sturm" zeigt weitere Facetten dieser Sehnsucht. Ein Bruder der Mutter spricht im Rückblick die zentralen Sätze, die dem Buch den Titel gaben - es sind Sätze, die die Geschichte als Verhängnis verstehen und sie doch gleichzeitig, in einem imaginären Raum, aufzuheben versuchen: "Es herrscht weiterhin Sturm. Andauernder Sturm. Immer noch Sturm. Ja, wir haben das Unrecht begangen - das Unrecht, hier, gerade hier, geboren zu sein."
Besprochen von Helmut Böttiger
Peter Handke: Immer noch Sturm
"Immer noch Sturm" ist Handkes persönlichstes Stück
Treffen im Traumreich der Sprache: Ein Gespräch mit Peter Handke über die Familie und sein neues Stück "Immer noch Sturm".
Immer noch Streik – die Vorortzüge fahren nur sporadisch. Ich bin sehr verkühlt an diesem kalten, graunebligen Sonntag, sage unsere Verabredung jedoch nicht ab. In den vergangenen Tagen las ich Peter Handkes "Immer noch Sturm", das Theaterstück in Prosaform – aber ist es überhaupt ein Stück, ist es ein Roman, eine Erzählung, ein Tagtraum?
- FOTO: DPA/DPA"Ich würde mir schon wünschen, dass mein ,Sturm’ so ein bleibendes Stück sein kann, in der Theatergeschichte": Der Schriftsteller Peter Handke, aufgenommen in Lissabon
Auf einer Heidesteppe im Kärntner Jaunfeld, unter einem Apfelbaum "behängt mit etwa 99 Äpfeln", sitzt oder liegt der Erzähler. Er trägt den Namen "Ich" und zaubert sich sieben seiner slowenischen Ahnen herbei: die Großeltern mütterlicherseits, seine Mutter, sowie die Schwester und die drei Brüder seiner Mutter.
Er lässt sie in den Jahren 1936 bis 1945, und in den späten Fünfzigerjahren an sich vorbeiziehen, sie erzählen ihm in grandiosen Monologen, in spielerischen Dialogen vom Schicksal der slowenischen Minderheit im Süden Österreichs, von ihrer systematischen Unterdrückung, ihrem mutigen Partisanenkampf, der größten und effizientesten Widerstandsbewegung innerhalb der Grenzen des Dritten Reichs. Und kaum war der Krieg vorbei, entpuppten sich die britischen Mitbefreier Österreichs, diese Kalten Krieger, als neue Unterdrücker.
Und so ging es fort, im Grunde bis in die von Kärntner Ortstafelstürmen geprägte Gegenwart hinein.
Erster Blick: Handkes "Immer noch Sturm"
Dimiter Gotscheff probt Peter Handkes Kärntner Partisanenstück "Immer noch Sturm" bei den Salzburger Festspielen.
LETZTES UPDATE AM 13.07.2011, 13:47
Jens Harzer: Der "Ich"-Erzähler holt sich in Handkes "Immer noch Sturm" Verwandte herbei, mit denen er die Familiengeschichte und die Geschichte Kärntens zwischen Fakt und Fiktion Revue passieren lässt.
Es regnet grüne Blätter. Stundenlang. Ununterbrochen. Sonst ist die Bühne weitgehend leer. Die Idylle, die Heide, der Apfelbaum sind Andeutungen. Musik gibt es. Und Versatzstücke. Wie den Hut des Großvaters.
Dimiter Gotscheff probt Peter Handkes "Immer noch Sturm" am Hamburger Thalia Theater.
Nachdem eine Uraufführung durch Claus Peymann wegen "unterschiedlicher Erwartungen an die Ästhetik der Inszenierung" nicht zustande gekommen war, legte der Autor sein Werk in die Hände des bulgarischen Regisseurs.
Der zeigt das Kärntner Partisanenstück nun in Kooperation mit den Hamburgern bei den Salzburger Festspielen. Und ab Oktober am Burgtheater.
Besuch
Gotscheff, der Heiner-Müller-Intimus, der, wie er sagt, "dessen Texte immer noch in den Gedärmen rumoren fühlt", besuchte Handke in Paris. Einen Nachmittag und eine Nacht lang haben die beiden gesprochen, formuliert und sind übereingekommen. Gotscheff gerührt von der Gastfreundlichkeit, der Wärme und der Zugänglichkeit des schwierigen Schriftstellers, Handke angetan von Gotscheffs Verständnis für seine Arbeit - der Theatermacher weiß, wie sich der Verlust von Vaterland und Muttersprache anfühlt ...
"Immer noch Sturm" ist Handkes persönlichstes Werk. Auf dem Jaunfeld trifft er als Erzähler-"Ich" auf seine Großeltern, Mutter, drei Onkeln, Tante und verquickt über sie Familiengeschichte mit der der Partisanenkämpfe der Kärntner Slowenen gegen die Nationalsozialisten. Das liest sich schon wie ein Theaterstück, ein Stück Prosa in Monologen und Regieanweisungen.
"Stimmt. Das ,Kamera ab!' ist von Handke vorgegeben", sagt Beate Heine vom Thalia Theater, die mit Gotscheff die
Bühnenfassung erarbeitet hat. "Wir mussten ,nur noch' eine theatertaugliche Version für seine epische Erzählform finden, mussten dafür sorgen, dass die Familienstrukturen und die Beziehungen der Figuren untereinander trotz der monologisierenden Form auf der Bühne sichtbar werden."
Aneignung
"Es ist spannend zu beobachten, wie wir uns gemeinsam Handke aneignen", so Heine. "Gotscheff hat kein ,Konzept', er entwickelt mit den Schauspielern. Er hat da eine sehr eigene Herangehensweise. Er beschreibt Stimmungen, eine Atmosphäre, eine Energie. Er will Töne vermitteln. Er sucht das, was aus dem Bauch kommt."
Nachsatz: "Und er weiß sehr genau, was er will."
Sehr genau setzt man sich an der Alster auch mit Kärnten und seiner Geschichte auseinander. Sieht Dokus über den Partisanenkrieg, beschäftigte sich sogar mit dem Ortstafelstreit. Man will die Brisanz, die das Thema für Österreich hat, verstehen. In und um die Hansestadt gibt es nichts Vergleichbares. Eine wohlsituierte dänische Minderheit. Aber nicht diese Zerrissenheit, nicht diesen Wunsch nach Angenommen-Werden, der bis heute unerfüllt ist.
Sprache, Identität über Sprache ist eines der großen Themen des Werkes. Ständig wechselt der Tonfall. Von Hochdeutsch zu Kärntner Dialekt zu Slowenisch. Von Alltag zu Verlautbarung.
Und das Österreichische? Im Buch lässt Handke über den Unterschied von Káffe und Kaffee lästern, über den von Geschirrschrank und Kredenz. Und über den von "Bleibe" und "Heimat". Darüber haben die Hamburger diskutiert. Und die Stellen schließlich im Stück gelassen. Da darf man sich nicht angegriffen fühlen. Dann kommen in Deutschland halt nur
Blümchen aus dem Kännchen ... Na und?
Der Text: Geschichte in einer Kiste im Keller
"Still Storm", "Immer noch Sturm", schrieb Shakespeare über die Szene, in der König Lear Donner und Blitz anfleht, sie mögen seine undankbaren Erbinnen vernichten. Peter Handke nannte sein Stück danach.
Es ist nicht das erste Mal, dass der Autor seine Familiengeschichte verarbeitet. Er tat es in "Wunschloses Unglück" 1972, in "Über die Dörfer" (1981) oder 2008 in "Die morawische Nacht". Für den 2010 bei Suhrkamp erschienen Text hat er "neues Material" in die Hände bekommen. Familiendokumente, Feldpostbriefe, Fotos, Urkunden. Von seinem im Vorjahr mit 92 Jahren verstorbenen Onkel Georg "Jure" Siutz in einer Kiste im Keller aufbewahrt. Onkel Jure war Handke nicht sympathisch. Er war ein kalter Mensch. Und FPÖ-Abgeordneter. Aber derjenige der drei Siutz-Brüder, der den Krieg überlebte; Hans und Gregor fielen 1943.
Traum Der Fund im Keller ist die Basis des Buchs. Handkes "Ich" holt sich in einer Art Traum sieben Verwandte herbei, mit denen er die Familiengeschichte und die Kärntens ab 1936 Revue passieren lässt. Er erzählt von der Unterdrückung der slowenischen Minderheit, ihrem Partisanenkampf gegen das Dritte Reich - und letztlich vom lächerlichen Ortstafelstreit.
Dabei mischt sich Fakt mit Fiktion. Onkel Gregor darf zu den Partisanen überlaufen und überleben; Tante Ursula wird von den Nazis zu Tode gefoltert; Handkes Mutter begibt sich auf der Suche nach seinem Vater ins Feindesland Deutschland.
Der Freiheitskampf der Kärntner Slowenen gilt Historikern heute als bedeutendste Widerstandsbewegung im "angeschlossenen" Österreich. Er war der einzige kontinuierliche, organisierte und bewaffnete Widerstand gegen die NS-Diktatur in Österreich.
Viel gebracht hat den Slowenen ihr Mut (noch) nicht. "Literatur", sagte Peter Handke in einem ORF -Interview, "ist die Möglichkeit, Gerechtigkeit herzustellen."
Produktion: Die Daten und Fakten
Regisseur: Dimiter Gotscheff, 1943 in Bulgarien geboren, kam 1962 mit seinem Vater in die DDR. Gottscheff studierte wurde bald Schüler und Mitarbeiter von Benno Besson, erst am Deutschen Theater, dann an der Volksbühne. 1979 ging Gotscheff wegen der Ausbürgerung Wolf Biermanns nach Bulgarien zurück; seit Mitte der 1980er- Jahre arbeitet er wieder an deutschsprachigen Bühnen von Wien bis Hamburg. Berühmt sind u. a. seine "Philoktet"-Inszenierung in Sofia 1983 und sein "Iwanow", mit dem er 2006 von Theater heute und beim Berliner Theatertreffen ausgezeichnet wurde. Heuer erhielt Gotscheff den Theaterpreis Berlin.
Inszenierung: In "Immer noch Sturm" spielen u. a. Jens Harzer (Ich), Oda Thormeyer, Tilo Werner, Bibiana Beglau und Gabriela Maria Schmeide. Premiere in Salzburg ist am 12. August, am Burgtheater am 3. Oktober.
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"Immer noch Sturm"
Ein Text über Kärntner Partisanen
Zunächst sollte es als Theaterstück uraufgeführt werden, doch dann gaben Peter Handke und Claus Peymann ihre Zusammenarbeit auf. Jetzt ist Handkes neues Stück "Immer noch Sturm" in Buchform erschienen - ein Text über Kärntner Partisanen im Widerstand gegen Hitler.
Kultur aktuell, 20. 09. 2010
"Peter Handke und Claus Peymann haben sich entschieden, die Zusammenarbeit für die im Februar 2011 vorgesehene Uraufführung von Handkes neuem Stück "Immer noch Sturm", die als Gastspiel am Wiener Burgtheater geplant war, aufzugeben", das meldete die Austria Presse Agentur vor rund vier Monaten. Ausschlaggebend für die "Entscheidung waren unterschiedliche Erwartungen an die Ästhetik der Inszenierung, aber auch dispositionelle Fragen der Realisierung", hieß es weiter.
"Eine universelle und gleichzeitig eine Kärntner Geschichte" wollte er schreiben, sagt Peter Handke. Im Mittelpunkt: eine "Fiktion seiner Person" ein Ich, von dem Peter Handke erzählt: "Ich war ein Bub und ich habe wirklich nur Bahnhof verstanden. Meine Mutter hat mit mir manchmal, um mich zu provozieren, Slowenische gesprochen, aber eigentlich nur um mein blödes Gesicht zu sehen."
Leidenschaftlich und poetisch
Das "Ich" hat Peter Handke in seinem Stück unter Anführungszeichen gesetzt. Ein Chronist wollte er sein, sagt er, und der erzählt von seinen slowenischen Vorfahren im Widerstand gegen das Nazi-Regime - leidenschaftlich und poetisch zugleich.
Der Schauplatz: Das Jaunfeld in Südkärnten, das alte Siedlungsgebiet der Kärntner Slowenen. Es treten auf: die Mutter, die Großeltern, Ursula, die Schwester der Mutter, und die Brüder der Mutter: Benjamin, Valentin und - Gregor.
Gregor hieß auch der Onkel von Peter Handke, der sich im Zweiten Weltkrieg den Partisanen anschloss und seither verschollen ist und der für seine Mutter eine wichtige Bezugsperson war.
"Dadurch, das ihr ältester Bruder, den sie sehr geliebt hat, Gregor Sievets, so hieß er, Gregor der Graue könnte man das übersetzen, im Krieg gerade für Hitler, das war die Tragödie der Familie, gefallen war, hatte sie keine Person mehr mit der sie das Slowenische, seelisch weiter schwingen lassen hätte können", erzählt Handke.
Was ist Sprache?
"Immer noch Sturm". In seinem Stück sei es ihm um die großen Fragen gegangen: "Was ist Krieg? Was ist Familie? Was ist Landschaft? Und was ist - vor allem - Sprache?"
"Im sogenannten Unterkärnten oder Südkärnten wo auch Slowenisch gesprochen wurde oder wird, da waren glaube ich 90 Prozent slawisch. Wie das meine Großelter ihre eigenen Sprache bezeichnet haben, was man vor Slowenen nicht sagen darf, Windisch, ein slowenischer Dialekt, der war überall präsent und hat die Luft rhythmisiert", sagt Handke.
Uraufführung in Österreich geplant
In Österreich soll sein Stück uraufgeführt werden wünscht sich Peter Handke, und es sollte hier auch Dauer haben. Die Peymann-Inszenierung wäre als Gastspiel nach kurzer Zeit wieder zurück nach Berlin gewandert und Peymann sei es nur um Taktik und Strategie gegangen, sagt Peter Handke - das habe ihn verletzt.
Als Theaterautor ist man heutzutage fast fehl am Platz. Ich spüre mich immer zwischen der alten Theaterschreibegilde, die es ja überhaupt nicht mehr gibt, und den Neueren. Ich bin da irgendwo in einem Zwischenbereich, wo ich mich durch fantasiere und doch immer denke an Schauspieler. Ich denke immer an Körper, ich denke an Menschen die reden. Ich denke an Existenzen, an Widerreden, ich denke was ist das Drama, auch wenn es nur eine Sekunde dauert. Ich bin ein Schriftsteller, ich habe keine Ideologie, ich habe nur Probleme.
Im kommenden Jahr soll "Immer noch Sturm" voraussichtlich doch auf die Bühne kommen. Interesse an der Uraufführung hat Burgtheaterdirektor Matthias Hartmann ebenso bekundet wie die Salzburger Festspiele.
Ahnenparade
Lothar Struck über Peter Handkes dramatische Epiphanien
»Immer noch Sturm«
Ein Ich-Erzähler sitzt auf einer Bank auf einer Wiese, in der Heide, im Jaunfeld. Ein Apfelbäumchen behängt mit etwa 99 Äpfeln gibt
ihm Schutz und er kommt ins Phantasieren, ins Heraufbeschwören.
Aufmarsch der Vorfahren. Sie erscheinen ihm - oder er lässt sie
erscheinen? Er ist der einzige, der sie noch träumt: Nicht ich lasse euch nicht in Ruhe. Es läßt mich nicht in Ruhe, nicht ruhen. Ihr laßt mich nicht in Ruhe. Im
Laufe der Erzählung (oder ist ein Drama?) frischt der Wind auf, kommt
von vorne, von hinten und von oben, wird zum Sturm (zum Erinnerungssturm
sowieso). Und die Landschaft, die Kindsheimat, nein: die Bleibe,
dieses wiedergeholte Kärnten verändert sich im Laufe dieser
Ahnen-Epiphanien. Das ist mehr als nur die Suche nach den eigenen
Wurzeln. Vielleicht ist "Immer noch Sturm" das wirkliche Nachtbuch Peter Handkes (und das vor wenigen Wochen erschienene ist nur ein Präludium).
Zeitreisen1936 ist die erste Station der Zeitreise, oder um was es sich handelt. Dieblutjunge (spätere) Mutter, die Karawankenfranzösin, ansonsten namenlos; sechszehnjährig. Der Affensohn, das Fastkind Benjamin mit seiner wunderbaren Ekellitanei. Der selbstbewusste ältere Bruder Gregor, der Einäugige, von der Landwirtschaftschule kommend, mit seinemWerkbuch vom Obstbau; ein Apfelmensch. Valentin, der Mutterbruder. Die Schwester Ursula, die die anderen spüren läßt, daß sie nicht geliebt wird.
Der Vater (des Erzählers Großvater) und dessen furiose Suaden wider das
allzu schnelle und beliebige Gebrauchen der großen Worte. Und seine
Frau, die Großmutter, die immer allen gut sein will.
Alle
sind versammelt, schweigen zusammen, reden nacheinander, sich ins Wort
fallend, widersprechend, miteinander die Zeit verklärend und so 1936
flugs als unser glückliches Jahr festlegend und zwar trotz des großen Jammerns vor der leeren Vorratskammerwand, trotz der Knechte mit den Hungerlöhnen, trotz der Freigelassenen ohne Freiheit, trotz derSchlägereien selbst bei den Begräbnissen, trotz der Feinde innerhalb der friedlichsten Gemeinden. (Oder gerade wegen all dem?) Ein Jahr von Sonne und Schnee. Ein Jahr, in dem der zweite Bruder Werktag für Werktag mit unserem Vater von Bauer zu Bauer, quer über die Sau- oder Bleialpe als minderjähriger Wanderzimmermann zog. Und der jüngste Bruder ließ sich nicht von der Unkultur…verhexen und flüchtete aus demGriechischen,
dem Lateinischen, heim aus dem Deutschen, gleich heim in den Stall zu
den seichenden, furzenden, scheißenden Tieren, nichts wie heim in den
heimischen Dialekt […] unbeleckt von jeglicher Geisteskultur.
Weiter mit 1942. Die Sprache, die kein eigenes Wort für "ich" kennt, ist verboten worden; gilt als Untermenschenkauderwelsch. Slowenisches wird in den Briefen der Soldaten geschwärzt. Die leeren Zeilen der Kartoffeläcker. Alle im Krieg. Benjamin, der Tundrajüngling, ist dank des Krieges erwachsen geworden. Gregors Briefe kennt des Erzählers Mutter auswendig. Sie rezitiert aus ihnen. Valentin, der andere Bruder, derNordlichtsohn, langweilt sich in Norwegen: Wie sehne ich mich nach einer ordentlichen Arbeit, statt mich zu langweilen bis zum Endsieg! (Ironie, die kein Zensor erkannte.) Und im Dorf wird geredet. Die Tochter geht mit einem von den anderen. Es ist, so beteuert sie, Liebe. Aber ihr Vater will davon nichts wissen: Das
Wort will ich nicht gehört haben. Noch niemand hat bisher bei uns hier
von Liebe geredet. Und solange ich zu bestimmen habe, soll auch niemand
hier so ein Wort in den Mund nehmen dürfen. Da zeigt die Tochter ihren runden Bauch: Etwas Schöneres als meinen Bauch hat unser Jaunfeld nur zu allen heiligen Zeiten gesehen!
Und dann, fast gleichzeitig, der Brief über Benjamin. Alle japsen mit, auch der Ungeborene. Benjamin ist tot. Die Worte vermodern beim Vorlesen (für Fürer und Fataland), das Entsetzen führt zum Verfluchen derDeutschländer und auch zum Verfluchen des Liebeswurms der Schwangeren und erst die Großmutter ruft ihren Mann zur Ordnung, der resigniert feststellt: Du mit deiner ewigen Versöhnlichkeit. Mit deinem Friedenswahn. Friede auf Erden? Unmöglich. (Nicht einmal eine Sehnsucht nach dem Unmöglichen.)
Fiktionalisierungen des AutobiographischenGewiss
- der Ich-Erzähler, der dem-Wind-Ausgesetzte und Sturm-Erzeugende, ist
Peter Handke. Weit holt er aus. Zurück in eine Zeit, als er noch nicht
geboren war. Statt des kindlichen Wunsches wie es nach dem eigenen Tod
weitergeht phantasiert Handke herbei, was vor der Geburt war. Es ist
eine der schönsten Stellen dieses Buches: die glückliche Mutter – so,
wie der Sohn sie später selten oder nie erlebt hat. Aber sofort wird
dies mit der Todesmeldung des jüngsten Sohnes konterkariert. (Nur keine
Idylle aufkommen lassen.) Die autobiografischen Parallelen sind in
dieser dramatischen Erzählung (oder ist es ein erzähltes Drama?)
zunächst frappierend und werden oft nur notdürftig verfremdet. Etwa wenn
die Familie Svinec (bzw., dann "eingedeutscht", Swinetz) heißt (statt Siveć bzw. Siutz).
Aber
das ist – selbstverständlich – nicht alles deckungsgleich mit der
Familiengeschichte, die Handke immer wieder in seinen Büchern fort- und
umgeschrieben hat. Schon in seinem Erstling ("Die Hornissen") spielen
Briefe von und Assoziationen über den im November 1943 gefallenen Bruder
Gregor eine wichtige Rolle. In "Über die Dörfer", dem "dramatischen
Gedicht", kehrt ein Gregor in seine Heimat zurück, die er nicht mehr
wiedererkennt. Dann in der epischen "Wiederholung" die Suche von Filip
Kobal nach dem vermissten Bruder Gregor und statt seiner das Finden
eines Ortes, einer Landschaft, eines Arkadien. Der Gregor Keuschnig der
"Stunde der wahren Empfindung" und dessen Wiederkehr als Autor der
"Niemandsbucht". Und vor zwei Jahren in der "Morawischen Nacht": Die
vergebliche (Selbst-)Suche nach eben diesem Keuschnig. Die Begegnung mit
dem ("richtigen") Vater, dem "Sparkassenangestellten" (diese
Formulierung hat Handke später bedauert); fast eine Versöhnung mit
Deutschland (freilich hier, im Ahnenaufmarsch ohne diejenigen, die der Geschichte nicht würdig sind). Schließlich die Zwie- und Verzeihungsgespräche mit der Mutter.
Weltverdruss-PolkaIst
demnach "Immer noch Sturm" nicht nur das angekündigte "Partisanendrama"
zu Ehren der Widerstandsgruppen der Kärntner Slowenen, der "Grünen
Kader", sondern erfüllt Handke hier auch das schon lange währende
Versprechen aus "Wunschloses Unglück" "später…über das alles Genaueres"
schreiben zu wollen? Und war doch tatsächlich am Ende der Erzählung von
1972 über den Freitod der Mutter von der "WELTVERDRUSS-POLKA" in den
Musikboxen der Gegend die Rede, die nun im neuen Drama von der Sippe
gemeinsam zum Abschluss lauthals und aus Leibeskräften gesungen wird, zwischendurch auch extra falsch(und, wie der Ich-Erzähler einräumt, sogar von ihm). Und es gibt diese Peripetie bei der Mutter: Vom noch keinmal traurig gewesen sein zum Es ist aus mit der Freunde.
Dieser Umschwung betrifft nicht nur die Schwangere, sondern noch drei
weitere Figuren im Stück – alle vier Kinder der Großeltern des
Erzählers.
Die Brüche werden dialogisch-dramatisch aufbereitet mit Argument und Gegenargument. Welch' ein emphatisches Politikverständnis: Ja, gottgefällig zusammensitzen: das ist Tätigsein. Das ist Politik! Manchmal
erinnert das an die neckischen Mauerschauer-Spielverderber-Wortspiele
aus dem "Spiel vom Fragen", mal an ein griechisches Drama. Ursula, die
Schwester, schließt sich den Partisanen an, geht in die Wälder zu denVersprengten, den Spärlichen. Und bei der Taufe des Wechselbalges, desWindelscheißer[s], Bankert[s] und Elefantenmenschen kommt es zur Aussprache zwischen der jungen Mutter, Valentin, dem Westmenschenund
Gregor, der es Ursula gleichtun möchte und die Uniform der Wehrmacht
schon verbrannt hat. Die Schwester rät Gregor ab, hat Angst vor den
Sanktionen, die der Familie eines Deserteurs drohen könnten, den Lagern,
in die die "Slowenen" zwangsumgesiedelt werden. Bewegend, wie Handke
hier das Ringen nach dem richtigen Verhalten thematisiert, dramatisiert.
Und wie die archaische Welt der Obst- und Milchbauern Kärntens durch
die Weltpolitik förmlich aus den Fugen gerät (und, das kann vorweg
genommen werden, nie mehr – oder nur für kurze Zeit – wiederhergestellt
wird).
Zu den WaldmenschenBis auf die Tatsache, dass die junge Mutter mit ihrem Vaterlosen Kärnten
verlassen hatte, entfernt sich Handke von der realen Geschichte seiner
Familie immer mehr. Die "Tragödie" (hier lässt er den Begriff gelten)
seiner Familie, dass zwei der drei Söhne des Großvaters für
Hitler-Deutschland im Krieg ums Leben gekommen waren, wird verfremdet:
Der fiktive Bruder Valentin will zurück zum (ungeliebten, aber
unvermeidbaren) Wehrmachtsdienst. Er, dem der Krieg fast nur Gutes gebracht hat und für den die Mutter-, Vater-, Kinder-, und Haus-, Herd- und Stall-Sprache, diese verstockte, berglerische Sprache nicht identitätsstiftend ist, er, der Widerstand als zwecklos sieht und sich längst für die Westwelt entscheiden hatte (und sogar Deutschland ist…schon der Westen) - er, der schon für die Nachkriegszeit geplant hatte, kommt dannfür den Virer und unser großes deitsches Fatterland um.
Er, der zu Beginn davon sprach, als einziger Sohn den Krieg überlebt zu
haben, wird im Laufe des Dramas entgegen der historischen Abläufe
sozusagen umgebracht.
Umgebracht "zu Gunsten" von Gregor, der Ursula folgt und den Partisanen beitritt (er wird dort Jonatan genannt). Er und Ursula, die nun dieSchneeige heißt (Snežena),
berichten bei ihren seltenen, heimlichen Elternbesuchen, wie es in den
Wäldern zugeht. Märsche durch den Schnee (immer in den Fußstapfen des
Vorgehers, um nicht die wahre Stärke zu verraten). Eingeständnisse: Wir taugen nicht fürs Kämpfen, gleich welches. Die
Hinrichtung eines Butterdiebes in den eigenen Reihen. Gregors Klage,
dass in der Widerstandsarmee die Gebildeten fehlten. Sie besteht aus ehemaligen Holzfällern, Bauernburschen, Sägewerksarbeitern, Müllergesellen. Es fehlen ihnen die Studierte[n], Lehrer, Anwälte, Ärzte. Höchstens ein paar Priester. Sie fehlten bis zuletzt, auch und gerade den Bauernburschen.
Am
Ende siegen die Partisanen und mit Hilfe der Engländer sind Österreich
(und damit auch Kärnten) befreit. Gregor kehrt zurück; Ursula stirbt in
der Gefangenschaft wenige Stunden vor der Befreiung. Dennoch: Der 8. Mai
1945 ist der glücklichste Tag in Gregors Leben. Der Monolog über das schöne Kärnten (Schön? Andersschön.) ist ergreifend, ja herzzerreißend. Und zum ersten Mal in der Geschichte Macht
verkörpert! Ähnlich wie der Heimkehrer Pablo im
Königsdrama "Zurüstungen für die Unsterblichkeit" eine Lust "auf die
Macht" verspürt, einer "ganz neuartige[n], bisher unbekannte[n]" Macht,
so dass "dieses Wort weltweit eine andere Bedeutung bekäme". Hier fallen
am ersten Tag des FriedensRepublik und Königreich zusammen und alle Macht war beim Volk. Aber dann kam die Desillusionierung: Zehn Tage lang der warme, warme Frieden, und dann der kalte, kalte Krieg – der andauert.
Österreich statt JugoslawienDie
historischen Begebenheiten erläutert Handke nicht. Tatsächlich wurde am
7. Mai 1945 in einem offiziellen Akt die Regierungsmacht an die
demokratischen Parteien Kärntens, die vor dem Anschluss Österreichs an
Nazi-Deutschland dort bestanden, übergeben. Erst einen Tag später
eroberten die Briten Klagenfurt und waren damit den Tito-Partisanen nur
wenige Stunden voraus. Am 16. Mai wurde das Volksbefreiungsparlament,
welches sich vermutlich für den Anschluss Kärntens an Jugoslawien
aussprechen wollte, von den Briten aufgelöst. Man berief sich auf die
Abstimmung von 1920, in der sich 59,01% für einen Verbleib Kärntens in
Österreich aussprachen (40,96% votierten für Jugoslawien); eine erneute
Abstimmung wurde abgelehnt. Gleichzeitig wurde die Befehlsgewalt der
jugoslawischen Partisanentruppen in Kärnten der Sowjetunion übertragen.
Diese befolgte die Wünsche der Westmächte und forderte die
jugoslawischen Truppen auf, das Land zu verlassen. Kärnten wurde den
weltgeschichtlichen Zeitläuften "geopfert"; der "Kalte Krieg" zwischen
der Sowjetunion und den Alliierten führte erst später zu den bekannten
Auseinandersetzungen. Da waren die Weichen in Österreich längst
gestellt.
Diese
wenigen Tage zwischen der Machtübergabe an die Lokalpolitik und dem
potentiellen Vereinigung Kärntens mit dem sich bildenden, neuen
Jugoslawien ist der "warme Frieden". Diese Perspektive löste die von
Handke so schwungvoll und eindrucksvoll erzählte Hochstimmung aus; in
typischer Weise mit der Konjunktion "Und" die Sätze verbindend erzählt.
Ein kurzes Schwelgen (in dem sogar das blinde Auge Gregors wieder gesund
wird).
Wer
eine Art Verklärung oder gar Heroisierung des Kärntner Widerstands
erwartet hatte, geht fehl. Kein Superlativ. Kein Heldentum; das
brechtsche Pathos ist Handke zuwider, auch wenn es für eine "gute Sache"
wäre. Und dennoch: Fast immer reden, deklamieren, handeln die Figuren
dialektisch, zweifelnd, schwankend. Diese Widerständler waren gespalten
ob ihres Tuns und auch sie waren vom Krieg und dessen merkwürdiger
Regeln geprägt, ja: verdorben. Sie sahen ihren Widerstand als schiere
Notwendigkeit.
Am Ende sitzt der Nachfahr, der Maler von Einfaltspinselbilder[n] ohne
den Apfelbaum auf der Wiese. Kein Schutz mehr am und im Baum. Das
Symbol für das archaisch-arkadische Kärnten ist verschwunden. Für
Gregor-Jonatan, der mit seinem ewigen Jugoslawien,
hält die politische Entwicklung das gleiche Schicksal bereit wie für
den Nachfahren Handke 1991 – beide "verlieren" ihr Jugoslawien. Und so
ist die "Weltverdrusspolka" am Schluss das wahre Kontinuum für
denjenigen, der sich in die Geschichte begibt, bewegt und schließlich
doch nur bewegt wird. Die Geschichte ist die Siegermacht. Ist
das beschreibend? Oder resignativ? Handke lässt es offen – und hier
liegt das tschechowhafte, das spielerisch-komödiantische in diesen
Figuren, in diesem Stück. Einem Stück Welt-Literatur.
Textfassung: Walter Gerischer-Landrock
Bewertung:
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Mit dem Cowboyhut über das Jaunfeld
SABINA ZWITTER, 21. September 2012, 17:27
Handkes "Immer noch Sturm", inszeniert von Bernd Liepold-Mosser in Villach
Villach - Der Regisseur Dimiter Gotscheff, der für die Salzburger Festspiele 2011 Peter Handkes Stück Immer noch Sturm inszenierte, betonte nach der Wiederaufnahme an der Wiener Burg, Handkes Stück in Kärnten zeigen zu wollen, wenn nötig auf einem Feld. Dimiter Gotscheffs Inszenierung mit ihrem vierstündigen Blätterregen schrieb da schon Theatergeschichte. Verantwortungsvoll und slawisch intensiv setzte Gotscheff den Handke-Text um und verschaffte einer sprachberaubten Minderheit, den Kärntner Slowenen, poetisches Gehör.
Nach Kärnten schaffte es dieser Sturm nicht. In Villach wagte sich nun anlässlich des Zehn-Jahr-Jubiläums der Neuen Buehne Villach der Nestroypreisträger Bernd Liepold-Mosser über die Familiengeschichte Peter Handkes, die Politik mit Poesie und Fiktion verwebt. Erzählt wird die Geschichte einer Minderheit, die während des NS-Regimes ausgelöscht werden sollte, von den Vertreibungen, vom Freiheitskampf und von den Repressalien nach Ende des Zweiten Weltkriegs
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