Von Hans-Dieter Schütt
07.05.2015

Was erzählt wird, stirbt nicht

»Immer noch Sturm« von Peter Handke an den Kammerspielen des Deutschen Theaters Berlin

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Fast flüsternd besänftigt: Markwart Müller-Elmau als Erzähler-Ich; hinten Judith Hofmann als Mutter
Er steht da, der Ich-Erzähler, er schaut, sinniert, weissagt, predigt, schwört ein. Peter Handke schaut, sinniert, weissagt, predigt, schwört ein. Dichtung ist die Einrednerin, zu uns hergeschickt von den Märchen, sie soll mitten unter uns versuchen, die uralte Lüge durchzubringen: Die Dinge könnten, trotz allem, gut ausgehen. Sie gehen nicht gut aus. Wir nennen’s Geschichte. Aber, sagt die Poesie: Wir halten durch, wir halten aus. Wir halten einander fest? Wir halten inne, damit wäre schon viel gewonnen. Innehalten, das ist das große, schöne, einsame, gute, bittende, betende Hauptwort.
»Immer noch Sturm« von Peter Handke, von Frank Abt in den DT-Kammerspielen inszeniert. Handke lässt dem Erzähler, hier einem alten Mann, die toten Vorfahren erscheinen, und mit ihnen scheint sie auf: die Geschichte der Kärntner Slowenen, ihr Existenzkampf im 20. Jahrhundert, ihr ewiger leidvoller Krieg mit den Deutschen, ihr Widerstand, ihre Tragödie bis heute. Slowenen vom Jaunfeld, die in Hitlers Krieg mussten, in diesem Krieg Österreichs Résistance waren und mit dem Frieden doch wieder in die Verlorenheit getrieben wurden; die Sprache geschmäht, der soziale Stand entwürdigt.
Da sind die hierarchischen Plänkeleien in der Familie, noch einmal die Feldpostbriefe, die Todesnachrichten, noch einmal das Herausschreien der Liebe zum Bauernhof, des Hasses auf den Bauernhof, das Lob des Heims, der Ekel vor der Enge, das Schwelgen im bescheidenen Slowenischen, der Traum vom Reichwerden im Westen. Die Sitzbankidylle. Die Apfelsortenfülle. Die Alten und die alte Sprache, die Jungen und ein junger Geist - Sippe ist Pakt und Problem, ist rettender Klump und rettungsloser Konflikt, ist Fest und Fluchtimpuls.
Trauer und Tat. Die Trauer kreist um gefährdete, verlorene Ursprünge, und was wäre die Tat? Mit den Verlierern fühlen; durchdrungen sein vom Adel des Geringen; sich durch Schüchternheit und Ungelenkbleiben herzhaft, ja: blamieren!, wenn die geschichtlich allzu Geschmeidigen aufspielen, nämlich sich selber. In diesem Stück ist eine jede Gestalt ganz Kontur, aber niemand eigenmächtig; es gibt für niemanden Ruhe vor dauernd drängenden Fragen, aber just in den Fragen kommt doch ein jeder zu einem gar nicht so leicht zu beschreibenden Frieden: Was erzählt wird, stirbt nicht. Und möge sich im faden Gegenwartsschwelgen kein Mensch vor den weiter wühlenden Vergangenheiten geschützt wähnen: Immer noch Sturm! Immer noch Sturm!
Markwart Müller-Elmau als verständnisinniger, gesetzter, fast flüsternd besänftigter Erzähler. Er begegnet seiner leidenden Mutter, verachtet von den Ihren, weil sie sich mit einem »Deitschen« einließ (Handke als der zwischen den Welten und Staaten Geborene). Da sind auch deren Brüder, die im Krieg bleiben. Einer der Brüder und eine Schwester: Partisanen; Tapfere, mit einem Mut für Menschlichkeit, der barbarisch hart auch in den eigenen Reihen wütet - das jakobinische Genossen-Gen. Die Großmutter von Johanna Matz: Mag das Greise immer gebrechlicher werden - es holt doch die Kindlichkeit wieder ein. Michael Gerbers Großvater: freier Ausschwung für den Polter-Pegel. Ole Lagenpusch, Thorsten Hierse, Marcel Köhler: die Brüder - Balancen zwischen jungsfroher Kraft, kriegsgenährten Zynismen, geschwisterlicher Treusorge und übermütigen Konkurrenzspielen. Simone von Zglinicki als Partisanin, auch sie endet im Tod: das Klagen, das Weh tief verschlossen, ganz nach innen genommen - wo es umso lauter schreit.
Das kleine runde Podest, das sich dreht wie eine Spieluhr (Bühne: Steffi Wurster): Holzwände trennen enge Zimmerchen, da sitzen sie alle und hocken und reden und schweigen, die Spieler selbst nehmen im Laufe der zwei Stunden die Wände aus den Verankerungen, die Spielfläche nun leer, als gehe man den Weg vom Konkreten ins Allgemeine; die kleine Welt trotzdem ausladend: ein Palast des unverlierbaren Gedächtnisses. Poesie ist hier Pflicht zur Zuversicht: dass dieser Erinnerungs- und Bewusstbleibens-Raum jeden Sturm übersteht. Vor Jahren inszenierte Dimiter Gotscheff das Stück für Salzburgs Festspiele und Hamburgs Thalia. Unvergesslich groß. Handkes slowenische Ader, Gotscheffs balkanischer Herzgrund: Es war, als träfe Sophokles’ streng chorische Archaik auf Tschechows wund versprengte Seelen. Handkes Sprache schwingt, singt, das Wort weitet sich wie ein frei atmender Brustkorb, auf diesem Atem jagt Zorn, tanzt Zartheit. Die Verkleinerung der szenischen Dimensionen, hier, vor dem Publikum auf der Hinterbühne der Kammerspiele, nimmt der Sprache die wuchtige und wehe poetische Kraft, aber diese Verhäuslichung des Ganzen schafft doch andererseits eine berührende Nähe. Gotscheff sah durchs Teleskop; die Herzen ein Wummern im Universum. Frank Abt dreht das Fernglas um, wir schauen in den kleinen Kreis familiärer Zuwendungen und Zwiste. Aber doch immer noch: Kosmos.
Nächste Vorstellungen: 8., 26. Mai