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Friday, June 22, 2012

MORAVIAN NIGHT REVIEWS

Ort: der Balkan, die Morawa, ein Zufluß der Donau, ein Hausboot auf dem Fluß. Zeit: eine Nacht, vom späten Abend bis zum blauenden Tagesbeginn. Personen: Ein Autor, ein ehemaliger, ruft seine Freunde, sieben an der Zahl, auf das Hotelschiff, seine Enklave, wohin er sich ein Jahrzehnt zuvor zurückgezogen hat.
Die erste Überraschung erleben die Bekannten gleich beim Betreten des Boots: Der für seine Distanz zu den Frauen berüchtigte Ex-Autor empfängt sie in Begleitung einer – Angestellten?, Gefährtin?, Geliebten? Auf das Abendmahl folgt eine lange Erzählung, in der die Stimme des Autors dominiert, in die sich zuweilen die Stimmen der anderen männlichen Anwesenden einpassen. Von einer gerade beendeten Rundreise des Bootsbesitzers durch das westliche Europa handelt die Erzählung. War er wirklich auf der Flucht vor einer Gefahr, etwa vor einer Frau, die ihm mit dem Tod drohte? Wie hat man sich das Symposium über den Lärm vorzustellen, an dem er angeblich in Spanien teilgenommen hat? Was hat es mit dem Treffen aller Maultrommelspieler dieser Erde vor Wien auf sich? Warum will er gerade zu diesem Zeitpunkt den Wohnort seines verstobenen Vaters in Deutschland aufsuchen? Und wo hat er die Frau getroffen? Und überhaupt: Wie lange dauerte die Reise?
In dieser romanlangen Erzählung Peter Handkes nimmt die Wirklichkeit unserer Gegenwart immer bedrückendere Gestalt an. Gleichzeitig wird das Gewicht der Welt ein anderes – ein leichteres?
Was nun erwartet den Leser? Ein »nächtliches Buch«? »Nicht wenige solcher nächtlichen Bücher hatte der Autor im Lauf seines Lebens verfa
ßt, die vom Tageslicht in nichts aufgelöst worden waren. In nichts? Wirklich?«

http://www.suhrkamp.de/buecher/die_morawische_nacht-peter_handke_41950.html

http://handkeonline.onb.ac.at/search/node/morawische%20nacht



Die morawische Nacht is a boat, perhaps once a hotel, moored at one point or another on the River Morava, the home of the ex-author, an alter(and sometimes not soalterego of the writer Peter Handke. On this boat there arrive one night friends from various stages of the ex-author’s life and career. They listen to the stories he has to tell, sometimes interrupting, sometimes taking up the narrative themselves. Also on board is a mysterious and beautiful woman – are she and the ex-author a couple, or are they not? – who also takes part in the storytelling. The story of the night involves a journey, a long circling movement from an enclave that might be Kosovo, through Europe and back to its starting point. The journey takes perhaps months, perhaps much longer, and on the traveller’s return the enclave no longer exists, or at least it is no longer an enclave of the old Balkans. In other words the author, Peter Handke, is saying goodbye to ‘his’ Balkans, ‘his’ Yugoslavia, as a place.
Starting on a battered bus in a Balkan bus station, and taking in Spain, a spa town in the Harz Mountains, and Austria, where the ex-author was born, this journey is enlivened by some wonderful – and also some very odd – scenes. In an inn, The Inn of the Nameless, close by the Cemetery of the Nameless (which does exist) the ex-author makes acquaintance with The World Congress of Jew’s Harp Players. Arriving at last at his native village he finds himself, like Odysseus, unrecognized – even his brother’s dog at first bares its teeth. But in the end, after a night full of dramatic meetings, even violence, comes reconciliation.
Handke, it can be argued, is one of the defining writers of our time, but it’s years since a UK publishing house put out anything by him, and that neglect predates his defiant, obstinate defence of the former Yugoslavia which ended with him more or less condoning Milosevic. If he’s mentioned at all in the British arts supplements it’s as the writer of the film Wings of Desire. YetDie morawische Nacht is a haunting and wonderful book indeed. Time to bridge the gap?

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Mit gleich drei neuen Büchern meldet sich Peter Handke zurück: mit Gedichten, Essays und einer sprachmächtigen, panoramatischen Erzählung, in der viel Autobiografisches aufscheint - ironisiert und verwirbelt als nächtliche Performance eines Autors wider Willen, der vom Schreiben und vom Leben erzählt.
In Ihrem „Selbstportrait aus unwillkürlichen Selbstgesprächen“ stehen einzelne Sätze, Assoziationen, Anrufungen, die mir sehr gefallen haben. Lassen Sie mich gelegentlich ein paar dieser Sätze zitieren?
Zum Beispiel?
„Immer wird dich die Einsamkeit nicht verwöhnen“.
Ah, Sie wollen hoffentlich keine Interpretation von mir.
In Ihrer neuen Erzählung „Die Moldawische Nacht“ ist einmal die Rede von den „von Natur aus Alleinigen, Alleinseinsidioten, Alleinseinswahnsinnigen.“ Ist Alleinsein für Sie die beste aller Lebensformen?
Grad heute früh habe ich gedacht: Im Grunde bin ich ein Familienmensch. Es kommt nur auf die Familie an, wie man mit ihr umgeht und wie man den richtigen Abstand gewinnt. Mein Ideal war, beides zu verbinden - was eigentlich ziemlich hirnrissig ist: zu meinen, dass man das Schreiben und Kinder verbinden könnte; oder - verbinden ist nicht das Wort - dass beides parallel geführt werden könnte. Es kann sein, dass ich damit gescheitert bin, aber ich bin nicht einmal sicher. Sonst hätte ich wenigstens eine Gewissheit im Leben.
Sie sind ja noch nicht am Ende Ihres Lebens angekommen.
Wer weiß (lacht).
Es gibt eine gewisse Frauenphobie in Ihrer neuen Erzählung. Und einen vitalen Fluchtinstinkt des Autors und Helden.
Doch, ja, es ist eine Phobie, sicher. Ich glaube, ich habe sie noch nie so selbstkritisch erzählt wie dieses Mal. Aber wenn es so klar wäre, würde ich es ja nicht erzählen, sondern würde es nur hinstellen. Ich habe es aber erzählt.
„Ohne Begehren: auch nichts.“
Na, da ist manchmal ein Satz, der einen so anfliegt, und dann findet man den zugleich blöd und seltsam. Oder nehmen Sie den hier: „Ohne Frau ist es natürlich besser, aber falsch.“
Ist die Abwesenheit von Unglück besser als ein gefährdendes Glück?
Sie sehen das natürlich richtig.
Man kann sich doch eigentlich gar nicht dafür oder dagegen entscheiden, oder?
Na, eben nicht. Es ist halt ein typisches Selbstgespräch (lacht).
Schließen eine intensive Beziehung zu einer Frau und das Schreiben einander aus?
Ja, wer sagt denn, dass der Autor in der „Morawischen Nacht“ nicht mehr schreibt? Am Ende stellt sich etwas anderes heraus. Er hält sich für einen Schreibverweigerer und hat dennoch wie absichtslos ein Buch geschrieben.
Es ist ein Traum. Er hat eine Nacht lang etwas geträumt, woraus die lange Arbeit der Erzählung und das Buch entstanden ist. Aus dieser einen Nacht werden viele Tage der Arbeit.
Ist das auch Koketterie? Die Möglichkeit des Nicht-Schreibens zumindest als Gedankenspiel in Betracht zu ziehen?
Nach den fast vierzig Jahren, die ich jetzt mit diesem herrlichen Beruf verbringe, kommt schon manchmal der Gedanke: Jetzt hast du alles sanft und kräftig umrissen, was du zu umreißen hattest im Leben. Jetzt geht es darum, es zum Auszuklingen zu bringen. Das hat nichts mit Koketterie zu tun. Das entsteht aus der Psychophysik, wie ich das nenne. Es kommen Fragen wie: Was willst du jetzt noch? Du wirst doch nicht um Gottes Willen auch noch eine Autobiographie loslassen? Ich habe schon noch etwas vor, aber ich glaube, „Die morawische Nacht“ war das letzte wirklich epische Unternehmen, in dem ich von einem Problem erzählen wollte: Was ist Schreiben? Was ist Lesen? Was sind Worte? So weiträumig, glaube ich, hat vielleicht nie vorher jemand diese Fragen bearbeitet.
Wenn Sie wüssten, dass Sie in den nächsten zehn Jahren keine Zeile mehr schreiben, würden Sie anders durchs Leben gehen, weil sie nicht unwillkürlich die literarische Botanisiertrommel dabei haben?
Das kann ich Ihnen nicht sagen. Es ist schon so, wie Goethe es gesagt hat – Schreiben ist Schmerz und Freude. Es ist für mich immer noch ein Tabu. Bevor ich mich an den Tisch setze, habe ich jeden Tag auch Mulmigkeit und Bangigkeit zu überwinden, bis ich mich dann endlich hinbequeme – ich gebe mir regelrecht einen Tritt. Andererseits: Wenn ich dann an dem Tisch sitze, kommt oft eine große, ungeheure Ruhe über mich, und ich denke: Ja, jetzt bin ich an meinem Platz, jetzt mache ich mich leben und vielleicht dichten.
Es ist schwer vorstellbar, dass Sie diesen Platz freiwillig verlassen könnten.
Ich bin kein besessener Schreiber. Ich bin nicht getrieben. Über Erich Fried habe ich einmal gehört, dass er noch in der Agonie die Bewegungen ausführte, ein Blatt Papier zu bekritzeln. Mit Buchstaben, die nicht mehr leserlich waren. Dass er noch in diesem Zustand seine täglichen vier, fünf Gedichte geliefert hat, erfüllt mich mit Entsetzen. Ich möchte zu meinem Buch des Lebens kommen, das ich schreibe, weiterschreibe - ohne zu schreiben. Dass sich sozusagen alles, was ich geschrieben habe, im Wind und im Himmelblau und im Grün von diesem und jenem fortsetzt, ohne dass das Schreiben mir fehlt. Das wäre ein Ideal. Auch ohne zu schreiben, wäre ich immer noch der Schreiber.
Der vermeintliche „Autor-in-Ruhe“ in Ihrer Erzählung begegnet unter anderem einem Journalisten, der ihn wegen seines immer noch existenten Autorennimbus beneidet - und ihn verhöhnt.
Ja, die Figur des Autors ist ein bisschen gebrochen durch einen Journalisten, der sich belustigt über die Art des Schriftstellers oder Ex-Schriftstellers. Ich wollte das bewusst brechen, wollte den Schriftsteller schief gesehen werden lassen durch jemand anderen, der ihm nicht gut gesinnt ist, sodass wiederum der Leser sich seinen Teil denken kann.
Der erste Satz Ihrer „Selbstgespräche“ lautet: „Hier fließt das Wasser – was soll ich woanders?“, geschrieben wurde er an der Morawa, in Cuprija, am 27. April 2006. Auch Ihre Erzählung spielt an der Morawa. Sind Sie in letzter Zeit da gewesen?
Der Balkan ist ein Land der Flüsse, und mir ist das Flussland sehr nahe. Ich erkläre das immer mit einer Banalität: Ich bin Schütze, ein Feuerzeichen, wie man sagt, und ich habe Wasser nötig, fließendes Wasser, das tut mir gut. Dies ist eine hanebüchene Erklärung, die ich an den Haaren herbeigezogen habe.
Hört sich ganz danach an. Der Autor der Erzählung sucht das Balkanische auf einer Reise quer durch Europa – nachdem er es an der Morawa zurückgelassen hat. Was ist dieses Balkanische? Suchen auch Sie es?
Ja, das Balkanische zieht mich an - das Unregulierte. Diese ganze begradigte, gesäuberte Welt, in der wir wie im Film leben - ich rede jetzt nicht von einer Vorliebe zu umgestürzten Mülltonnen – ist deprimierend. Das spricht doch nicht zur Seele. Wenn Sie aber eine Grube mit Schlamm sehen, und es liegt ein Schuh drinnen, so ist das sicher etwas Trauriges. Es könnte zum Beispiel der Schuh eines Geflüchteten sein. Jedenfalls stachelt solch ein Anblick dazu an, die Wirklichkeit zu erforschen. Ich will ja nicht den Balkan mythologisieren, um Gottes Willen. Balkan ist überall, und Balkan kann furchtbar sein, doch Balkan kann auf der anderen Seite auch eine Glocke anschlagen, eine Erfahrung, durch die das innere Auge sich aufschlägt. Und das innere Ohr endlich zu hören beginnt. Das ist eine große Glocke, die aus vielen kleinen Gegenständen besteht.
Es gibt mehrere Szenen, noch in der Nähe der Morawa, in denen der Bus des Reisenden von Kleinkindern mit Steinen beworfen wird. Schon im „Bildverlust“ gab es Szenen mit steinewerfenden Kindern.
Kann sein, kann sein, dann wiederhole ich mich – nicht zu fassen.
Das Bild scheint vielmehr immer noch präsent zu sein. Ist das auch heute Ihre Erfahrung im Kosovo? Dieser Hass, der den Kindern mit der Muttermilch eingegeben wird?
Das ist gleich geblieben. Nur im Moment werden wahrscheinlich aus bestimmten Gründen - ich muss jetzt lachen - die Kinder in die Häuser gesperrt, damit sie ein bisschen abwarten mit dem Steinewerfen. Damit ist ja gar nichts gegen ein bestimmtes Volks gesagt. Es ist nur eine gewisse Traurigkeit da, dass Eltern und Großeltern es nicht schaffen, den Hass abzuwenden, sodass schon in den Zweijährigen dieser Steinwurfdrang steckt, der, scheint es, geduldet wird.
Sehen Sie kein Zeichen der Normalisierung im Kosovo?
Jetzt fragen Sie mich politisch, und was die aktuelle Politik betrifft, fühle ich mich nicht zuständig.
In der Erzählung wird geschildert, dass die Serben in ihren Enklaven wie in Gefängnissen leben. Dass sie ihre Felder nicht bestellen können, ohne beschossen zu werden, dass sie ihre Toten im Dorf begraben müssen, weil die Gräber außerhalb der Dorfmauern zerstört werden. Das klingt nicht gerade nach Normalität.
Ich kann sicher sein, und Ihr Wort in Gottes Ohr, dass es sich normalisiert - was auch immer „normalisiert“ bedeutet...
...ein für alle erträglicher modus vivendi unter Bedingungen, die diktiert wurden und daher auch problematisch sind.
Tragisch bleibt auf jeden Fall, was geschehen ist und was geschehen soll. Die Tragödie wird weitergehen. Sie wird nur ihre Gewichte verlagern. Und das scheint das Gesetz der Geschichte zu sein, zumindest auf dem Balkan.
Fahren Sie regelmäßig hin?
Natürlich, ja, so zwei-, dreimal im Jahr. Ich möchte mehr allein sein. In den letzten Jahren bin ich immer häufiger allein dort gewesen und sehr viel gewandert. Es gibt einen Bergzug in der Nähe von Belgrad, Fruška Gora, wo sehr viele Klöster sind, und dann gibt es eine Landschaft in der Mitte Serbiens, die einen sehr schönen Namen hat: Sumadija. Suma ist das serbische Wort für Wald. (Anmerkung: Auf dem S muss ein kleines v-Zeichen stehen) Dort bin ich sehr oft gewandert und habe viel erlebt, was nicht schlimm war.
Was nicht schlimm war?
… was halt das Leben war – Bilder, Bildchen, wie die Griechen deshalb sagen: eidola, kleine Bildchen, die am meisten bewirken, nicht die Bilder im Fernseher. Ich könnte noch tausend Dinge erzählen, aber lassen Sie uns nicht so sehr auf ideologisches Terrain gehen.
Beobachten Sie dort gern Menschen?
Ich beobachte nicht.
Nein?
Für mich ist Schauen Zufall. Aber Schauen ist das Erste, womit man sich die Welt erobert. Durch Anschauung wird man Welteroberer. Ich verwende gern das arabische Wort „Mushahada“. Das ist es: Aus der Anschauung entsteht alles.
In der „Morawischen Nacht“ wird über die Menschen im Kosovo gesagt, dass sie dieses Schauen verlernt hätten.
Ich habe keine Ahnung, weil ich mich an vieles, was ich wahrscheinlich geschrieben habe, nicht mehr erinnere.
Es geht dabei um einen Verlust, darum, dass eine gewisse Art von Hinschauen verschwindet, das zuvor offenbar ein Charakteristikum der Menschen des Balkan war, etwas typisch „Balkanesisches“, wie Sie schreiben….
… sagen Sie ruhig „balkanesisch“, natürlich. Und das ist ja nicht nur ein Balkan-Phänomen. Es ist auch mein eigener Mangel: Ich bedauere es, wenn ich am Tag nicht „ins Schauen gekommen bin“, wie die deutsche Sprache so schön sagt: „Ich bin gegangen und ins Schauen gekommen.“ Und dann wieder aus dem Schauen, da sagt die deutsche Sprache: „Ich bin aus dem Schauen nicht mehr heraus gekommen.“ Das wäre ein Ideal, nicht wahr? Aber so gesund bleibt man nicht bis zum Tode.
Dieses Schauen hat etwas Entgrenztes, so wie Sie es in Ihrem „Versuch über die Müdigkeit“ beschrieben haben, eine Absichtslosigkeit.
Nur so geht es, es gibt ja nicht umsonst den Spruch: Man merkt die Absicht und ist verstimmt. Schauen Sie, das ist ganz praktisch. Wenn ich in den Wald gehe, ich sage immer „in die Wälder“, denn es gibt so verschiedene hier rund um Paris, dann komme ich leicht in Versuchung zu suchen – das ist ein blödes Wortspiel -, und das schränkt mich ein, dieses Suchen.
Was suchen Sie?
Ob das nun Pilze oder Beeren sind oder eine Falkenfeder, oder überhaupt eine Feder, vielleicht eine Rabenfeder, die blau schillert.
Sie leben seit vielen Jahren hier in Chaville, der Balkan aber scheint für Sie eine ungeheure Magie zu haben.
Ja, die Loire hätte mich vermutlich nicht auf den Fantasiesprung gebracht. Nehmen Sie allein schon das Wort „Morawa“ und „Die morawische Nacht“ – sehr viel hängt ja vom Klang der Silben und auch von Namen ab. Hinzu kommt: Ich kenne die Flusslandschaft der Morawa sehr gut, ich habe sie nicht gerade „durchwandert“, das ist ein furchtbarer Ausdruck, aber ich bin viel hin und her gereist in dieser Landschaft. Das hat mich sehr gereizt. Es ist mir fremder, es ist unzivilisierter, ruppiger, als Landschaft, aber auch als Menschentum. Schon in meinem ersten Buch „Die Hornissen“ steht: „Heiß macht ihn immer, was er nicht weiß.“ Also nicht: „Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß.“ Nein, umgekehrt: „Was ich nicht weiß, macht mich heiß.“ Ich weiß zu viel von hier, vom westlichen Europa. Meine präzise Tagesfantasie, Tagtraumfantasie, was ja Schreiben ist, die gegliederten Tagtraumfantasien in mir, mit Fluggang in die Tiefe, können hier nicht entstehen.
Das Fremde lässt ihnen mehr Freiheit?
Was ich nicht weiß, kann ich erfinden. So habe ich es immer gemacht. All meine Bücher handeln ja in der Zukunft – den „Kurzen Brief zum langen Abschied“ habe ich mit 26 geschrieben, und in dem Buch feiere ich meinen 30. Geburtstag. „Mein Jahr in der Niemandsbucht“ beginnt 1997, geschrieben habe ich das Buch 1993. Nur in der Geschichte von meiner Mutter, „Wunschloses Unglück“, habe ich etwas beschrieben, was war. Das fiel mir unglaublich schwer, mir kam es fast unliterarisch vor. Ich kann im Grunde nicht beschreiben, was war, nur in die Zukunft projizieren. Bei der Geschichte „Die morawische Nacht“ habe ich mir vorgestellt: Wie könnte es in zehn Jahren dort sein? Dort an der Morawa und auch anderswo ist nach dem Balkan-Krieg alles ein bisschen verschwommen. Das bringt mich auf die Sprünge.
Es fällt im Zusammenhang mit den Menschen dort auch das Wort Trotz. Trotz als letztes Refugium von Stärke, von Einstimmigkeit…
Trotz ist ein Wort aus der Türken-Zeit. Jetzt muss ich doch einmal das Wort „Serben“ aussprechen, das ich in dem ganzen Buch vermieden habe: Der Trotz ist ein Überbleibsel der Oberherrschaft der Türken über die Serben. Vierhundert Jahre lang hat diese Herrschaft gedauert. Das Wort „Inat“, Trotz, ist ein türkisch-arabisches Wort. Die Türken haben das von ihnen unterdrückte und objektiv beherrschte Volk ein Volk des „Inat“, des Trotzes genannt. Und die Serben - das ist das letzte Mal, dass ich das Wort „Serben“ benutze - die Serben haben das dann umgedreht und gesagt: Ja, wir sind die Macht, wir sind das trotzige Volk.
Sie haben aus der Beschimpfung eine Tugend gemacht.
In diesem Sinne, ja. Vor fünfzehn Jahren, als es zu den Kriegen kam, haben die westlichen Medien von diesem „Inat“ gehört und es wiederum umgedreht. Nun wurde es wieder in der ersten, ursprünglichen Bedeutung verwendet, die es während der Türken-Herrschaft hatte. Es ist eine interessante Geschichte. Ein schönes Wort – „Inat“. Wenn ich einen Sohn hätte, würde ich ihn Inat nennen.
Warum verwenden Sie das Wort „Serben“ so vorsichtig? Sind Sie dieser ganzen Diskussion müde?
Ich war der Diskussion schon von Anfang an müde. Ich wollte nie diskutieren, ich wollte einfach darstellen, was es dort noch anderes zu sehen gibt - etwas, das vielleicht genauso bezeichnend ist, oder: anders zu bezeichnen ist.
Das heißt, Sie ziehen sich jetzt aus der Debatte zurück?
Na, Frau Eichel, ich habe vor ein paar Tagen der spanischen Tageszeitung El Mundo ein Interview gegeben, das geharnischt war, was den Kosovo betrifft. Wenn es um so etwas geht, dann können Sie von mir schon Überraschungen erwarten. Nicht nur, wenn ich getrunken habe: Da hatte ich keinen Tropfen gesehen, aber schon ordentlich losgelegt.
Der Zorn ist noch da?
Die eigentliche Debatte hat es ja nie gegeben. Wenn es sein müsste, würde ich noch härtere Worte und Wörter gebrauchen. Aber der Zorn kommt und geht. Was bleibt, ist die Wut. Die deutsche Sprache sagt nicht umsonst: „Der Zorn verraucht.“ Stimmt. Der Zorn verraucht, aber das Feuer bleibt (lacht).
„Früh irrt sich, wer ein Meister werden will.“ Muss man sich erst einmal irren, um ein Meister zu werden?
Ja, das ist ein präsokratischer Satz und mehr als nur ein dummes Wortspiel. Wenn ich jemals eine Autobiographie schreibe, dann unter dem Gesichtspunkt, dass ich alle meine Irrtümer, alles, was ich falsch gesehen, falsch gehört, auch verwechselt habe, benenne. Aus diesem Mich-geirrt-haben in einem Blick oder einem Geräusch sind oft erst die richtigen Blicke entstanden. Ich habe manchmal etwas Falsches geschrieben, also etwas, was den Tatsachen nicht entspricht – dieser Baum sieht so und so aus, oder dieser Apfel so und so, diese Augen haben diese und diese Farbe. Im Nachhinein dann, als ich wieder vor dem Baum oder vor dem Apfel oder vor diesen Augen mich befand, habe ich gesehen, dass ich mich geirrt hatte. Und in diesem Moment erst habe ich wirklich etwas gelernt. Es gibt ja das berühmte Prinzip des „trial and error“. Es ist einer der schönsten Vorgänge, zu sehen, wie etwas wirklich aussieht, wenn man sich zunächst einmal geirrt hat.
Sind Fehler unerlässlich?
Ja, zum Beispiel falsch anzufangen. Als ich die Geschichte „Der kurze Brief zum langen Abschied“ schrieb, war das eine Zeit, als das Erzählen eigentlich lächerlich geworden war, „obsolet“, würde man heute sagen. Nach all den Jahren kann man sich das kaum noch vorstellen. Und ich habe angefangen mit dem Satz: „Die Jefferson Street ist eine stille Straße in Providence. Als ich Ende April dort ankam...“ – dann habe ich gedacht: Das geht doch überhaupt nicht!
Es wirkte sicher provozierend konventionell...
Ich dachte: Das ist ja total falsch! Aber gerade, indem ich weiter machte mit diesem Falschen, habe ich vieles entdeckt. Wenn ich „richtig“ angefangen hätte, wäre ich nie darauf gekommen. Durch das falsche Anfangen bin ich zu einem richtigen Ende gekommen, zum wahren Ende, zum wahrhaftigen. Hätte ich richtig angefangen, wäre ich nirgends hingekommen, oder ich hätte, was noch schlimmer gewesen wäre, falsch aufgehört. Mir kommt es heute so vor, dass sehr viele Bücher richtig anfangen, aber völlig falsch aufhören. Das ist meine Doktrin, das können Sie als die Handke-Doktrin weitergeben: Man muss falsch anfangen!
Sind diese vermeintlich richtigen Anfänge auch eine Folge der modisch gewordenen Schreibschulen?
Ich denke, das ist das Entsetzliche daran.
Halten Sie das für eine zunehmende Amerikanisierung des Schreibens?
Ich habe überhaupt nichts gegen amerikanisches Schreiben, aber es ist der Tod des Schreibens, auf andere Weise. Es kommt nichts dabei heraus. Die Begabtesten bleiben zwar begabt, trotz dieser Schulen, aber sie machen halt nichts falsch. Die Absätze stimmen, der Rhythmus der Sätze ist richtig – aber wo bleibt das Stammeln, wo bleibt das Suchen, wo bleibt das Zittern der Sätze, das Abstürzen? Nur das ist Literatur. Ich merke sofort, nach drei, vier Sätzen: Ah, das zittert. Aber das geht mir nur noch sehr selten so. Einer der scheußlichsten Anfänge, die ich je las - ich habe nicht viel weiter gelesen - lautet: „Mein Vater war eine Sturzgeburt“. So begann eine österreichischen Schriftstellerin ihren Roman. Da habe ich gedacht: Wenn ich die erwische….
Verraten Sie mir, wie das Buch heißt?
Nein, ich sage nicht den Namen. Das ist keine Österreicherin. Ich habe gedacht: Die kriegt von mir was zu hören. Nein, diese Schule der Sätze und die Regeln, wie man etwa die Charaktere entwickeln soll, ist furchtbar. Kein Mensch, der wirklich Leser ist, interessiert sich noch für solche Charaktere. Lesen ist etwas viel Spannenderes, Lesen ist etwas Verschlungenes. Der Leser muss bereit sein, auf eine Expedition zu gehen. Es ist ein Unsinn zu sagen: „Dieses Buch verlangt aber Geduld!“ Nein, ein Buch, das wirklich ein Buch ist, erzeugt Geduld. Das ist das Herrliche an dem, was wahrscheinlich immer selten war, und das man Literatur nennt.
Für solch ein geduldiges Lesen braucht man möglicherweise auch kontemplative Zurückgezogenheit. Sie haben mal gesagt, dass das Lesen in der Öffentlichkeit eigentlich etwas Obszönes habe.
Ich saß einmal im Flugzeug nach Edinburgh, in dem alle Dan Brown lasen. Es waren alles alte Menschen. Und ich dachte: Schämt ihr euch nicht? Es war eine greise Gruppe, die vermutlich gerade vom Vatikan kam und in Paris zwischengelandet war. Nein, ich habe kein Vertrauen zum öffentlich Lesen. In Frankreich ist das üblich, zum Beispiel in der Metro. Aber dann denke ich immer: Man kann nicht in der U-Bahn lesen, das geht nicht. Ich selbst konnte schon als Kind nie im Omnibus lesen, wenn ich von der Schule nach Hause fuhr. Außerdem wurde mir dann schwindelig dabei. Ich meine, was wird da gelesen? In einem Bestseller liest man ständig. Es muss ja auch nichts Schlechtes sein - ich will keine Polemik.
Im „Selbstportrait aus unwillkürlichen Selbstgesprächen“ hat man den Eindruck, dass „es“ permanent in Ihnen denkt und formuliert.
Ich habe keinen Formulierungszwang - was ja schon der Zusatz „unwillkürliche“ Selbstgesprächen zeigt. Ich werde davon angeweht, von innen oder von außen her, oder von beidem? Außerdem bin ich ziemlich trainiert über die Jahrzehnte, sodass ich kurz und knapp denke. Was ich da unwillkürlich gedacht habe, hat eine seltsame Form, ohne dass ich auch nur den Willen oder eine Formulierungsvorstellung hätte. Das notiere ich mir, und das tut mir gut. Ich finde diese Sätze manchmal vor wie eine Nachricht, und dann denke ich: Seltsam, diese Form oder diese Figur eines Satzes hat es noch nie gegeben. Es wäre schade, wenn das, was mich anfliegt, wieder von mir wegfliegt - und so wird es sacht festgehalten, ohne dass ich es gefangen nehme.
Es hat zuweilen eine skurrile Komik, wenn Sie in einen inneren Dialog mit den Dingen geraten, mit einer nahezu animistischen Wahrnehmung. - „Bist auch verhungert?“ (zu der toten Spinne, vertrocknet im eigenen Netz) - Empfinden Sie so etwas unwillkürlich?
Ja, das kommt vor, im Guten wie im Bösen, eben wie Sie es zitiert haben. Dass man ein Schuhband, das reißt, beschimpft, oder dass man eine Wolke duzt – es kommt vor, ohne dass man es will. Vielleicht ist das ein Überbleibsel aus der Kindheit, wo auch alles belebt scheint. Es kommt sogar vor bei diesen Selbstgesprächen, dass man sich selbst maßregelt und sich selbst beschimpft. Oder dass man in ein Zwiegespräch mit seinen Verstorbenen gerät. Was da tagsüber in einem vor sich geht, ist sehr seltsam. Im Grunde ist der Mensch noch längst nicht erforscht.
Haben diese sich unwillkürlich formenden Sätze entfernte Ähnlichkeit mit dem „stream of consciousness“?
Die Holzschnitte von Hokusai aus dem 19. Jahrhundert hießen „Bilder der flüchtigen Welt“, das war das Motto. Und im Grunde könnten all diese kleinen Sätze „Sätzchen der flüchtig Vorbeiziehenden“ heißen. Es ist überhaupt kein Ehrgeiz dahinter.
Ein Zwiegespräch betrifft Ihre Mutter: „Ja, Mutter.“ Oder: „Mutter, mache ich dir Schande?“
Das wird wohl seinen Grund gehabt haben. Es ist sicher eine Art Ahnenkult, den ich betreibe, ab und zu auch in der „Morawischen Nacht“. Aber dieser Ahnenkult ist materiell. Ich kann Inspiration, Materie und Form nicht trennen, so wie auch Materialismus und Spiritualismus für mich zusammen gehören. Deswegen ist das Christentum für mich eine Materie-Religion. Wenn jemand die Evangelien gelesen hat, wenn er selber aufmerksam ist auf sein Leben und das Leben anderer, wenn eine Wunde offen ist - dann wird er sehen, dass das Evangelium Materie ist. Und so ist auch mein mich gelegentlich anfliegender Ahnenkult Materie.
Sie haben sich intensiv mit der Bibel auseinandergesetzt…
Bevor ich hier in das Haus gezogen bin, habe ich die ganze Heilige Schrift, von Alpha bis Omega, auf griechisch gelesen. Ich habe lange Jahre griechisch gelernt und auch ein bisschen aus dem Altgriechischen übersetzt, Aischylos und Sophokles. Die Bibel habe ich dann Wort für Wort mit einem Wörterbuch gelesen – die Notizbücher dieser Jahre 1974 bis 1990 habe ich dem Literaturarchiv in Marbach gegeben. Die Bibel war eine Zeit lang mein täglich Brot. Das erste, was ich danach in diesem Haus geschrieben habe, war der „Versuch über den geglückten Tag“. Darin gibt es sehr viele Anspielungen auf meine Lektüre der Heiligen Schrift.
In Ihrem jüngst erschienen Gedichtband „Leben ohne Poesie“ gibt es ein Gedicht über die Verkündigung:
Der wunderbarste Raum
der wunderbarste Abstand
der wunderbarste Zwischenraum
ist der zwischen dem Engel der Verkündigung
und der jungfräulich Gebären-Sollenden:
Abstand von der Lilie des Feldes
zur Lilie des sechsten Tages
Sind das religiöse Bilder, die für Sie besondere Symbolkraft haben?
Natürlich sind das auch Bilder, denn der Verkündigungsengel wird ja mit einer Lilie dargestellt. Die schönste Verkündigung, die ich gesehen habe, stammt von Hans Memling. Da kommt der Engel geflogen, während Maria liest – sie liest ja immer auf den Verkündigungsdarstellungen. Man sieht den Schwung der Flügel, und vom Lufthauch fliegt eine Seite des Buches auf, in dem die Jungfrau Maria liest – was für eine unglaubliche Erzählung, was für ein schönes Bild.
Wurzelt Ihre Religiosität in der Kindheit oder hat sie sich erst später entwickelt?
Zu der Zeit, als ich „Langsame Heimkehr“ schrieb, das Buch, mit dem ich mich laut Franz Kafka am meisten selber umgegraben habe, kamen all diese gewissen Angelerntheiten aus meiner Kindheit und Jugend wieder zurück und haben sich verwandelt von der Angelerntheit zu etwas zu Lernendem. Das hat mich bis jetzt nicht verlassen. So kam es auch zum Gedicht über die Lilie des sechsten Tages, das Sie gerade zitiert haben.
Was bedeutet es Ihnen, Gedichte zu schreiben?
Ich habe in meinem Leben vielleicht fünf wirkliche Gedichte geschrieben. Nehmen Sie das Gedicht: „An den Morgen.“
Aufgewacht vor dem morgenhellen Himmel:
Über die noch dunklen Dächer
treibt aus den Kaminen schon langsamer Rauch
Die Vögel: Sine fine dicentes
Und alle Lieben leben
„Sine fine dicentes“, diese Formulierung kommt aus der Heiligen Messe. Ohne Unterlass wird gesagt: heilig, heilig, heilig, heilig. Ich habe nur das „heilig“ weggelassen. Die Vögel am Morgen, sine fine dicentes, sangen ohne Unterlass. Das muss man wissen, das ist die Essenz des Gedichtes. Wie ich dazu kam? Es hat mich angeflogen, vor langer Zeit schon. Was sich als Gedicht ausdrückt, sehe und spüre ich nicht als Gedicht - es muss dringlich und leicht sein. Heute gibt es eigentlich kaum mehr Gedichte, das kommt auch in den „Unwillkürlichen Selbstgesprächen“ vor: „Die Gedichte werden immer seltener.“. Ich frage mich, warum.
Gehen Sie in die Messe? In den „Selbstgesprächen“ findet sich der Satz: „Warum bin ich nicht in die Messe gegangen, ich Arschloch.“
Ja, das war in Chicago, ich sehe es immer noch vor mir. Ich habe mich am Michigansee herumgetrieben, und eine Zeitlang war das sehr schön - allein sein, allein gehen, am meerhaften See von Chicago. Doch dann dachte ich: Nein, es hat mir doch die Gemeinschaft von Leuten gefehlt, die man zwar nicht kennt, die aber ganz auf die Messe ausgerichtet sind, auf die Eucharistie. Am Ende habe ich mich nicht gerade schuldig gefühlt, aber ich hatte ein Gefühl des Versäumnisses. Mein Rhythmus war zu sehr auf das ekstatische Alleingehen am See gerichtet gewesen.
Der Schriftsteller in Ihrem Buch sagt, dass er jede Form von Parteigängertum vermeide. „...selbst mit einer ‚aus dem anderen Geschlecht’ zusammen sah er sich als Partei. Und Teil einer Partei zu sein, das war nichts für ihn.“ Ist die Gemeinschaft der Gläubigen die einzige, der Sie sich anschließen können?
Ja, je nachdem natürlich, was das für Gläubige sind. In einem meiner Stücke wird der Satz: „Warum toben die Heiden?“ aus dem zweiten Psalm Davids abgewandelt. Der wilde Mann in meinem Stück sagt: „Und heute toben die Gläubigen“. Es kommt eben immer darauf an. Aber, wenn es zart und dem Wort der Schrift fein nachgezogen abläuft – das kann auch der Koran sein - , dann ist das meine Gemeinschaft. Es kann aber genauso die Gemeinschaft auf einem Fußballplatz sein, die einem guten Spiel beiwohnt. Oder die Gemeinschaft, die einen großen Film im Kino anschaut, was nicht so häufig vorkommt. Oder die noch seltener sich ereignende Gemeinschaft eines großen Theaterabends. Auch das ist eine herrliche Gemeinschaft. Bei Konzerten bin ich schon etwas weniger überzeugt, wenn ich an meine Erfahrungen mit dem Konzertpublikum in Salzburg denke. In der Musik geschieht es vielleicht eher bei Pop-Konzerten, bei Van Morrison oder Bob Dylan. Da habe ich schon das Gefühl, dass das Publikum eine gute Gemeinschaft ist. Nach dem Konzert geht jeder für sich weg, aber eigentlich doch noch in einer Gemeinschaft. Und sogar der schrammende Schuh der Weggehenden ist ein Nachklang der Stimme dessen, der gesungen hat. Das nenne ich Gemeinschaft, aber das ist alles flüchtig.
„So alt, und immer noch ungeduldig.“ - „Dreiundsechzig Jahre Ungeduld“ (im Flugzeug) – Sätze aus Ihren „Selbstgesprächen“.
Ja, das trifft auf mich leider zu.
Verliert sich die Ungeduld nicht mit der Zeit?
Warten Sie, in einer halben Stunde werden Sie meine Ungeduld spüren (lacht). Ja, es ist furchtbar. Ich gebe Ihnen das, Frau Eichel, ich habe extra für Sie noch ein paar kleine Seiten neuer „Selbstgespräche“ abgeschrieben. Da kommt mehrmals die Ungeduld vor. Hier - aber das muss man lang wirken lassen: „Ungeduld ist grußlos.“ Ich meine, es ist eigentlich ein Blödsinn, aber wenn man darüber nachdenkt, ist doch was dran. Die Ungeduld kann nicht grüßen.
Sie hat keine Zeit für Form, keinen Blick für andere …
… ja, und sie hat auch nicht die Freude am Grüßen. Naja, Freude ist schon viel zu sehr interpretiert. Haben Sie einen Moment Geduld?
Ja, ich gedulde mich.
Warten Sie, ich muss es suchen. Ah, da ist wieder die Ungeduld, sogar zweimal: „Und solange du die Geduld nicht hast, bist du nur ein trüber Gast.“ Dann gleich noch einmal: „Unmusikalische Ungeduld“.
Da fällt mir ein anderes „Selbstgespräch“ ein: „Musikalisch gehen.“ Die Ungeduld ist nicht rhythmisiert. Sie wandern jede Tag viele Stunden in den Wäldern hier bei Paris. Gibt es eine musikhafte Freude am Gehen?
Vieles davon ist schon Vergangenheit. Diese Freude, die beim Gehen und durch das Gehen entsteht, ist nicht mehr so vorhanden. Vielleicht gehe ich nicht lange genug, es genügt ja nicht, eine halbe Stunde in den Wald zu spazieren. Da fängt es ja erst an.
Mir ist in Ihrer Erzählung „Die morawische Nacht“ aufgefallen, dass, wie auch in vielen Ihrer anderen Texte, sehr viele Arten des Gehens beschrieben werden. Das wirkt manchmal wie eine Choreographie: Leute, die um Gräber herumtänzeln, andere, die über steiniges Gelände stolpern. Sind diese Körperrhythmen eine Art von Musik, die Sie empfinden?
Ja, ich habe mir oft gefragt, warum eigentlich die Ballett-Leute nicht einen Tanz aus dem Gehen machen. Die Tänzer wollen immer hüpfen und springen, statt sich zu fragen: Was gibt es für Hindernisse auf der Welt? Es gibt ja unglaubliche Hindernisse, und wenn man sie übersteht, wird daraus ein Tanz, ohne das man extra dieses ballettöse Gehopse macht. Warum denn nicht genauer schauen, was Hindernisse sind? Und wie aus etwas Schwerem, schwer zu Bestehenden im Leben ein Tanz wird, indem man die richtige Bewegung dafür findet? Daraus wird dann eine Art Zehntelsekundentanz, und dann geht es wieder ganz normal weiter. Das tut dem Zuschauer ebenso gut wie dem, der das bestanden hat. Ich denke, dass die Ballett-Leute viel zu wenig Forscher sind. Auch wenn sie denken, dass sie revolutionäres Ballett machen, schauen sie doch nicht genug. Das kann man von sich selber auch sagen.
Auch das avantgardistische Ballett ist Ihnen zu artifiziell?
Ja, artifiziell, das haben Sie gut gesagt. Man sollte sich die Leute auf der Straße oder in der Steppe oder auf einem Bau anschauen. Es muss ja deshalb nicht gleich eine Pantomime werden.
„Ich schaue zu wenig. Ich schaue zu wenig auf.“
Das meine ich auch ganz technisch; man sollte einfach nach oben schauen. Nachdem man lange hinaufgeschaut hat, sieht man unten den Boden viel, viel besser. Probieren Sie das mal, diesen Rat kann ich nur jedem geben. Lange hinaufschauen, dann sieht man unten sofort, wo ein Steinpilz ist oder wo eine Ameise wackelt oder wo eine Hornisse grad in ihr Nest schlüpft. Oder auch zum Beispiel, wenn Hundedreck daliegt. Kann nichts schaden.
Ist das Schauen der Gegenpol zum Terror der Medienbilder?
Ja, das kann man sagen - der heutigen, der käuflichen Bilder, der verkauften Bilder, die in die Kommunikationskanäle hineingeschossen werden.
Entziehen Sie sich völlig? Sehen Sie nicht fern?
Natürlich sehe ich fern, aber ich schlafe sofort ein, es ist furchtbar. Das einzige, zu dem ich mich richtig gedrängt fühle, sind die Nachrichten spät nachts, aber nach fünf Minuten bin ich dann verschwunden. Es gab nur zwei Sachen, bei denen ich nicht eingeschlafen bin in den letzten Jahren – das war immer Fußball oder Pop-Konzerte. Auch französische Chansons sehe ich sehr gerne. Und sogar da bin ich jetzt schon in Gefahr wegzududeln.
Sehen Sie deutsche Nachrichten?
Nein, nein, ich habe keinen deutschen Sender, ich habe nur drei französische Programme.
Interessieren Sie sich für das, was in Deutschland politisch passiert?
Ich lese Die Zeit und die Süddeutsche.
Informieren Sie sich über das politische Tagesgeschehen?
Ich sollte eigentlich mehr wissen, vor allem, was Österreich betrifft. Deshalb kaufe ich mir die Süddeutsche, weil die auch über Österreich berichtet. Aber es ist bei weitem nicht genug.
Ist das Pflichtbewusstsein oder Neigung?
Mehr Pflichtbewusstsein, Neigungen in dieser Richtung habe ich nicht. Es ist eher eine unangenehme Neugier, die ich nicht an mir mag. Da sitze ich manchmal am Abend in einem Restaurant, wenn ich allein bin, und lese Le Monde - und danach fühle ich mich total bescheuert. Ich gebe nicht den Zeitungen die Schuld an meinem Bescheuertsein, sondern ich lese einfach zu viel. Statt dass ich, wir mir das manchmal gelingt, beim Durchblättern sage: Diese zwei, drei Artikel werde ich lesen, lese ich dann aber alles, und danach sehe ich überhaupt nichts mehr.
„Ich habe keine Musik in mir. Und ich will keine Musik in mir. Und dabei bleibt’s.“
Ja, das ist auch so ein Spruch, der halt aus dem Augenblick kommt.
Sie haben einmal gesagt, Sie hörten keine Musik mehr zuhause, weil Sie dann das irrige Gefühl hätten, schon etwas geschafft zu haben.
Ja, das hat mir ein Bekannter mal gesagt, und es hat mich so richtig ins Nachdenken gebracht. Das Musikhören gaukelt einem vor, dass man etwas gemacht hat, das man erst machen sollte. So, wie es mir auf andere Weise auch mit dem Wandern in den Wäldern geht, am Morgen, bevor ich arbeite. Ich gehe lange in den Wald, und da erlebe ich so viel, dass ich beim Nachhausekommen denke: Eigentlich habe ich schon alles getan – und dabei sollte ich ans Schreiben gehen. Nietzsche, der ein wahres Musikopfer war und ein Musikkenner im Gegensatz zu mir, hat ja sehr treffend gesagt: Hüte dich vor dem Mond, hüte dich vor der Musik.
Wenn jemand Wagner liebt, ist die Gefahr nicht weit.
Völlig richtig. Aber ich höre schon Musik. Es war eine dieser Prämissen, die man sich stellt, und an die man sich dann zum Glück nicht hält: Mein Haus soll ein Haus ohne Musik sein. Am nächsten Tag schon habe ich wieder Musik gehört, ob das Bach war oder Erik Satie, den ich besonders gern höre, oder Anton von Webern – er komponiert eine Musik, die spricht. Ich habe selten erlebt, das Musik sprechen kann. Man weiß nicht, was sie sagt, und das ist was Herrliches. Man ist nicht behelligt von Bedeutung.
Musik hat nicht den Terror der Eindeutigkeit. Ist die Mehrdeutigkeit das eigentliche Metier des Schriftstellers? Eines Ihrer Gedichte heißt „Verwechslungen“ und beginnt:
„Ist das da auf dem Flugfeld, mit dem aufgerissenen Maul, ein Hai?“ –
- „Nein, es ist die offene Einstiegsluke des Flugzeugs.“
„Liegt da im Obstgarten nicht ein Haufen von Handgranaten?“
- „Nein, was da im Obstgarten liegt, ist ein Haufen von schwarzen, verfaulten Äpfeln.“
„Schau, in die Briefmarke schlägt ein Blitz ein!“
„Nein, das ist nur ein Teil des Sonderstempels.“
Ist das Missverständnis nicht viel schöner? Ist nicht der poetische Blick auf die Welt der verwandelnde Blick?

Ja, Sie haben Recht. Mit diesem Gedicht aus „Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt“ verhält es sich wie mit den Irrtümern. Würde ich eine Autobiographie schreiben, wären der rote Faden die Täuschungen. Einerseits die guten, wie Sie sagen, andererseits die unfruchtbaren, und drittens jene, die die Deutschen und die Engländer auf den falschen Weg gebracht haben.
Die Musik ist das eine – viel schlimmer aber sind für den Helden der „Morawischen Nacht“ die Geräusche: Er hat eine wahre Geräuschphobie.
Das war mir sympathisch, weil ich Lärm für eine unglaublich unterschätzte Belästigung halte.
Ach, meinen Sie das auch?
Wir reden von Elektrosmog, von Pestiziden, von allen möglichen Umwelteinflüssen, selten aber von der Aushöhlung durch die permanente Geräuschkulisse. In Ihrem Buch heißt das Gegenkonzept „Geräuschabwehr“.
Ja, ich bin immer noch gestresst, es ist furchtbar und auch schön, wie geräuschempfindlich ich bin. Da kann es passieren, dass man sogar innen und außen verwechselt, dass der Knopf an der Jacke die Tischkante streift, und man zusammenzuckt, als ob draußen die Fehlzündung eines Autos losgeht.
In dem Zusammenhang haben Sie gesagt, Sie seien schreckhaft, aber nicht ängstlich.
Das ist völlig richtig, ja. Ich zucke oft beim kleinsten Geräusch zusammen, aber ängstlich bin ich eher nicht.
„Jede Straße hat ihre Verlorenen.“
Ich selbst kann nicht verloren gehen, weil ich in diesem Kaff jede Straße kenne. Aber ich sehe die, die man früher in meinem Dorf die Dorfdeppen nannte. Ich kann sie verstehen, wenn sie endlos lang am Marktstand nach Kleingeld suchen, denn damit wollen sie wie die Fußballer Zeit schinden, damit sie nicht nach Hause gehen müssen. Das ist entsetzlich. Das sind die wirklich Verlorenen.
Kennen Sie das Gefühl der Angst, im übertragenen Sinne verloren zu gehen? Sich selbst verloren zu gehen?
Es steht alles auf des Messers Schneide. Gerade die Leute, die heute die Sieger sind, können schon am nächsten Morgen ganz unten sein. Das ist mein Grundgefühl. Ich habe heute einen Triumph mit irgendeinem Scheißerfolg, und am nächsten Tag bin ich der letzte Mensch. Heute bin ich glücklich mit jemandem, und ich freue mich, wie man sich überhaupt nur freuen kann, am nächsten Tag aber möchte ich Punkt, Punkt, Punkt.
Das sind Wechselfälle. Fühlen Sie sich unzerstörbar?
Nicht nur das Glück, auch das Unglück ist manchmal eine Schimäre. Mein Bruder, der sehr schwer krank ist, der jeden Tag leidet und viele Tabletten nehmen muss, freut sich des Lebens, so weit er kann - vielleicht mehr als unsereiner. Er sagt, dass es manchmal Tage gibt, in denen das Leben ganz einfach sei, sogar für ihn. Und dann wird es wieder so schwer. Man weiß nicht, warum und wie die Gewichte sich verlagern. Ein kleines Gewicht genügt, und plötzlich denkt man, es geht überhaupt nicht weiter. Ich weiß nicht, woran das liegt. - Dem Papst geht es sicher nicht so.
Wer weiß...
Na ja, von Mutter Teresa habe ich gehört, dass sie manchmal schwerste Depressionen hatte. Es hat schon ein bisschen mein Vertrauen in sie geweckt, dass sie so auf der Kippe war.
Beschäftigen Sie sich mit dem Tod?
Das ist übrigens gut gefragt, ich kann Ihnen nämlich eine Antwort geben: Ich beschäftige mich nicht mit dem Tod, er beschäftigt mich. Jeden Tag, so ist es halt.
Und warum beschäftigt der Tod Sie? Sie sind vor kurzem 65 geworden - ist es das Gefühl des Alterns?
Ich habe schon als Achtjähriger fürchterliche Todesängste gehabt, nur weil der Priester im Religionsunterricht gesagt hat, man könne am Abend, wenn man einschläft, nicht wissen, ob man am Morgen aufwacht. Danach hatte ich monatelang Todesangst. Ich wollte nicht einschlafen, weil ich dachte: Ich kann ja nicht wissen, ob ich wieder aufwache. Es war damals eigentlich schlimmer als jetzt.
Und was tun Sie, wenn der Tod Sie beschäftigt?
Heute halte ich mich an den Satz von Spinoza: Der vernünftige Mensch, so lang er lebt, denkt über das Leben nach. Der vernünftige Mensch spricht nicht dauernd vom Tod.
Ich danke Ihnen für das Gespräch.
Das Interview führte Christine Eichel
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Note that the title refers to the river Morava and not to Moravia in the Czech Republic. Handke uses a Germanised form of the Czech word, rather the usual German word, March. The Moravan Night is a houseboat. It used to be a floating hotel but has been converted for use as a personal houseboat of the author or, rather, as the narrator quickly points out, the ex-author (he has not written for ten years) who is the focus of this novel and who may or may not be, at least in part, based on Handke himself. At the beginning of the book, a group of people - friends, associates, like much in this book it is not entirely clear - come to the boat, which is moored on the Morava river (though we do not know exactly where or, indeed, in what country). They are sat at individual tables. As well as the ex-author, there is a woman there. Who is she? We do not know. We learn from him some of his life, in particular how he had to flee from a woman who was out to kill him (we will learn about her later) But we also learn of strange journeys he made.
The first journey is a strange one through an enclave (he uses the term in German) which may or may not be Kosovo. All we know is that they goes through Porodin. They are a group of a people on a bus (an old bus, with Cyrillic writing on the side). The ex-author (we never learn his name, he is known only as the ex-author) generally keeps himself to himself and so do the others but there are occasional interactions, such as we when they all start asking him awkward questions or when the driver criticises the people of small ethnic groups struggling for their independence, and not just the ones in former Yugoslavia. The road takes them through ruined towns though some are still inhabited and occasionally they are greeted by the inhabitants or followed by the police. They even see tanks. But they also see buildings destroyed, waste all over the place and dead animals. Some villages are completely uninhabited. Both the descriptions of the landscape and the reactions and thoughts of the ex-author and some of the passengers are haunting and masterly told, as only Handke can.
But we also follow his other, earlier travels. He spends time on an island in the Adriatic, which he calls Cordura (named after the film They Came to Cordura), though that is not its real name. Here he lives a life of isolation, mixing only with the fishermen. He goes to Spain, starting with Numancia, where he attends a conference on noise and meets the poet Juan Lagunas, who tells him that we no longer have an association with a place any more and that this is something irretrievably lost. He travels around, particularly in Galicia, seeing places, meeting people and going to football matches. It could be boring with a lesser writer but Handke keeps our interest going at all times. He then goes to Germany, specifically to a small town in the Harz mountains where his father had lived. He had barely known his father and wanted to discover his roots but his visit did not help. The (naturally unnamed) town did not seem German to him but could have been any where. This may partially have been because it was near the East German border but also because he felt more Balkan than German. He looks for his father's grave in the cemetery but it is not there. When he inquires at a nearby flower shop he learns that graves for which the upkeep had not been paid were dug up, to allow space for the recently died. He remembers only his father's death, suddenly keeling over and telling his wife, Lina, that he was dying. The narrator points out that this is the only German name he mentions during his story.
This points to one of the key themes of this work. Later in the novel, the ex-author narrator will comment on this issue of belonging, of place as well as talking about the land and languages and cultures. This is now all confused, citing the example of an Asian and Turkish immigrant talking to one another in a strong Austrian dialect. We are part of this whole - our language, our land, our culture - but we are individuals as well and this has also taken a terrible blow in the post-Yugoslavia conflict. There is a telling image of the narrator ex-author going to a conference and visiting a cemetery called the Cemetery of the Nameless, a cemetery where unknown corpses and the corpses of suicides were buried. There is even a gravestone which reads simply Nameless. Never to be Forgotten. (It reminds us, of course, of the father's grave which has now gone.) It is ironic, of course, but also, for Handke, deeply sad that these people have been forgotten. But, in the end the Porodin Enclave is no longer an enclave and Porodin is now Porodin and no longer Породин.
This book, unfortunately, is not available in English (nor, as far as I can see, in any other language). Handke is one of the most important authors writing tody, even if you find his views on Serbia somewhat disturbing. Yet, of the eighteen books published by him since 2000, only two are available in English. Yes, some of his works are long (this one is 560 pages but still much shorter than Der Bildverlust (Crossing the Sierra de Gredos)) and yes, he is very prolific but more, much more of his work should be available in English, including this one.

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Peter Handke setzt sich mit den Kritiken seines jüngsten Buches „Die morawische Nacht“ auseinander und verteilt Lob und Tadel
FOCUS: Herr Handke, Ihr Buch fand die geballte Aufmerksamkeit der Feuilletons. Bedeuten Ihnen Literaturkritiken noch etwas?

Handke: Im März 1966 schrieb Helmut Scheffel in der FAZ über mein erstes Buch „Die Hornissen“: „Dieser Autor betreibt Grundlagenforschung. Man vertraue sich ihm an.“ Damals war ich 23 Jahre alt. Ob man sich mir anvertrauen soll, das weiß ich nicht. Dass ich Grundlagenforschung betreibe, das hat er gut gesehen. Von da an habe ich immer wieder großartige und aufmerksame, mich selbst stützende wie bekräftigende Kritiken erhalten. Die habe ich auch gebraucht, denn auf sich allein gestellt, ist man doch relativ verloren.

FOCUS: Sind Sie wirklich so ausgesöhnt mit der deutschen Literaturkritik?

Handke: Ich bin, das muss ich einmal sagen, voller Anerkennung, was die deutschsprachige Literaturkritik angeht. Mit Philip Roth bin ich nämlich völlig einig, was zum Beispiel die „New York Times“ betrifft. Die leistet sich die schlampigste, oberflächlichste und unbelesenste Literaturkritk, die ich je erlebt habe. Ihr Literaturteil ist einfach liederlich.

FOCUS: Aber es gab auch immer deutsche Autoren, die Ihre Bücher kritisiert haben?

Handke: Ja, Marcel Reich-Ranicki. Bei ihm habe ich immer den Willen gespürt, mich auszuschalten, meine literarische Existenz zu vernichten. Über mein Buch „Das Gewicht der Welt“ urteilte er in einem Satz: Damit habe sich Handke aus der Literatur geschrieben. Nach meiner Erzählung „Langsame Heimkehr“ meinte er, ich sei jetzt erledigt. Diese Angriffe auf meine Person hat er ungestraft vorbringen können.

FOCUS: Das liegt 30 Jahre zurück, und Sie sind aber der deutschen Literatur erhalten geblieben ...

Handke: Um es milder zu sagen, was ich meine. Es gibt eine Verantwortung der Literaturkritiker. Nicht mir gegenüber. Ich kann mir selber gestohlen bleiben. Aber der Literatur gegenüber. Um ein Wort Eichendorffs abzuwandeln: Die Literatur ist das Herz der Welt, das genau, manchmal auch ungenau schlagende Herz der Welt. Das Ungenaue in der Literatur gibt oft ein genaues Bild der Welt.

FOCUS: Zurück zur Gegenwart: Hat Ihnen alles gefallen, was die Rezensenten im vorigen Monat geschrieben haben?

Handke: Warum soll ich mich zu Literaturjournalisten äußern? Ich kann mir ja nicht einmal vorstellen, wie ich in einer Feuilletonredaktion arbeiten könnte. Malen Sie sich aus: Ich komme nach Hause zu meiner Mutter, und sie würde mich fragen: „Lieber Sohn, was bist du geworden?“ Und ich müsste zu meiner Mutter sagen: „Ich bin Literaturkritiker geworden.“ Ich glaube, das wäre noch peinlicher gewesen, als wenn ich mich als Schriftsteller ausgegeben hätte.

FOCUS: Sie weichen aus ...

Handke: Also gut! Mir sind drei Sachen in der Kritik von Iris Radisch im Wochenblatt „Die Zeit“ aufgefallen. Als Erstes: Sie erwähnt die Stelle, an der der Icherzähler mit anderen auf einen Friedhof geht, auf einen – in Klammern gesetzt: natürlich verschwundenen – serbischen Friedhof. Da wird insinuiert: typisch Handke. Dabei kommen in meiner ganzen Erzählung die Worte serbisch oder Serbien gar nicht vor. Dass für mich ein natürlich verschwundener Friedhof ein serbischer sein müsse, ist ideologische Unterstellung. Die gehört nicht in eine Literaturkritik. Dann schreibt sie über mich, ich wäre unter anderem von Liebe befreit. Und wieder in Klammern: für die er sich allerdings noch nie besonders interessiert hat. Was hat das mit Kritik zu tun? Ein Autor ohne Liebe ist doch überhaupt kein Schriftsteller. Und zuletzt: „Sicherlich schreibt er schon wieder. Immer wieder an diesem endlosen Buch seiner selbst ...“ Von oben herab, ohne Achtung für den nach Goethe wünschenswertesten Beruf des Menschen, das Schriftstellertum, betreibt die Göre, hätte ich fast gesagt, Meinungsmache. Was hat sie für eine Ahnung vom meinem Schreiben, vom Schreiben überhaupt?

FOCUS: Das muss sie Ihnen erzählen. Vielen wohlwollenden Kritiken war die Erleichterung über ihr Schweigen zu Serbien anzumerken.

Handke: Als ob es zu einer Pflichtübung gehörte, haben sie festgestellt: Ah, trotz seiner Verranntheit, was Serbien betrifft, hat er sich seine poetische Kraft bewahrt und sie vielleicht sogar erweitert und so weiter und so fort.

FOCUS: Stimmt die Einschätzung nicht?

Handke: Fehlt nur noch die Frage: Was halten Sie von der politischen Lage in Serbien oder sonstwo im Balkan? Nein, ich will jetzt ruhiger und ernsthafter werden. Es ist in mir ein anderer Handke als derjenige, der eine Erzählung wie „Die morawische Nacht“ schreibt. Dieser andere, der immer noch Empörte, lässt sich im guten oder weniger guten Sinne manchmal in einem Gespräch, in einem Interview oder auch am Tisch mit Privatleuten gehen, wie man so sagt. Sich im Guten oder gar kontrolliert gehen zu lassen muss nicht unbedingt etwas Übles sein. Den anderen Handke gibt es immer noch, auch wenn viele Rezensenten meinen, dass ich mich gewandelt hätte und ein selbstironisches, mildes Bild vom Balkan und seinen Konflikten wie auch von mir selbst abgebe. Der Zug zur Selbstkritik, ja zum Selbstbelächeln war immer in meinen Texten.

FOCUS: In Handke, dem Erzähler?

Handke: Ja. Es gibt den Peter Handke, der mehr ist als ich, der vom epischen oder erzählenden Prinzip bestimmt ist. Diese Instanz lässt mir beim Schreiben, Erzählen, beim Aufschreiben nichts durchgehen, was ich im Gespräch oder im Streit, auch im aktuellen politischen Streit je gesagt haben könnte. Im Schreiben lasse ich mir nichts durchgehen.

FOCUS: In Ihrem Buch tritt ein Mann namens Melchior auf. Ist das der Anti-Handke, der nichts vom epischen Prinzip hält?

Handke: Ich wollte einen bösen Menschen, einen heutigen Teufel entwerfen – mit süßlicher, sonorer Stimme, stets wohlerzogen und höflich. Als Schreiber widerfährt ihm nie, was Franz Kafka etwa einmal so beschrieb. „Ein Jahr lang muss ich in mir suchen, bis ich ein wahres Gefühl in mir finde.“ Wenn aber ein wahres Gefühl da ist, das in die Erzählung eingeht, entsteht dann nicht eine natürliche, die physikalische, psychophysikalische Sprache – gegen diejenige, derer man sich in den Medien bedient. Empfindlich für die Sprache zu werden und das reißerische, künstlich erzeugte Schreiben zu durchschauen, darauf kam es mir bei Melchior an. Aber es war sehr schwierig, so eine Figur in die Intensität und Ruhe meiner epischen Erzählung einzunähen. Mein Schreiben folgt einem Rhythmus, aber ich versuche, immer wieder aus ihm herauszukommen, gegenläufig und immer wieder in Widersprüchen zu sein. Daher die zunehmend vielen Fragen in meiner Prosa.

FOCUS: Wer ist der Gegentyp zu Melchior?

Handke: Das ist sicher der Icherzähler. Aber es gibt noch einen anderen. In der spanischen Steppe porträtiere ich den Dichter Juan Lago Lagunas. In seiner kleinen Heimatstadt ist er der verachtetste Mensch, leicht schizophren, was immer das heißen mag. Kein Mädchen schaut ihn an. Die Mutter hält nichts von ihm, weil er Dichter ist. Seine Gedichte erscheinen im Selbstverlag.

FOCUS: Was sollen wir Leser denn mit dieser Gestalt anfangen?

Handke: Er kommt in einer entscheidenden Phase der Erzählung vor. Es geht darum: Was sind die Dichter heute? Wo sind ihre Leser geblieben? Was ist aus den Lesern geworden? Oder: Die Dichter, die früher einmal Volkshelden waren, wo krebsen sie herum? An welcher Wahnsinnskante balancieren sie?

FOCUS: Wie viel Autobiografisches ist in Ihr Buch eingeflossen?

Handke: Es ist schwer zu entscheiden, was autobiografisch ist. Meine Erzählung ist eine große Fantasie. Ich habe mir vorgestellt, was sein könnte. Ich kenne ein Boot an der Morawa, auf dem ich schon oft übernachtet habe. Ich kenne es von innen und von außen, vom Rumpf bis in die Küche. Ich habe sogar mal mit dem Gedanken gespielt, es zu kaufen. Aus dem Gedankenspiel, das ja nicht nur eine Spielerei ist, entstand dann der Ort der Handlung, das Hausboot. Es heißt in Wirklichkeit „Luna“. Ich habe es in „Die morawische Nacht“ umbenannt und in die Zukunft projiziert. Ich bin kein Nach-Erzähler, sondern ein Vor-Erzähler. Nur die Geschichte meiner Mutter habe ich nacherzählt. „Wunschloses Unglück“, diese Erzählung, ist mir ungeheurer schwergefallen.

FOCUS: Was heißt hier Vor-Erzählen?

Handke: Ich meine die Fiktion. Wie hat Hermann Hesse gesagt? „Ich möchte endlich wieder das Risiko der Fiktion erleben.“ Keine Tatsachengeschichten, sondern das Risiko der Fiktion. Das ist das Spannendste und das Gefährlichste am Schreiben, die Krönung aller prosaischen Literatur.

FOCUS: Aber es gehen doch eigene Erfahrungen in die Erzählung ein?

Handke: Seit 20 Jahren habe ich im Sinn gehabt, einmal über die europäische Rundreise eines Schriftstellers zu schreiben. Auf meinen eigenen Rundreisen sind mir immer die seltsamsten und wirklich erzählenswerten Dinge zugestoßen.

FOCUS: Also fließt doch Autobiogafisches in Ihre Erzählung ein?

Handke: Ich beschreibe ja nicht direkt, was mir zugestoßen ist, sondern ich muss episch werden. Ich muss in einen Traum geraten, ich muss erfinden, so erfinden, dass meine Erzählung ein Spiegel der Welt ist, unserer Zeit oder unserer Orte, unserer Probleme.

FOCUS: Der Icherzähler hat Probleme mit Frauen. Worum geht es da?

Handke: Nicht um mich, wie einige Frauenfotos im Magazin „Der Spiegel“ suggerieren. Meine Frau Sophie, die wirklich die Frau meines Lebens ist, kommt da als Freundin vor. Fast beleidigend, oder? Nun: Der Icherzähler löst eine fixe Vorstellung auf. Er bildete sich ein, als Autor habe er sein Leben der Kunst und nicht den Frauen zu widmen. Dass ihm Frauen als Widersacher erscheinen, liegt aber an seiner Natur, nicht am Schriftstellertum. Mit dieser Einsicht verwandelt sich seine Natur.

FOCUS: Das Buch vom abgedankten Schriftsteller – viele Rezensenten fürchteten, es könnte ihr letztes sein. Ist da etwas dran?

Handke: Ich bin im Pensionistenalter, da kommt man auf solche Gedanken. Aber mich beschäftigen schon wieder neue Projekte. Eine Geschichte über Partisanen in Kärnten, ein kleines Pilzbuch, ein Versuch über den stillen Ort, die öffentlichen Klosetts oder die Aborte in Tempeln. Ob das dann so klein und harmlos wird, wie es jetzt klingt? Beim Schreiben kommen die Probleme. In der Prosa muss auch Drama stattfinden. Schließlich doch eine Art Autobiografie, wenn es mich mit 80 noch gibt. Alles nur von den Dingen aus: Was war Schnee für mich? Was sind die Augen von Menschen?

„Es gibt den Peter Handke, der mehr ist als ich, der vom epischen oder erzählenden Prinzip bestimmt ist. Diese Instanz lässt mir beim Schreiben ... nichts durchgehen“ Peter Handke

Der Dichter

Peter Handke lebt seit 1991 bei Paris.
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Kultur: „Immer wieder in Widersprüchen“ - weiter lesen auf FOCUS Online: http://www.focus.de/kultur/buecher/kultur-immer-wieder-in-widerspruechen_aid_237236.html

http://www.perlentaucher.de/buch/peter-handke/die-morawische-nacht.html


KLAPPENTEXT

Ort: der Balkan, die Morawa, ein Zufluss der Donau, ein Hausboot auf dem Fluss. Zeit: eine Nacht, vom späten Abend bis zum blauenden Tagesbeginn. Personen: Ein Autor, ein ehemaliger, ruft seine Freunde, sieben an der Zahl, auf das Hotelschiff, seine Enklave, wohin er sich ein Jahrzehnt zuvor zurückgezogen hat. Die erste Überraschung erleben die Bekannten gleich beim Betreten des Boots: Der für seine Distanz zu den Frauen berüchtigte Ex-Autor empfängt sie in Begleitung einer - Angestellten?, Gefährtin?, Geliebten? Auf das Abendmahl folgt eine lange Erzählung, in der die Stimme des Autors dominiert, in die sich zuweilen die Stimmen der anderen männlichen Anwesenden einpassen.

Rezensionsnotiz zu Die Tageszeitung, 19.02.2008

In seiner Schönheit schlicht bezwingend scheint Michael Rutschky das neue Werk Peter Handkes, auch wenn dieser Autor für ihn eine ambivalente Figur bleibt, zumal wenn er sich politisch äußert. Skeptisch betrachtet er die jubelnden Kritiker, die kundtun, Handke habe seine Jugoslawien-Obsession hinter sich gelassen. Ein aktueller Zeitungsbericht, in dem Handke erklärt, er würde den Politiker Nikolevic von der radikalnationalistischen Partei zum Präsidenten wählen, wäre er Serbe, spricht für Rutschky hier eine andere Sprache. Nichtsdestoweniger räumt er im Blick auf das neue Buch ein, es sei schwer, "es nicht wunderschön zu finden". Er bewundert Handkes Prosa, die in seinen Augen einer "Ästhetik des Erscheinens" folgt, freut sich über Wortneuschöpfungen und amüsiert sich über Kalauer, die Veräppelung von Namen wie Gringo Bush, Josip Fisherman, A. Hüttler. Handkes literarisches Bestreben sieht Rutschky gegen das gerichtet, was diese Figuren repräsentieren: eine von außen aufgezwungene Normierung eines authentischen Lebenszusammenhangs, einer Landschaft, eines Orts. Insofern erkennt er bei Handke eine Annäherung an den Nationalismus des 19. Jahrhunderts, wobei er freilich präzisiert, es handle sich dabei um ein "literarisches Verfahren".

Rezensionsnotiz zu Neue Zürcher Zeitung, 15.01.2008

Als "selbstironische Bilanz (s)eines Dichterlebens" würdigt Andreas Breitenstein das neue Werk Peter Handkes, das ihn rundum überzeugt. Die Erzählung um einen ehemaligen Autor, der auf der Suche nach seinem verlorenen Selbst durch Europa reist, das Grab seines Vaters und seiner Mutter besucht, seinen Bruder, Politiker, Schulkameraden, Dichterkollegen trifft und mit Romanfiguren spricht, um am Ende wieder zu seinem Hausboot "Morawische Nacht" in Porodin zurückzukehren und mit Freunden zu feiern, nimmt nach Ansicht Breitensteins den entspannten Ton des Vorgängerwerks "Kali" auf, um ihn weiterzuführen Richtung "Revision und Versöhnung". Er würdigt die "gedankliche Reife" und "epische Weite" des Werks, das sich durch wunderbare Reise-Episoden, Meditationen und Alltagsbeobachtungen, autobiografische Erinnerungen und poetologische Reflexionen auszeichnet. Und nicht zuletzt findet er in dem Buch auch eine selbstironische Selbstprüfung Handkes.

Rezensionsnotiz zu Süddeutsche Zeitung, 12.01.2008

Überrascht und begeistert zeigt sich Thomas Steinfeld von dieser neuen Erzählung von Peter Handke. So nämlich, wie er der Leserschaft hier kommt, habe man den Autor noch nicht erlebt. Natürlich sei er sprachlich und stilistisch wiederzuerkennen. In manchen Zügen schließt der Band auch sehr direkt an frühere Bücher Handkes an. Ganz erstaunlich aber findet Steinfeld die Offenheit, mit der sich der Autor hier nicht nur der Welt zugewandt zeigt, sondern auch, ansatzweise jedenfalls, mit sich selbst ins Gericht geht. Gerahmt ist das Buch durch eine Party, zu der sein Protagonist, ein Ex-Autor, Freunde auf sein Hausboot auf dem Donau-Nebenfluss Morawa lädt. Von dort aus aber wird gereist, auf die Insel "Cordura" (in der der Rezensent Krk wiedererkennt), aber auch nach Wien oder Kärnten. Die Reiseschilderungen werden zu literarischen Reportagen und zugleich geht es in der Erzählung um einen Erzähler, dem "die Zuhörer und Leser abhanden kamen", aber auch, so Steinfeld, immer um das Erzählen selbst. Der Rezensent ist, keine Frage, von diesem erstaunlich "jungen, klaren und rücksichtslosen" Peter Handke fasziniert.

Rezensionsnotiz zu Die Zeit, 10.01.2008

Ausführlich bespricht Iris Radisch Peter Handkes neuen Roman, den sie als Fortschreibung seines "einzigen großen Lebensbuches" empfand, zu dem sie spätestens alle Bücher seit "Die Lehre des St. Victoire" gezählt wissen will. Dort nämlich habe Handke die entzauberte Welt zum ersten Mal zum Gegenstand gemacht und seitdem ein nicht unerhebliches Maß an literarischer Energie aufgebracht, sie schreibend zurück zu verzaubern. Im vorliegenden Fall führt das bei der Rezensentin jedoch schnell zur Überreizung. Auch wirkt Handkes Rückverzauberung im jüngsten Buch gelegentlich wie eine Computeranimation auf sie. Natürlich gibt es auch manches auf der Habenseite zu verbuchen: zum Beispiel eine gewisse Relativierung der nationalistischen Serbien-Ausflüge aus dem Jahr 1996. Aber auch gewohnte Qualitäten Handke'scher Prosa, meisterhafte Miniaturen beispielsweise, sorgen bei der Rezensentin mitunter für Lesegenuss. Insgesamt aber scheint angesichts weitgehend handlungsfreier Litaneien, "höherer Umstandskrämerei" und inszeniertem "Stottern, Verzögern, Fragen, Nachstoßen" ein gewisser Verdruss zu überwiegen. Vor lauter Budenzauber könne man aus Sicht der Rezensentin nämlich leicht das Herzstück dieses Buchs übersehen: die Rede der toten Mutter im Traum, die ihren verlorenen Sohn frei von der Schuld an ihrem Selbstmord spricht.

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Rundschau, 07.01.2008

Martin Krumbholz nimmt etwas überrascht und vielleicht auch ein bisschen erleichtert zur Kenntnis, dass das neue Buch von Peter Handke, das schon im Titel den Balkan als Reflexionszentrum angibt, keinerlei Zündstoff für politische Debatten enthält. Ein Schriftsteller, den man laut Rezensent getrost als Alter Ego Handkes lesen kann, wenn das Buch ansonsten auch keinen autobiografischen Hintergrund hat, hat Freunde auf sein Hausboot auf der Morawa eingeladen und erzählt ihnen eine Nacht lang von Erinnerungen einer Reise durch Europa, fasst der Rezensent zusammen. Politisch wie poetologisch gibt sich dieses Buch "defensiv" und beschwört nicht nur den "Balkan" als utopischen Ort jenseits politischer Auseinandersetzungen, sondern verteidigt auch die Literatur als Anschauungskunst gegenüber zweckgebundenem Schreiben. Für Krumbholz ist das jüngste Buch Handkes ein grandioses Werk, das, wenn es über ein Treffen von Maultrommlern in Wien oder über eine "multikulturelle Krypta" erzählt, mit wunderbar unmittelbaren und anschaulichen Beobachtungen aufwartet, die in dieser Form bei keinem anderen Autor heute zu finden sind, wie der Rezensent berückt preist.

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Allgemeine Zeitung, 05.01.2008

Als klar markierten Beginn von des Dichters Alterswerk begreift Rezensent Hubert Spiegel diese nicht eben schmal ausgefallene Erzählung von Peter Handke. Etwas wie eine lineare Handlung gibt es - vielleicht sollte man sagen: natürlich - nicht, dafür aber die Wiederbegegnung mit vielen von Handkes Lebensthemen. Der Balkan natürlich, bzw. ein seltsames Idealbild davon, dem der Dichter mit der bekannten Beharrlichkeit anhängt. Aber auch frühere Bücher: So taucht etwa Gregor Keuschnig aus "Die Stunde der wahren Empfindung" wieder auf, schreibt Spiegel. Es dominiere ein Erzähler, der freilich immer wieder auch beschimpft werde. Überhaupt scheint es vor allem die entschlossene Uneindeutigkeit des Tons, die den Rezensenten besonders fasziniert. Handke schwanke hier zwischen Satire und Autobiografischem, zwischen versponnenem Märchen und nicht zu unterschätzender Misogynie. Der Dichter "vergibt sich selbst", konstatiert Spiegel, der ihm da aber offensichtlich in nichts nachstehen will.
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ERZÄHLUNGDie Geografie der Träume

Peter Handke erzählt in seinem neuen Buch »Die morawische Nacht« das große Zaubermärchen seines Lebens
Eine der wichtigsten Unterscheidungen in der Literatur ist die zwischen den Ein-Buch-Schreibern und den Viel-Buch-Schreibern. Viel-Buch-Schreiber gibt es wie Sand am Meer. Das Viel-Buch-Schreiben ist die übliche, allgemein verbreitete literarische Praxis. Die Ein-Buch-Schreiber, die ihr ganzes Leben lang Buch für Buch an einem einzigen großen Lebensbuch schreiben, sind eher selten. Zu ihnen gehören auffallend viele österreichische und französische Schriftsteller und Schriftstellerinnen. Zu ihnen gehört auch der in Frankreich lebende Österreicher Peter Handke.
Das neue, 560 Seiten lange Buch Die morawische Nacht von Peter Handke ist deswegen kein wirklich neues Buch. Die lange Erzählung einer Bus-, Flug- und Fußreise durch Europa auf den Spuren seines eigenen Lebens und Schreibens ist vielmehr, was leicht vorauszusehen war: eine Fortsetzung seines Lebensbuches, zu dem bereits die vorangegangenen Kapitel Langsame Heimkehr, Die Wiederholung, Versuch über die Jukebox, In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem Haus, Mein Jahr in der Niemandsbucht und Der Bildverlust gehören.
Ein Ende oder Ziel dieses Lebensbuches ist nicht abzusehen. Um »Fortschritte« im gebräuchlichen, also abendländischen Sinn des Wortes scheint es dabei nicht zu gehen. Wenn es überhaupt ein Ziel gibt, dann ist es allenfalls die Fortsetzung, das Weitererzählen selbst. Möglicherweise geht es dabei auch ein wenig – es handelt sich bei den Ein-Buch-Autoren schließlich vorwiegend um solche des katholischen Kulturraumes – um das Weitersprechen der Litanei.
Damit ist noch nicht viel gesagt, aber vielleicht doch das Entscheidende. Denn auch darin ähneln sich alle genannten Bücher von Peter Handke: Ihre jeweilige (und von Buch zu Buch immer halsbrecherischere) Erzählkonstruktion ist nur ein Vorwand für ein – von jedem schwer verdaulichen realistischen Erzählstoff weitgehend befreites – Vor-sich-hin-Erzählen, Vor-sich-hin-Räsonieren und Vor-sich-hin-Zaubern. Orte, Namen, Landschaften und Figuren – die gesamte irdische Dekoration verblasst in Peter Handkes Büchern angesichts dieses Willens zum reinen, auch rein absichtslosen Erzählen.
Der Preis dafür ist eine gewisse Unschärfe. Leser und Autor sind derartig mit den nahen Einzelheiten der sogenannten »nebendraußen« liegenden Welt beschäftigt, dass ein umfassendes Bild sich nicht einstellt. Der Karst, das spanische Hochplateau, die balkanische Enklave – die alten Stammgebiete der Bücher Peter Handkes kommen auch in diesem neuen wieder nur in der Miniaturaufnahme ausgesuchter und erlesener Winzigkeiten ins Bild. Ihre Topografie, ihr Zeitkolorit, ihre Eigengeschichte verschwinden im alles sich anverwandelnden Erzählstrom.
»Eine Geographie der Träume« nennt Handke dieses Verfahren, das ihm nur einmal Unglück brachte, als er seine viel bewunderte Geo-Poesie in derWinterlichen Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina oder Gerechtigkeit für Serbien im Balkankriegsjahr 1996 in den Dienst serbischer Geopolitik stellte. Mit der Morawischen Nacht will er sich von dieser verstörenden Parteinahme verabschieden: »Schuldig gemacht, so noch immer seine Vorstellung, hatte er sich doch, indem er das Nationaldichterspiel, und wenn auch halbherzig, mitspielte, bleibend schuldig. Und warum hatte er mitgespielt? Vielleicht, weil er seinerzeit, für eine kleine Weile, in der Tat an etwas wie eine andere Nation glaubte, überhaupt an grundandere Nationen, und meinte, die mitverkörpern zu können.«
Die Welt ist flach. Alles Schöne ist verschwunden
Die neue Erzählung führt zurück in das während der Serbienreise vor zwölf Jahren gemeinsam mit den Reisegefährten Zlatko und Zarko besuchte serbische Dorf Porodin (100 Kilometer von Belgrad, 16 von Velika Plana entfernt), in dem Zlatkos Eltern, »nah dem Mittserbenfluß Morawa«, einen Weinbauernhof betrieben. Handke gefielen damals der »erztrübe wie klarschmeckende Eigenbauwein« und die »himmelaufweidenden Schafe«.
Der »ehemalige Autor«, Erzähler und Gastgeber in der Morawischen Nacht, lebt seit dieser Zeit in einem Hausboot auf der Morawa nahe Porodin, mitten in Serbien. Das Boot hat er – Ironie des Verzweifelten – mit »der übergroßen Flagge eines längst versunkenen oder abgestunkenen Landes ausstaffiert« und mit deren »ominösen Farben« bemalt. Hier residiert er mit einer ihm ergebenen und angelegentlich verprügelten Gefährtin, die sich, als die Freunde zum »Nachtmahl« erscheinen, »außer später für das stumme Abräumen«, in die Küche zurückzieht – »Überbleibsel der sonst fast verschwundenen balkanischen Sitten« und Ausweis der vormodernen männerbündlerischen Sehnsüchte ihres wie eh und je gegenwartsmüden Bewunderers. Wie so oft bei diesem Autor der wahren Empfindung und der begriffsauflösenden Genauigkeit finden seine Frauengestalten auch in diesem langen Buch aus den abgenutzten Rollenklischees als stumme Schönheit, Dienerin, Quartiermacherin, unschuldige, hingebungsvolle Leserin und »schönes junges Ding« nicht heraus.
Das Wort Serbien, Großserbien oder serbisch sucht man in diesem Buch vergeblich. Nur einmal ist von dem »Hirngespinst« eines »zusammenhängenden großen Landes auf dem Balkan«, dem nur noch drei verlorene Nostalgiker nachhängen, die Rede. Das »versunkene Land« ist nunmehr Teil eines umfassenden Kosmos des Ehemaligen und Verschwundenen geworden. Der »ehemalige Autor« teilt sich diesen Status mit so ziemlich allem, was ihm auf seiner Reise begegnet, den stillgelegten Gehöften in Spanien, den verschwundenen Weinbergen in Serbien, den überwucherten Obstgärten in Kärnten, dem wie vom Boden verschluckten Fischerdorf auf der Adria-Insel, den verlorenen Bildern (das war schon das große Thema des Romans Der Bildverlust) und den verlorenen Geräuschen (der Geräuschverlust und die »Lärmkrankheit« spielen in diesem Buch eine besondere, auch besonders anrührende Rolle). Einstig und ehemalig ist die halbe Welt, Opfer der Neuzeit und von deren Verwüstungen.
In der Urschrift seiner Moderne- und Kapitalismuskritik, der Lehre der Sainte-Victoire aus dem Jahr 1980, zitiert Handke den Maler Paul Cézanne mit den prophetischen Worten: Man müsse sich beeilen, wenn man noch etwas sehen wolle. Alles verschwinde. Schon in einigen hundert Jahren werde alles verflacht sein.
Dahin ist man in diesem Buch schon lange vor der geweissagten Zeit gekommen: Die Welt ist flach oder verflacht. Sie ist entzaubert. Sie ist – dieser Analyse widmet Handke im neuen Buch einen langen Abschnitt im mittelmäßig parodierten Zeitungsglossenstil – überall »mittel-europäisch« geworden. Immer wieder nennt der Erzähler sie einfach »leer«. Sie hat keine Tiefe, keine Schönheit und keine »Balkanklarinetten« mehr. Auch keine Märchen. »Oder bestenfalls in Bruchstücken, Märchen, die eine Sekunde dauern« – das jedenfalls legt Handke dem »Zaubermärchenschreiber« Ferdinand Raimund, mit dem sein abgedankter Autor auf der Reise Zwiesprache hält, in den Mund.
Das alles wäre zum Verzweifeln. Wenn es nicht Peter Handke und sein großes vielbändiges Lebenswerk der Wiedergutmachung gäbe. Seine wichtigsten persönlichen und beruflichen Stationen der Wiedergutmachung werden in dieser nächtlichen Reiseerzählung auf dem Hausboot an der Morawa noch einmal abgeschritten. Die nächtliche Erzählung wird immer wieder unterbrochen von einem kecken »Zwischenfrager« und zeitweilig assistiert von den ehemaligen Reisegefährten, die alle in dieser Nacht zum letzten Abendmahl »gerufen« wurden und am Ende (so hochkomplex und dreimal um die Ecke gedacht geht es zu in märchenloser Zeit) auch die schriftliche Nacherzählung dieser mündlichen Erzählung besorgt haben. Wer hierbei an die Jünger Jesu und das nachträgliche Verfassen der Evangelien denkt, muss nicht ganz falsch liegen.
Bitte nicht noch einen Orakelsprecher, nicht noch ein schaukelndes Kamel!
Alle bekannten Ärgernisse und Freuden des Handkeschen Erzählens der letzten Jahrzehnte begegnen einem in diesem Buch wieder. Das sorgsam inszenierte Stottern, das Verzögern, Fragen, Nachstoßen, die höhere Umstandskrämerei, das selbstironische Dazwischenfahren, die hochfahrenden Ansprachen wie auf dem Literatur-Parteitagsgelände, die stets rechtzeitig ins Possierlich-Abstruse oder Fantastische abbiegen. Aber auch die Strohfeuer der immer noch anheimelnderen Formulierung, der noch runderen Sprachrundung, des noch archaischeren Sprachbildes, die überall im kalkuliert durchgestylten Text wie kleine Kunst-Sprachwärme-Öfchen flackern und Wärme, Geborgenheit und Idylle simulieren, wo es erklärtermaßen nichts mehr zu simulieren gibt. Manche Sprachprovokationen zielen umstandslos ins gutbürgerlich Gediegene, andere ins Ding-Sprachliche und feierlich Naive.
Sympathisch an diesem gezierten Erzählen ist durchweg seine Vielstimmigkeit, Uneinheitlichkeit und Verspieltheit. Das Störrische steht unverbunden neben dem Kitsch, das Parodistische neben dem Pathetischen, die mutwillige Übertreibung neben dem schönen Leichtsinn, das Peinliche neben dem Bezaubernden. Nichts ist mehr ganz und spricht mit einer Stimme – deutlicher, auch kunstvoller kann man diese Verlustanzeige nicht aufgeben.
Die Reise führt per Bus quer durch Serbien zu einem (natürlich verschwundenen) serbischen Friedhof, dann auf die kroatische Insel Cordura (im wahren Leben Krk), wo der Autor seinen ersten Roman (Die Hornissen) verfasst hat. Hier erinnert er sich der alten Zeit, trifft eine ehemalige Geliebte wieder, die inzwischen zur Bettlerin geworden ist. Im spanischen Numancia nimmt er an einem Kongress über die erkrankten und irre gewordenen Geräusche teil (»der Schrei eines Eichelhähers ahmt, scheint es, das Zerreißen einer Alufolie nach«), trifft einen alten Steppenwandergefährten und erinnert sich daran, dort ein zweites Buch geschrieben zu haben.
In Deutschland (»ein friedlicheres Land als dieses sollte er nicht durchwandert haben«) besucht er das Grab seines kaum gekannten Vaters und lässt sich dort von einem in ein altes Weib verzauberten Schmetterling als »verdammter Vaterloser« beschimpfen. In Österreich, wo er sich über die »ganz ungewohnte Souveränität« freut, die womöglich auf ein neues »drittes Europa« vorausdeutet, freut er sich an der Beschaulichkeit des Kleingärtnerwesens in den Donauauen. Wunderbar sind seine Miniaturen des Vorortlebens: die »Mausefallen auf der Verandabrüstung«, das »Riesenthermometer an der Hauswand, mit fehlender Quecksilbersäule«, der »verwitterte, zerbrochene Pinsel im Staub, mit starrverklebten Borsten«, der »Hackklotz ohne Hacke, zerfranst und zerschlissen wie nur ein Hackklotz«, aus denen sich die Anwesenheit der Bewohner als »Umriß in der grauen Ostwindluft« erahnen lässt. Hier trifft der ehemalige Autor seine ehemaligen Romanfiguren und nimmt an einem »Weltmaultrommeltreffen« in einem ehemaligen »Gasthaus der Namenlosen« teil.
Das alles ist so karnevalesk und traumwandlerisch, dass man sich doch schon wieder in einem dauerhaften und nicht bloß in einem Sekunden-Märchen zu befinden scheint. Doch anders als im echten Märchen, mit seinen grausamen und unbezwingbaren Geboten, ist im Handke-Märchen alles möglich und wie in der Computeranimation vollständig widerstands- und folgenlos. Am Ziel der Reise, dem Kindheitsdorf, hat das blumenkinderhafte Delirieren seinen Höhepunkt. Asiaten, Mongolen und »Muldenheilige« campieren im Bombentrichter des »ehemaligen« Obstgartens, tote Ahnen und ein »ehemaliger« Lehrbeauftragter für Weltliteratur spuken über die »Alte Straße« zum Dorf. Im Keller des Mutterhauses hat sich eine Krypta aufgetan, in der sich die Fernfahrer, die Einheimischen und die muslimischen Zugezogenen zum Gebet versammeln.
Das klingt so furchtbar, wie es ist: Das Wunderbare und das Wunder, die alten Waffen der Literatur gegen den Materialismus und den kurzsichtigen Vernunftglauben, büßen durch einen derartig übermäßigen Gebrauch ihre Kraft ein. Peter Handke mag in seinem schönen Bemühen, die entzauberte Welt wieder zu verzaubern, immer mehr und immer erstaunlichere Märcheneffekte aufeinandertürmen – durch die bloße Steigerung und endlose Addition dieser Effekte stellen sich die erwünschte Himmelfahrt und die auch in diesem Buch vielfach beschworene »Entrückung« nicht ein. Eher Langeweile und ein gewisser Märchenüberdruss. Bitte jetzt nicht noch eine herumspukende Großmutter, nicht noch einen herbeiflatternden Orakelsprecher, nicht noch ein vorbeischaukelndes Kamel!
Vor lauter Budenzauber übersieht man dann leicht das Herzstück dieser Erzählung: die Rede der toten Mutter im Traum. Sie spricht ihren verlorenen Sohn los von jeder Schuld, nicht zuletzt von der an ihrem Tod (Handkes Mutter hat im Jahr 1971 Selbstmord begangen), und bittet um Erbarmen, »genug der Selbstmarter und des Marterns der anderen«. Befreit von der Last der toten Mutter, befreit von der Last des Nationaldichtertums und der Liebe (für die er sich allerdings noch nie besonders interessiert hat), befreit von allem, kehrt der abgedankte Autor nach Hause zurück, wo er nichts und niemanden mehr vorfindet. Der Autor ist, was er schon immer war: mit sich allein.
Eine lange Reise zu sich selbst liegt hinter ihm. Wir haben allen Grund anzunehmen, dass es ihm danach gut geht. Auf den letzten Seiten sehen wir ihn friedlich, von herbeieilendem Himmelsgeflügel umflattert. Sicherlich schreibt er schon wieder. Immer weiter an diesem endlosen Buch seiner selbst, das jetzt nur vorübergehend von der Bildfläche verschwindet.
Mailen | Drucken | Merkzettel | Empfehlen auf Facebook | Twittern | Share on Google+ Das Serbien Peter Handkes gibt es nicht. Es existiert auch nicht auf dem Papier. Wenn das neue Buch dieses Autors über weite Strecken den Fluss Morawa beschreibt und ein Städtchen namens Porodin, dann meint das etwas anderes als das, was man auf der Landkarte finden kann. Der Balkan ist für Handke ein Zustand. 

Die Hauptfigur, sie wird meistens als "ehemaliger Autor" bezeichnet, lädt ein paar Freunde auf sein Hausboot am Ufer der Morawa ein. Der Gastgeber ist von einer langen Rundreise durch Europa zurückgekommen und hat vor, während der ganzen Nacht davon zu erzählen. Man merkt recht schnell, dass es sich hier nicht um eine "realistische" Erzählung handelt. Hier schreibt Handke, in verspielter, selbstironischer und manchmal auch inniger Form, über sich selbst. Sogar seine immer wiederkehrenden jähzornigen Ausbrüche erscheinen milde in die Literatur überführt.

Als der "ehemalige Autor" aus seiner Enklave am Ufer der Morawa aufbricht, assoziiert der Leser unwillkürlich einen von Serben bewohnten und von internationalen Schutztruppen kontrollierten Teil des Kosovo: die Busfahrt durch feindliches Gelände, die Steine, die von Kindern geworfen werden und die Glasscheiben des Busses mit lauter kleinen Splitternetzen durchziehen - das Wort "Kosovo" fällt aber nicht, es gibt keine direkte politische Wiedererkennbarkeit.

Viel suggestiver und nachhaltiger ist die blasse, blauweißrote Schrift auf dem blassen Gelb des Busses, die aus einer vergessenen Vergangenheit herüberragt und dadurch per se eine literarische Fiktion darstellt, viel mehr als der konkret vergangene Vielvölkerstaat Jugoslawien. Und die Vorstellung der "Enklave" entspricht auch auffällig genau den ästhetischen Vorlieben des Autors Peter Handke, seiner Rede von "Zwischenräumen", die nicht von außen zu definieren sind und sich einer allzu eindeutigen Funktionszuweisung entziehen.

Von "Jugoslawien" ist nirgends die Rede, das magische Beschwörungswort heißt "Balkan". Und was das Magische daran ausmacht, wird auf der ersten Station der Rundreise deutlich: eine dalmatische Insel, die der Autor als Sechzehnjähriger während seiner ersten Reise aufsuchte und auf der er seinen ersten Roman und seine erste Geliebte fand. Der "ehemalige Autor" hat, wie in dieser Szene, viele Berührungspunkte mit der Biographie des Schriftstellers Peter Handke.

Numancia in der spanischen Steppe, die nächste Station, spielt vor allem im "Versuch über die Jukebox" von 1991 eine zentrale Rolle. Der Autor begegnet im Folgenden auch Figuren und früheren Alter Egos Peter Handkes: Filip Kobal aus der "Wiederholung" und Gregor Keuschnig aus der "Stunde der wahren Empfindung". Es sind abgründige Witze, die sich der Autor wie bei einem Kinderspiel leistet. Und manchmal, wie bei einem trotzigen kleinen Jungen, stampft er auch wütend mit dem Fuß auf.

"Die morawische Nacht" ist ein vorläufiges Resümee des Autors Handke, das man nicht zu ernst und nicht zu leicht nehmen sollte. Er umkreist von neuem seinen poetischen Raum. Dazu gehören Verstiegenheiten, kunstvoll arrangierte Verrücktheiten und trotzige Verweigerung, aber es ist ein Spiel, bei dem, obwohl man auf alles gefasst zu sein scheint, wieder wie nebenbei ungeahnte Entdeckungen zu machen sind, Hummelflügel beispielsweise, Maultrommelspieler und die wilde Trauer von Samarkand.

Rezensiert von Helmut Böttiger

Peter Handke: Die morawische Nacht
Erzählung. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2008
560 Seiten. 28 Euro.
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Die morawische Nacht

von
Peter Handke
Ein ehemaliger Autor (!) lädt Freunde und Weggefährten auf sein Hausboot ein, es hat den symbolträchtigen Namen „Die morawische Nacht“. Eine geschlagene Nacht lang unterhält er sie dort, er erzählt die Geschichte seiner letzten Reise durch Europa. Wer hier eine Irrfahrt vermutet, liegt nicht falsch. Autobiographische Stationen und symbolträchtige Orte liegen reichlich auf dem Weg, das Maultrommlertreffen in Salzburg oder ein Lärmkongress im spanischen Numancia sind vereinzelte Höhepunkte.
Eine Autobiografie als Irrfahrt also, und mit dem Hausboot verirrt sich das Erzählen. Still und genügsam treibt es auf dem Fluss Morawa dahin, das Hausboot des ehemaligen Autors. Dieser bietet seinen Zuhörern gleichwohl nichts weniger als die Summe seines Lebens (als Reisebericht). Eine prekäre Summe ist es, fast aufgebraucht von den Banalitäten der Welt. Kein Wunder, er selbst hat als Autor das Verstummen gewählt.
Ein epischer Charakter von erschreckenden Ausmaßen
Weit ausschweifend, von einer tastenden Sprache auf zahlreiche Nebengleise geführt, so erlebt der Leser den ehemaligen Autor in seinem Element. Kein Prosaschreiber muss er gewesen sein, vielmehr ein epischer Charakter von erschreckenden Ausmaßen. Einer, der sich zuletzt in der reinen Mündlichkeit? ergeht. Vor Worten sprudelt er in dieser Nacht über, wie ein echter Marathonerzähler. Man sollte sich also nicht täuschen lassen, Peter Handkes neue Erzählungpräsentiert einen weltabgewandten Flaneur in allerbester Parlierlaune. Und gescheitert ist dieser ehemalige Autor noch lange nicht, auch wenn die Freunde und Weggefährten allmählich unruhig werden.
Doch über diesen Rubikon müssen sie nun einmal alle gehen. Die vorgebliche Ereignisleere ist bei Peter Handke immer die Kehrseite, auf der anderen Seite steht eine feiernd genau beobachtete Welt. So feiernd genau beobachtet, dass sie sich in ihre Einzelmomente auflöst. Ja, vor der Flut dieser Momente kann sich keiner auf dem Hausboot schützen.
Eine grandiose Heiterkeit
Eine grandiose Heiterkeit liegt über dieser Erzählnacht, weil der ehemalige Autor seine Zuhörer offensichtlich zum Narren hält. Wieder sind sie gekommen, um eine große Geschichte zu hören. Wieder speist er sie mit Einzelmomenten ab. „Die morawische Nacht“ ist unbedingt nicht ernst zu nehmen, nein. Keine Publikumsbeschimpfung ist das, aber eine lustvolle Publikumsunterlaufung.
Bei aller Narretei darf man nicht vergessen: In Peter Handkes? neuer Erzählung geht es wieder einmal um das ganze Erzählen, und das ist schon großartig verwegen genug.
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Leben wie im Traum – Handkes Balkan-Monolog „Die morawische Nacht“

Am 6. Dezember 2007 wurde der österreichische Autor 65 Jahre alt

© Die Berliner Literaturkritik, 24.01.08

Von Miriam Bandar
FRANKFURT AM MAIN (BLK) – Wer kennt nicht das Gefühl, aus einem unruhigen Traum zu erwachen, in dem Freunde und Verwandte an realen Orten auftraten? In der Nachtgeschichte ergibt alles einen Sinn, doch nach dem Aufwachen bekommt man den Erzählstrang kaum noch zusammen. Menschen und Orte wirken plötzlich seltsam entfernt, dabei kamen sie einem eben noch so echt vor. Dieses Gefühl stellt sich auch bei Peter Handkes mehr als 550 Seiten umfassender Erzählung „Die morawische Nacht“ ein, die zum 65. Geburtstag (6. Dezember 2007) des ehemaligen jungen Wilden der Literaturszene erschienen ist. Darin streift Handke etliche Stationen seiner Vergangenheit. Es ist jedoch keine Biografie entstanden, sondern ein Leben wie im Traum.
Für die Rückschau hat ein alternder Autor sieben Freunde auf sein Haus- und Hotelboot gebeten. Es ist auf der Morawa, einem Nebenfluss der Donau auf dem Balkan, vertäut. Ein Hotel, dessen Name „Morawische Nacht“ in Leuchtschrift weithin zu lesen ist. Doch Zugang erhalten nur geladene Gäste. In einem fast endlos erscheinenden Monolog erzählt der Schriftsteller über seinen Werdegang. Dabei sind die Verbindungen zu Handkes Leben nicht zu übersehen: Angefangen von der kroatischen Insel Krk, auf der sich der gebürtige Österreicher verliebte und seinen ersten Roman „Die Hornissen“ verfasste, über die Heimat seines leiblichen Vaters im deutschen Harz bis hin zu seinem Kärntner Geburtshaus.
Bei der handlungsarmen, traumwandlerischen Erzählung spart der Einzelgänger Handke auch dunkle Kapitel seines Lebens nicht aus, etwa sein schwieriges Verhältnis zu Frauen, wo es auch zu Gewaltausbrüchen gekommen sein soll. Er war unter anderem mit den Schauspielerinnen Jeanne Moreau und Katja Flint liiert. Im Buch erzählt der Autor: „Aber schon hatte er sich auf sie gestürzt und auf sie eingeschlagen, einmal bloß, bloß?, so stark, daß sie stracks zu Boden fiel.“ Er lässt sie liegen, getrieben von einer Gefühlsmischung aus schlechtem Gewissen und Heldenmut.
Trotz eines zuweilen für Handke ungewöhnlich ironischen Tons, erinnert die „Morawische Nacht“ als lange Reise zu sich selbst an einigen Stellen an eine Lebensbeichte. Passend zu seinem 65. Geburtstag scheint Handke literarisch bei seinem Spätwerk angekommen. Der Österreichischen Nationalbibliothek verkaufte er kürzlich einen großen Teil seines Nachlasses zu Lebzeiten wie handschriftliche Werkmanuskripte und Notizen, das Deutsche Literaturarchiv in Marbach am Neckar erhielt seine Tagebücher.
In einem Interview im vergangenen Sommer (2007) urteilte der einstige Literaturrebell über das Alter: „Ja man fühlt sich … Wie heißt das? Befristet. Das Alter macht doch zunehmend Bedenken. Ich weiß nicht, ob das so heiter wird, wie ich es mir vorgestellt habe.“ Ist das Leben ein Traum oder sind Träume das wirkliche Leben? In Handkes jüngstem Buch heißt es: „Zeit seines Lebens hatte der Autor über Nacht an einem Buch geschrieben. Und über Nacht auch hatte er es jeweils beendet. Bloß war das Buch dann am Morgen nicht mehr da.“ Die „Morawische Nacht“ allerdings ist nun wirklich erschienen.
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Das wäre doch schön: ein Buch, in dem beinahe nichts geschieht. Ein flüchtiges Buch, das in den Zwischenräumen lebt, zwischen den Zeilen, wie man so sagt, zwischen den Wörtern und den Buchstaben. Ein Buch, in dem man anstreichen kann beim ersten Lesen, unendlich viel anstreichen; und alles, was man angestrichen hat, die Signalwörter, die Skandalwörter, erweist sich dann, beim zweiten Lesen, als leer und nichtig, im Grunde überflüssig. Die Anstrichworte heißen zum Beispiel "Balkan" und "Krieg" und "zwischen den Kriegen" und "vereintes Europa", "Schuld" und "Amok", immer wieder "Amok" und "Gewalt".Stattdessen bleibt das Nichtige. Eintagsfliegen, die einen Tag lang leben, wie auch sonst? Ein Himmel in Blau, eine Leserin, die einen Autor zupft, um sich zu vergewissern, dass es ihn gibt. Ein Buch auf einem Haufen Sperrmüll. Ein Erzähler, der Brombeeren isst, am Grab seiner Mutter. Und später erscheint sie ihm sogar im Schlaf, die Mutter, die sich umgebracht hat, damals, als der Erzähler sie alleingelassen hatte. Das Gefühl der Schuld hat ihn fast erdrückt, ein Leben lang, und nun erscheint sie ihm und sagt: "Du mit deinem ewigen Schuldbewusstsein und deinem Schuldsuchen auch bei anderen. Du bist unschuldig, du dummer Kerl."
Nach einer Weile stellt sich das Handke-Gefühl ein
Das neue Buch von Peter Handke ist in schönes Dunkelblau gebunden, es heißt "Die morawische Nacht" und handelt von einem Erzähler, der auf sein Hausboot auf dem Fluss Morawa in Serbien die Freunde seines Lebens eingeladen hat, um ihnen eine Geschichte zu erzählen. Es ist die Geschichte eines Rückwegs. Zurück ins eigene Leben, an die Orte, an denen alles begann. Der Erzähler, der uns als Ex-Autor vorgestellt wird, ein Mann, den die europäische Presse vor einer Weile beinahe einstimmig für verrückt erklärt hat, wandert durch Europa und sucht Spuren seiner selbst, Spuren seines früheren Lebens. Die Stadt in Spanien, in der er sein erstes Buch geschrieben hat und wo er die erste Liebe seines Lebens fand. Der Ort im Harz, wo sich seine Eltern einst begegnet sind; der Herkunftsort des Vaters, den er niemals sah; das Grab des Vaters und das Grab der Mutter. Und schließlich sein altes Heimatland, Österreich, das er früh verließ, sein Heimatdorf, das Geburtshaus, den Bruder, den er eine Ewigkeit nicht sah und der ihn zunächst nicht einmal wiedererkennt. Handke-Leser werden ihren Handke in jeder Zeile wiedererkennen. Es ist ja der alte Handke, die Motive sind aus vielen seiner etwa siebzig bislang veröffentlichten Bücher bekannt; auch seine guten alten Alter Ego Gregor Keuschnigg und Filip Kobal sind wieder da. Trotzdem läuft man gerne wieder mit, all die 560 Seiten lang läuft man mit, und nach einer Weile stellt sich das Handke-Gefühl ein.
Dieses Ahnen einer anderen Welt, dieses andere Schauen auf die Dinge, diese Verwunderung zunächst über das Nebeneinander des Wahrscheinlichsten und des Unwahrscheinlichsten. Und das Ausbleiben der Verwunderung nach einer Weile des Lesens. Ja, auch Jugoslawien kommt wieder vor. Der Kampf darum hatte Handke beinahe mit der ganzen Welt entzweit. Die Wut und der Anklagefuror, die immer wieder auch in seine Prosawerke drängten, hatten seiner Kunst nicht gutgetan. Handke suchte nicht mehr. Handke hatte gefunden. Die Bücher waren enger geworden, härter, schwerer, das Öffnende hatte sich zurückgezogen zugunsten einer klaren Haltung, eines Hasses oft in höchster Not. In Notwehr gegen den Rest der Welt, der sich, wie Peter Handke es sah, hinter einem allzu klaren Serbien-Feindbild verbunkert hatte. Handke verteidigte das Recht auf sein eigenes Bild, seine Wahrheit mit aller Macht und mit allem Furor, der einem Einzelnen zur Verfügung steht.Es war immer ein sonderbares Nebeneinander von leisester Innenschau, Graswispernlauschen, von Pilzbetrachtung und ewigem Suchen auf der einen Seite und den großen Welt-Behauptungen auf der anderen, den maßlosen Angriffen gegen Kirche, Staaten, Akademien. Im Kampf "Einer gegen alle" glaubte der eine zu immer größeren Worten Zuflucht suchen zu müssen, um die Übermacht zu übertönen.Im Juni 1977 hat Peter Handke einmal an seinen Lebensfreund, den Schriftsteller Hermann Lenz, geschrieben: "Das Leben fällt mir manchmal schwer und keine Gewohnheit stellt sich ein. Aber irgendeinmal muß man sich doch weggedacht haben können und schön gleichgültig gegen dieses aufdringliche Stück Ich werden. Aber ob man dann vor lauter Haltung nicht erst recht zusammenbricht?"
Ein Abschiedslied für den Balkan
Das ist der Schriftsteller Peter Handke: das Leben, das Schreiben ohne Gewohnheit, das immer wieder neue Denken, neue Schauen, die Sehnsucht nach dem Sich-Wegdenken, Sehnsucht nach dem Ankommen und zugleich die große Angst davor, weil es dann zu Ende sein könnte mit dem Schreiben für immer.Das neue Buch erzählt von dieser Angst. Der Erzähler, der seine Freunde auf das Boot geladen hat, um von seinen Reisen zu erzählen, ist, wie gesagt, ein Ex-Autor, einer, der sich frei gemacht hat vom Schreiben, einer, der nicht mehr schreiben will und kann. So reist er dahin, schreibt nichts, legt nichts fest, lässt sich nicht festlegen, sucht und verwirft, und am Ende ist er wieder zum Autor geworden, ganz ohne "Ex-". Wie es dazu kam?Die Geschichte der morawischen Nacht ist auch die Geschichte eines Abschieds von einem Traum. Von dem Traum Jugoslawien, dem Traum eines großen Vielvölkerstaates, der gleich jenseits der Grenze am Rande des österreichischen Dorfes begann, in dem Peter Handke aufgewachsen ist. Handke hatte sich schon in seinen letzten beiden Prosabüchern behutsam von diesem Traum gelöst, im "Don Juan" in eine Frauenwelt hinein, in dem rasanten Filmbuch "Kali" in eine rasende Jeepfahrt in die Unterwelt. Zu Beginn des neuen Buches sind wir mit dem Erzähler noch einmal in einer serbischen Enklave im Kosovo. Traurig, ruhig und mitleidsvoll beschreibt Handke das Unglück der Bewohner, die in einer Busfahrt durch das sie umgebende feindliche Land, unaufhörlich mit Steinen beworfen, zu dem Friedhof ihrer Ahnen fahren, den es nicht mehr gibt. Die Gräber wurden zerstört, aber sie sitzen da und denken zurück und weinen gemeinsam. Der Erzähler zieht sich zurück. Die Wut, seine Wut, leiht er dem Busfahrer, der die Trauernden durch den Steinhagel fuhr und der ins Land hinausruft: "Euer Haß auf jeden, der nicht eurer Staatsangehöriger ist, auf alles, was nicht Staat ist! Keinen Stolz bezieht ihr aus eurem Staat, sondern die Legitimierung und Verewigung eures Hassens."Der Ex-Autor verabschiedet sich von diesem Hass, von diesem Balkan, von dieser Gegenwart: "Weg wünschte er sich von diesem finsteren Balkan in die Lichterkettenmetropolen mit den sonor hupenden Taxis zwischen den Wolkenkratzerschluchten, mit den Brücken, auf denen jedes Liebespaar etwas wie ein Friedensgruß war." Weg also von hier, hinüber in die Welt, wie sie früher war oder wie sie einmal sein könnte.
Das Monstrum in der Geschichte
Eine Vorstellungswelt aus der Vergangenheit. Oder einer Zukunft. So wandert er umher. Nimmt teil an einem Kongress der Lärmgeschädigten, die zu jedem Gewaltakt gegen den allgegenwärtigen Krach der Welt und dessen Verursacher bereit sind. Ist Zuschauer und Zuhörer bei einem Treffen der Maultrommelspieler dieser Welt, die am Ende in ein schrilles Aufspielen der Nationalhymnen ihrer Herkunftsländer verfallen. Es ist ein Schrecken, den er flieht, der Ex-Autor. Doch der größte Schrecken ist die Frau, die eine Frau, die ihn liebt, die ihn verfolgt."Zur Hölle mit ihr", heißt es schon zu Beginn. Und "Zur Hölle mit dir" dann ganz zum Schluss. Bevor er zuschlägt. Zunächst noch "ein Lächeln von ihr, im Glauben, er rede im Spiel und seine Sätze meinten eher das Gegenteil. Aber schon hatte er sich auf sie gestürzt und auf sie eingeschlagen, einmal bloß, bloß? so stark, daß sie stracks zu Boden fiel".Er war die ganze Zeit vorbeigezogen an lauter Monstern auf seiner Wanderung, an Schreckensboten und Schreibbedrohern. Doch hier, kurz vor dem Schluss, "entpuppt sich als nächstes Monstrum in der Geschichte der Erzähler selbst". Ja, ein Monstrum, das zuschlägt, wenn es eingeengt wird von einer anderen Macht. Ein brutaler Schläger, der sich seine Freiheit erkämpft. Ja, ein Monstrum, aber eines, das monströs handeln musste, wie er sich selbst bescheinigt: "Er hatte recht gehandelt. Triumph!", ruft er sich am Ende zu.
Als Leser ist man da nicht ganz so schnell mit dem Freispruch bei der Hand. Die Gewalt des Erzählers bleibt als Schock zurück. Ein Autor kämpft sich frei, mit aller Macht. Von allen Zwängen frei, frei von Schuld, frei von allem, um wieder zum Schreiben zu finden. Und zum Sehen, jenseits des Zeitungssehens: "Am nächsten Morgen, was stand da in der Zeitung? Nichts, und wieder nichts. Tags darauf stieg jemand auf eine Leiter aus Strohhalmen, und sie hielt, und am Abend desselben Tages drückte jemand auf eine Klinke, und die Tür ging auf. Ein paar Tage später spielte jemand auf einer Maultrommel ,Der Tod und das Mädchen' und jemand schüttelte beim Weinen den Kopf."Am Ende ist nichts mehr da. Er kehrt zurück, doch das Boot ist fort. Die Enklave ist fort. Die Morawa ist versiegt, und auch die Freunde gibt es nicht mehr oder hat es nie gegeben. Er schreibt ein Buch, schreibt es wie früher in der Nacht: "Nicht wenige solcher nächtlichen Bücher hatte der Autor im Lauf seines Lebens verfaßt, die vom Tageslicht in nichts aufgelöst worden waren. In nichts? Wirklich?"Ja - fast nichts. Keine Botschaft, keine Nachricht, nur Schönheit als Ahnung und Lesen als Glück. Fast nichts - und mehr denn je.
Quelle: FAZ
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Handke, Peter:
Die morawische Nacht
Suhrkamp, 2007, 1. Aufl., 978-3-518-41950-2, geb.,
561 S., € 28,00. inkl. gesetzl. MwSt.
Der österreichische Schriftsteller Peter Handke ist kein Freund des Blitzlichtgewitters, der Autor scheut die Öffentlichkeit, wo es nur geht. Er gefällt sich eher in der Rolle des Außenseiters und doch dürfte es seine Zustimmung gefunden haben, dass der Suhrkamp Verlag rund um seinen 65. Geburtstag im Dezember 2007 drei neue Bücher auf den Markt gebracht hat, die Handkes Schaffensbreite noch einmal eindrucksvoll dokumentieren. Nach einem Gedichtband und dem gewichtigen Essayband „Meine Ortstafeln - meine Zeittafeln“ liegt nun sein neuer Roman „Die morawische Nacht“ vor.

Bereits 1996 veröffentlichte Peter Handke seinen Reisebericht „Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina oder Gerechtigkeit für Serbien“, der zu heftigen Kontroversen führte, die bis heute andauern. Die Morawa, der Zufluss der Donau südöstlich von Belgrad, ist jener Ort seiner damaligen Serbienreise, an den er nun in seinem neuen Roman wieder zurückgekehrt ist. Hier lebt der Ex-Autor seit zwölf Jahren auf einem Hausboot, der sieben Weggefährten zu Gesprächen eingeladen hat.

Der Bootsherr empfängt die Gäste auf seinem schwimmenden Zuhause, einen Freund aus dem Nachbardorf Porodin, einen Zahnarzt aus der nahegelegenen Kleinstadt Velika Plana, einen ehemaligen Offizier und einen Nachwuchsdichter, dazu einen arbeitslosen Advokat, einen arbeitslosen Lehrer und einen Nachtportier. Zunächst bewirtet er alle mit landestypischen Speisen und Weinen, dann unterhält er sie mit dem nachtlangen Bericht einer Rundreise.

Diese Lebensreise zu Fuß, mit dem Bus oder dem Flugzeug entführt die Zuhörer zu Etappen und Stationen, die für den Autor von Bedeutung waren. Von der adriatischen Insel Krk führt die Reise zunächst über Spanien nach Wien. Die nächsten Stationen sind der deutsche Harz, woher sein Vater stammte, und der österreichische Landsitz des Märchendichters Ferdinand Raimund, und schließlich zurück in seine Kärntner Kindheit mit dem Geburtshaus, wo er den Bruder trifft.

Als die Nacht zu Ende ist und das Hausboot in der Morgensonne erwacht, sind die nachtlangen Zuhörer verschwunden. Der Autor ist allein mit seinem Schmerz vom „ewigen Getrenntsein“. Zeit seines Lebens hatte er über Nacht an einem Buch geschrieben, doch am Morgen war es nicht mehr da. Nicht wenige solcher nächtlichen Bücher hatte er im Laufe seines Lebens verfasst, die sich dann im Tageslicht in nichts auflösten.

Handkes neuer Roman liest sich wie die „Geschichten aus Tausendundeiner Nacht“, in der „Menschen am Ufer eines Flusses einander erzählen, was war und was sein wird“, so der Autor selbst. Das Buch ist eine Art autobiografische Rückschau Handkes, denn die Orte dieser Rundreise, von den ausgestorbenen spanischen Dörfern bis zu den überwucherten Obstgärten in Kärnten, kennen wir bereits aus seinen früheren Romanen.

Es scheint, als wolle sich der Autor beeilen, noch einmal alles zu sehen, ehe es vollkommen verschwindet. Und wenn der Leser am Ende des Romans die Augen schließt, dann kann er den Einsamen auf seinem „Fluchtboot“ sehen … und er schreibt bereits an seinem nächsten Buch.

Manfred Orlick
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erster Eindruck
Die morawische Nacht ist zweifellos eines der besten Bücher Handkes.
Rezensio

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Die Anlage des Buches ist narzisstisch: Ein (Ex-)Autor – das ist Handke selbst, vom Biographischen bis zum Poetologischen – ruft ein paar Freunde für eine Nacht auf sein Boot, um ihnen von seiner europäischen Rundreise zu erzählen. Das ist eine Reise durch das Leben, Denken und Dichten des Autors. Für ein paar Momente dürfen auch die schattenhaften Freunde erzählen: aber nur vom Meister; sie haben Jünger-Funktion. Einen „Zwischenfrager“ gibt es allerdings, der hin und wieder die total vergeistigte Reise des Erzählers nach konkreten Realien befragt, also die Außenwelt der Innenwelt überprüfen will; aber „diese Fragen störten niemanden. Sie gehörten dazu“ und bleiben unbeantwortet.

Das Buch ist wahrscheinlich das bisher aufschlussreichste über seinen Autor. Handke erzählt von sich, umstellt sich mit Zuhörern und lässt sich von ihnen spiegeln. Ihre Hochachtung für ihn gehört zu seinem Selbstbild. Diese autoreflexive Inszenierung nutzt er auch zu Selbstkritik und sogar zu Anflügen von Selbstironie. Er benennt seine poetischen Schwächen, ohne sie zu beheben (z.B. kritisiert er seine „Entrückungen“, rechtfertigt sie später aber als „Zurechtrückungen“); er lässt sich von mehreren Figuren beschimpfen und ist stolz auf die Schimpfwörter (als „Idiot“ z.B. – im griechischen Sinn – hat er sich erst kürzlich in einem eigenen Artikel dargestellt). Auch Handkes Selbstkritik hat etwas von der Eitelkeit des notorischen Selbstbeschauers.  – Trotzdem ist es Handkes rückhaltlosestes Buch, vor allem im Biographischen, und hier vor allem in der Beschreibung seines Verhältnisses zu den Frauen.

Die morawische Nacht ist zweifellos eines der besten Bücher Handkes:

Seine selbstreflexiven Sinnierbücher (Typ Die Lehre der Sainte Victoire) funktionieren besser als seine fiktionalen (Typ Kali), weil er sich die Umsetzung seiner Innenwelt in Außenwelt in wichtigen Teilen erspart und damit all die Schwächen einer Außenwelt, die für sich keine Gültigkeit erreicht, weil sie nur Inszenierung der Innenwelt ist. Da kann Handke Sätze gestalten – seine Leidenschaft, seine Stärke – , ohne Welt gestalten zu müssen. Die vorliegende Erzählung ist wesentlich ein solches vor allem poetologisch interessantes Sinnierbuch. Die Fiktion ist auch darin der schwächere Teil.

Erzählen ist für Handke die Bergung der Dinge im ganzheitlichen Weltgefühl des Erzählers, und der Erzähler ist eine Art Sinn- und Bejahungsgott. Am besten gelingt ihm das Erzählen, wenn Handlung sich auflöst im ruhigen Fluss des Wahrnehmens, das Funktionale der Dinge sich auflöst in ihr Phänomenales. (Und wenn Handke nicht zu sehr abhebt in den Himmel der Dinge oder der Dichtung.) Wandern ist dafür eine ideale Seinsform, Wandern und Schauen. Das Buch ist voll von solchen Erzählpassagen, die sowohl die Intentionalität einer Botschaft als auch einer Story abgelegt haben. Da wird das Erzählen nach Handkes Vorstellung „rein“: „selbstvergessen“, urteilsfrei, interesselos, aber liebevoll.

Eine weitere Stärke des Buches ist Handkes angewachsene Radikalität: Seine Reise bevölkert er mit Figuren, bewegt er mit Geschehnissen, die keinen Wert mehr darauf legen, den Gesetzen der äußeren Realität zu entsprechen (Logik, Psychologie, Raum und Zeit). Die Außenwelt gehorcht konsequent der Innenwelt. Phantasien, Träume, Wünsche werden wiederholt als Fakten bezeichnet und erklärungslos auch als solche inszeniert. Das ist weniger oft peinlich als in den letzten Büchern, weil die Inszenierungen persönlicher, also authentischer sind und die Konsequenz, mit der Handke die Realität missachtet, deutlich lockerer, also souveräner wurde.

Die Liebe z.B. ist schwer zu beschreiben, überhaupt wenn sie ein Mysterium ist wie für Handke. Sie im Besonderen muss er aus aller Realität hinauslizitieren, hinauflizitieren ins Wunder, um sie zu fassen zu kriegen. Es gibt seit Langem keine Geschlechtsteile und keinen Geschlechtsakt bei Handke, sondern nur Variationen des Paradieses: Während des (unbeschriebenen) Liebesgeschehens zwischen dem Ex-Dichter und „der Frau“ meldet sich ein Esel mit Eulenstimme, ruhen Krieg und Unfälle, grenzt die Alpenflur an den Dattelpalmenwald, das Anwesen des Milliardärs zaunlos an die Zeltstadt der Flüchtlinge, fällt ein Fahrrad langsam um, wird ein Schuhband geknüpft, sind weder Faust noch Mephisto unterwegs, kein Nero und kein Dschingis Khan, und einen „A. Hüttler“ hat es nie gegeben. Usw., 4 Seiten lang.

Die Welt ist, was einer wünscht. „Es konnte nicht anders sein, so war es gedacht“, heißt Handkes regelmäßige und folgerechte Formel auch für radikale poetische Vergeistigung. Ihre Gefahren sind bekannt: Aufgabe der Wirklichkeitskompetenz (Serbien), poetische Belanglosigkeit, wenn das Paradies nur behauptet und nicht gestaltet wird, also aus Willkür entsteht. Handke kennt die Gefahren: „Wider mein (...) besseres Wissen erscheint mir eine heile Welt, und diese heile Welt drängt sich mir auf als die höhere, die gültige Wirklichkeit.“ Aber was nützt schon das bessere Wissen gegen die Sehnsüchte? Zumindest durch ihren Gehalt an Sehnsucht werden manche von Handkes Vergeistigungen auch literarisch bemerkenswert.

Handke ist einer von den Männern, der „die Frau“ nur träumen kann, die Liebe als Paradies, die Frau als Engel. Aber es ist eine Frau aus Fleisch, die das ganze Buch durchzieht, trotz episodischer Liebe von Vornherein „die Verfolgerin“, die prinzipielle „Hinderin“ seines Schreibens („es verlangte, bei Seelentodesstrafe, ein Leben jenseits der Geschlechterliebe“), schließlich überhaupt: seines natürlichen Alleinseins, sie ist „Teufel“, „die böseste aller Hexen“. Er schlägt sie nieder, sein Gesicht dabei „sein wahres, unverzerrt“. Der Traum als die rückhaltlosere Wirklichkeit.

Wenn man die Wirklichkeit verabschiedet hat, dann kann/soll man auch die Sätze freilassen. Manche Figuren nützen diese Freiheit in beeindruckender Konsequenz, indem sie ihre Sätze aus der Pflicht der Argumentation oder der Darstellung entlassen; weniger Adhäsion, mehr Originalität. Die Sätze hängen dann nur mehr im Ich ihres Sprechers, vor allem aber im Ich des Autors zusammen, bleiben also auch nach Abgabe ihrer Funktionen repräsentativ. Das ergibt ein freies Reden voll Reizen und Überraschungen. „Es erzählte in ihm“, formuliert Handke für sein Alter Ego. Vielleicht kommt dieses Es in solch freien Reden am ehesten zu Wort. Leider macht Handke das Erzählen gleich wieder zur Religion: „Es hob an, in ihm zu erzählen.“

Handke startet die Reise auf „seinem“ Balkan, in der „Enklave“ Porodin (Serbien) an der Morawa, wo auch sein Schiffchen „Die morawische Nacht“ vor Anker liegt. Auf einer kroatischen Insel dann erinnert er sich seines ersten Buchs und eines Mädchens, das er als vergammelte Streunerin wiederfindet. Danach geht’s zu den römischen Ausgrabungen nach Numancia, Südspanien, wo er – sichtlich als Opfer – an einem Symposion gegen den Lärm teilnimmt. Nordspanien bringt die Liebe zur „Frau“. Im Harz, Deutschland, besucht er den Geburtsort seines Vaters, den er nie gekannt hat. Von da geht’s nach Österreich. Am Wiener Stadtrand gerät er in ein Welttreffen der Maultrommelspieler. In Gutenstein unterhält er sich mit seinem „Freund“ Ferdinand (Raimund) über die guten alten Zeiten und die schlechten neuen. Sein Kärntner Kindheitsdorf erwandert er auf der „Alten Straße“, die direkt durch sein Traumbewusstsein führt. Sein Dorf ist verändert, aber er bleibt eine Weile bei seinem Halbbruder, bevor er „heim“ reist auf den Balkan. Im Bus dorthin liest er einen kritischen Zeitungsbericht über seine Rundreise, verfasst von seinem Erzfeind „Melchior“; erkennt andererseits in einem blutjungen Mitfahrer einen wahren Dichter, einen Nachfolger, und zwar an der Art seines Schauens. Porodin ist keine Enklave (mehr), „die Morawa versiegte“, das Schiff „schrumpfte zum Einbaum“, keine Spur mehr von „der Frau“ und von den Zuhörern. Das Wünschen hat geholfen: Aus den Träumen, nach Bedarf, hat Handke Landschaften, Menschen und Ereignisse materialisiert, notdürftig, temporär und ohne sie endgültig der Realität auszuliefern. Jetzt hat er sie aufgelöst.

„Melchior“ ist ein liebenswürdiger Mann, der sich dem Ex-Dichter auf der „Alten Straße“ zugesellt. An ihrem Ende aber kniet er nieder und hält eine Rede gegen die Dichtung, jedenfalls gegen die vom Ex-Dichter praktizierte. Er ist der zweite Teufel neben „der Frau“: er hasst die Heiligkeit der Poesie (Handke formuliert seine Poetologie überprüfbar mit religiösem Vokabular). Der Ex-Dichter wird, als Melchior auch im Kindheitsdorf auftaucht, gegen ihn einen zugespitzten Haselstock werfen, der ihn „mitten ins künstliche Herz“ trifft, sodass der Durchbohrte, „wie es sich gehörte“, sich mit einem Knall in Luft auflöst. In seiner Rede wie auch später in seiner Reisekritik stellt Melchior Handkes Poetologie ex negativo dar:

Um dem Leser das Urteilen zu erleichtern, stellt er – selbst Schreiber – klar, er sei grundschlecht, für die Gegenwart also der Richtige. Die Dichtung habe zu Recht alles verloren, was sie (für Handke) war: Der Geist sei nicht mehr der Heilige Geist, es gebe weder Dinge noch Worte, die heute heilig seien; verloren sei die Dichtung als die „natürliche und sachgerechte Ausdrucksweise für die Dinge der Seele (...), den edlen Seelen vorzuführen“; die poetische Beseelung der Dinge sei Rückfall ins Animistische, das „Beatmen leblosen Zeugs“; niemand habe/brauche heute eine Seele, also: das „Mitleiden, Zögern, Nichtweiterwissen, Sprachlossein, Stammeln, das erlösende Wort suchen (...)“ (wir sind von der Seele stufenlos zur Dichtung gekommen); ein alter Hut, was der Dichter für seine Dichtkunst beanspruchte: „deine Schreibersprache kam und zitterte aus der Sprachlosigkeit, einer primären. Ohne diese primäre Sprachlosigkeit, so deine Überzeugung, kein Schreiben“; keine „Traumstoffgestalten“ mehr; die Dichtung als die „umfassendste Information“ habe der Dichter selbst verraten, indem er Augen und Herz schließe vor der Realität, Gegenwart, den Zeitgenossen, sie aber weit öffne für Glühwürmchen...

Manchmal möchte man dem Teufel Recht geben: Handkes Bücher leiden an Zwangsauratisierung, ohne diese keine Poesiedefinition. Biblisches, religiöses, „altes“ Vokabular verleiht dem Physischen die Aura des Metaphysischen, dem Ding die Aura seines Wesens. Handke beharrt (naiv?) auf der geräumigen humanistischen Standardvokabel „Seele“, als ob der Humanismus nie einen Kratzer bekommen hätte. Begriffe wie „die Seele“, „das Gute“, „das Böse“, auch „die Liebe“ klären nicht, sondern entrücken das Benannte in Bereiche, wo das genaue Hinschauen als unfein gilt, aber auch den konkreten Umgang mit dem Konkreten erspart. Sie schützen, was ungeschützt vielleicht nicht mehr hielte. Handke schützt begrifflich vorwiegend traditionelle Haltungen, er lebe „schon lang fern der aktuellen Sprache“, seine Bücher sind immer offener, auch trotziger vergangenheitsnostalgisch und durchaus restaurativ.

Eine große, geradezu programmatische Unbestimmtheit („der undefinierbare Niemand“) haftet Handkes Sehnsüchten, Glücksversprechungen und poetischen Überlegungen an. Natürlich ist die Präzision, die man für die Beschreibung der Realität verlangt, eine prinzipiell fragwürdige. Aber noch fragwürdiger ist, sie ohne Präzision zu beschreiben. „Ah!“, sagt Handke regelmäßig vor den Erscheinungen. „Ungeheures ist geschehen“, präzisiert er das Ereignis der Liebe. „So viel Flehen war in der Welt, stummes, so viel Flehen, in so vielen Augen wie vielleicht noch nie“, sagt Handke in einer Anwandlung seiner „unbestimmten Liebesfülle“, und man wird den Verdacht nicht los, dass der konkret und im Singular Leidende in diesem wohltönenden Klageruf gar nicht vorgesehen war, ja sogar dass Handke die Sätze mehr liebt als die Menschen.
Fazit
560 Seiten gedrängt voll von Handke (sie werden ein Hauptquell zukünftigen germanistischen Arbeitens über ihn sein), bedenkenswert in seinen Reflexionen, gefährdet in seinen Fiktionen, verschwommen in seiner Abgehobenheit, in der Vergeistigung der Außenwelt aber auch kühn.
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Ein Spiel? Der Wolf im Schafspelz

Peter Handkes Erzählung "Die morawische Nacht"

Von Peter MohrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter Mohr

 Besprochene Bücher / Literaturhinweise
Ursprünglich sollte Peter Handkes opulentes Erzählwerk den sinnstiftenden Titel "Samara" tragen, was aus dem Arabischen übersetzt "eine Nacht im Gespräch verbringen" bedeutet. Genau dies geschieht nämlich auch in der Rahmenhandlung. Ein gealterter Autor, der mit dem Schreiben aufgehört hat, versammelt auf einem Hausboot einige Freunde um sich und lässt mit ihnen gemeinsam sein Leben Revue passieren. Das Boot trägt den Namen "morawische Nacht" und liegt auf der Morawe - einem Donau-Nebenfluss, der sich durch Serbien schlängelt - vor Anker.
Diese Figur des Ich-Erzählers weist so auffällige Parallelen zu Handkes eigenem Lebensweg auf, dass schon wieder Vorsicht geboten ist, denn der eigenwillige Autor hat alles andere als eine Autobiografie im Sinn gehabt. Begegnen wir hier einem geläuterten, milde gestimmten alter ego, das mit seinen Zuhörern, die wie ein verschwörerischer Geheimbund beschrieben werden, über seine Lebens-Odyssee parliert?
Die Gedankenreise führt uns an viele Orte, die in Handkes Leben eine wichtige Rolle spielten - auf die kroatische Insel Krk, wo er seine erste große Liebe erlebte und seinen Debütroman "Die Hornissen" verfasste; ins spanische Numancia, wo wir an einem Kongress zum Thema "Akustik der Stille" teilnehmen; in den Harz und an das dortige Grab seines leiblichen Vaters, in den Geburtsort in der Steiermark und nach Wien, wo der Weltkongress der Maultrommelspieler stattfindet.
Die erzählerische Reise hat einen stark besinnlichen, selbstreflektierenden Charakter. Es klingt gerade so, als wolle der Ich-Erzähler (oder eben auch Handke selbst) zerschlagenes Porzellan wieder kitten. Der Zerfall des Vielvölkerstaates Jugoslawien wird als irreversibles historisches Faktum angenommen. Angesichts von Handkes langjähriger Affinität zum serbischen Diktator Slobodan Milosevic, auf dessen Beerdigung er eine Rede hielt, eine sonderbare Wandlung. Die lebenslangen Probleme des Autors mit den Frauen (zu Handkes Lebensgefährtinnen gehörten unter anderem die Schauspielerinnen Libgart Schwarz, Katja Flint und Jeanne Moreau) werden auf erzählerische Weise abgearbeitet, wenngleich dieser Erklärungsversuch wenig plausibel klingt. Demnach vertragen sich Literatur und Liebe nicht, da die Frauen stets ein Hindernis beim Schreiben dargestellt hätten.
Am poetischsten ist dieses Buch, wenn Handke seinen Ich-Erzähler auf dessen Erinnerungsreise mit Dialogpartnern konfrontiert - mit dem Wiener Dichter Ferdinand Raimund und mit der ebenfalls längst verstorbenen Mutter. Auch diese meta-fiktiven Dialoge sind von einem äußerst versöhnlichen Duktus getragen. "Genug der Schuld und der Schuldsuche" herrscht die Mutter den Ich-Erzähler an, und als leisen Hintergrundton hört man Handkes Mutter-Roman "Wunschloses Unglück" mitschwingen.
Überhaupt gibt es reichlich Querverweise auf das eigene Œuvre. So tauchen auch Gregor Keuschnig und Filip Kobal - die Protagonisten aus "Die Stunde der wahren Empfindung" und "Die Wiederholung" - in der langen Gesprächsnacht auf. Trotz all dieser erzählerisch-essayistischen Nähe zum eigenen Werk, die bisweilen wieder haarscharf an die Grenze des Narzissmus reicht, bietet Peter Handke aber auch absolut neue Töne. Mit einer gehörigen Portion Selbstironie begegnet er seinem Ich-Erzähler, den er mal als "Dorftrottel", mal als "abgedankten, durchgedrehten" Autor bezeichnet.
Was hier als selbstkritisches Reflektieren mit stark versöhnendem Anstrich daherkommt und wie eine Suche nach Anerkennung, Nähe und emotionaler Geborgenheit klingt, lässt sich allerdings auch als humorvolle Replik auf die vielen Kritiker lesen, von denen sich Handke oft missverstanden fühlte. Hat er gar eine falsche Fährte ausgelegt, hat uns selbst eine weichgespülte Handke-Light-Version geliefert? Hat sich der literarische Wolf einen massenkompatiblen Schafspelz übergestülpt? Oder doch der Beginn eines milden Alterswerkes? Am Ende erweist sich diese ellenlange und teilweise äußerst unterhaltsame (das ist für Handke eher atypisch) Erzählung als Tagtraum eines Städters, der an seinem Schreibtisch das "Tosen der Balkanautobahn" als "Rattern von Vorortzügen" entlarvt.
Als Handkes Ich-Erzähler dem Wiener Biedermeier-Dichter Ferdinand Raimund begegnet, befindet dieser (und dies trifft auch auf Peter Handke und seine "Morawische Nacht" zu): "Du aber - du aber bist vielleicht ein Spieler."
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Mit Best-of-Alben alternder Rockstars ist es so eine Sache: Während sie Kennern, die jede Platte einzeln erstehen, oft als überflüssig, ja nicht selten als ärgerlich erscheinen, weil sie nur das Gängige gelten lassen, tun sie Unkundigen ein Werk auf, das sich in seiner Unübersichtlichkeit mitunter nur schwer erschliesst. Wenige können sich der Breite ihres Schaffens so rühmen wie Peter Handke mit seinen Romanen und Erzählungen, Notizen und Essays, Theaterstücken und Gedichten. Fleissig ist Handke und obendrein ein Autor, der sich mit fast jedem Buch neu erfunden hat, zuletzt mit dem Bergwerkstück «Kali», einer Erlösungsminiatur voller Zeichen, Wunder und Ironien. Wohltuend hatte sich Handke darin von der Verbiesterung gelöst, in die er sich im Zuge der jugoslawischen Sezessionskriege als Apologet des Serbentums hineingesteigert hatte. Sie drohte seinen literarischen Ruf schliesslich immer mehr zu beschädigen.

Glänzende Erzähllaune

Handkes jüngste, mit 561 weit bedruckten Seiten stattlich geratene Erzählung, «Die morawische Nacht», nimmt den entspannten Ton auf und führt ihn weiter in Richtung Revision und Versöhnung, deren Ausmass überrascht. Es ist, als schliesse Handke ab mit einer Schaffensphase, deren Quellcode der Widerstand gegen die Zumutungen der modernen Lebenswelt mit ihren Rationalisierungen und Beschleunigungen war. So ist der Held des Buches ein «ehemaliger Autor», dem die poetische Mission der Langsamkeit abhanden zu kommen droht. Im Alter Ego dieses Mannes, der Zeugnis von einer «Zickzackreise» durch Europa ablegt, durchmisst Handke noch einmal Momente seines Poetenlebens, wobei in ihm nicht nur Orte, Zeiten und Figuren aufsteigen, sondern er Rechenschaft ablegt über die (Ab-)Gründe seines Schreibens. Denn wo das Erhabene ist, wächst die Gefahr des Lächerlichen auch.
Es ist eine balkanische Utopie der behausten Unbehaustheit, in die sich der «abgedankte Autor» vor einem Jahrzehnt geflüchtet hat vor dem Hass und der Nachstellung einer Frau, die ihn zum Schweigen bringen wollte – das Hausboot namens «Morawische Nacht» in der serbischen Enklave Porodin an der Morawa, wo die Frösche lärmen und die Autobahn dröhnt. Von hier zieht der Ex-Autor los auf der Suche nach dem verlorenen Selbst, und hier ruft er nach seiner Rückkehr Freunde zum nächtlichen Fest, um in Anwesenheit einer geheimnisvollen Frau und in feierlicher Eintracht kollektiv die Erinnerung an das zu begehen, was sich unterwegs zugetragen hat.

Enthüllen und verbergen

Gern vertraut man sich den mäandrierenden Sätzen und wechselnden Stimmen, der gedanklichen Reife und epischen Weite dieses Buches an. Einer innen- und aussenperspektivisch mehrfach gebrochenen und komplexen Choreografie des Erzählens entspricht ein Geschehen, das sich weit verzweigt: in Reise-Episoden, in (hinreissende) Meditationen und Alltagsbeobachtungen, in autobiografische Erinnerungen und poetologische Reflexionen. Jedes dieser Momente öffnet ein eigenes Deutungsspektrum, zumal Handke zwischen Scherz und Satire, Ironie und tieferer Bedeutung, zwischen intimer Konfession und verstiegenem Märchen, Sanftmut und Polemik changiert. Darüber hinaus setzt er den zum Salbungsvollen neigenden Ex-Autor dem Sperrfeuer eines detailbesessenen Zwischenfragers aus, der den Bericht immer wieder als Budenzauber entlarvt. Und ja, der Autor fällt sich gern selbst in die Parade. Das hat Esprit und Witz und geht bis zur Selbstkarikatur. Selten hat man Handke in so souveräner Erzähllaune gesehen.
Mit lässiger, oft geradezu frivoler Geste entzieht Handke manch einem seiner kulturkritischem Impulse den Boden. Das panische Gefühl von Bedrohtheit – es war auch eine Methode literarischer Selbstinduktion. An einer Farce von Kongress über «Stille und Lärm» im spanischen Hochland wird das Leiden am Ungeist der Zeit ad absurdum geführt (wobei der Ex-Autor selbst nicht einmal mehr das Rascheln des Bleistifts in der Stille aushält). Und nicht länger stehen die Tiere am Wegrand einfach für heile Natur und sanftes Gesetz – einen Zitronenfalter sieht der Herumirrende «scheissen», und von einer Gemse muss er sich übel beschimpfen lassen.
Man könnte solches für Koketterie halten – was es bei mitunter merklicher Forciertheit des Tons auch ist. Denn noch das offensivste Enthüllen ist ein Verbergen. Doch greift Handkes Selbstprüfung tief ins Innere seines Werks – mit profundem Wissen, wo die eigenen Schwächen liegen. Der Jugoslawien-Komplex, der in einer Busfahrt durch leer geschossene Landschaften und Dörfer mit steinewerfenden Kindern aufleuchtet, wird mit Trauer, Resignation, auch Ironie behandelt (nur der Fahrer darf eine Hasstirade auf das «neumoderne» Kroatien halten). Die wahrste Empfindung aber gilt in «zitternden Sekunden» den Zeichen der Versöhnung, und selbst die Balkan-Idolatrie bröckelt, überfällt den Autor angesichts der herzinnigen Verfeindung und neumodischen Verstocktheit der Menschen doch mitunter die Sehnsucht nach dem Globalen – nach New York.
Überhaupt eignet dem Ex-Autor eine neue Einwilligung in den modernen Weltzustand: Die Wirtschaft empfindet er als heilsam, die Möglichkeiten der Technik oft als beglückend. In der einst so verachteten Menge entdeckt er Freiheit und den engen, wahrhaft monumentalen «Menschenhorizont». Als er im Harz das Grab des früh verstorbenen und verdrängten Vaters aufsucht, muss er seine Verfluchung der «deutschen Allerwelt» zurücknehmen. Es ist die Schuld der Vaterlosigkeit, die er abzutragen sucht – sie stellte ihn «ausserhalb des Rechts» und der Pflicht, erwachsen zu werden, sagt der Falter. In ihr auch wurzelt seine Ortlosigkeit, die er gegen die Mutter richtete, als er sie einsam an Krebs sterben und Hand an sich legen liess. Auch zu ihrem Grab im (islamisierten!) Kärnten wird er pilgern und von ihr im Traum Vergebung erhalten für seine Schuld: Sie starb nicht so wunschlos unglücklich wie gedacht.
Den Bruder wird er treffen und auf einem theatralischen nächtlichen Stationenweg seinen Romanfiguren Filip Kobal und Gregor Keuschnig, aber auch gewendeten Politikern, gefallenen Schulkameraden und Dichterkollegen, die sich von der Poesie ab- und dem Zynismus des Fertigteil-Journalismus zuwandten. Nichtsdestoweniger wird der ehemalige Autor beglückt lernen, dass auch sein weltoffen gewordenes, dem «Imperium» entwöhntes Geburtsland Österreich nicht länger dem alten Hassbild entspricht. Dabei erscheint ihm das «Verschwinden der Vorurteile» erzählenswert «wie kaum etwas sonst».

In der Liebesfalle

An der Donau unterhalb Wiens stösst der Wanderer dann auf den Gasthof zum «Friedhof der Namenlosen», in dem Maultrommler ein Welttreffen abhalten. Der «Traumton» ihrer Musik leitet die letzte Phase seiner immer phantastischer werdenden Reise ein. Am einstigen Landsitz des «Zaubermärchendichters» gelingt es ihm, Ferdinand Raimund in ein Totengespräch über die Liebe und das Leben zu verwickeln. Ratlos ist Raimunds Rede und berührend: «Zahlt sich das denn aus, all das Überleben? Niemand wird dich retten. Es ist eh alles Gnade. [. . .] Es gibt keine paradiesischen Tage. Und am Ende weiss keiner nichts. Ratlos muss geschieden sein.»
Doch Handke treibt das Spiel vom Fragen weiter – bis ans Eingemachte, wenn es um die Bedingung der Möglichkeit des Dichtens geht. Birgt der erfüllte Moment der «Entrückung» nicht die Gefahr, in eine Ideologie der besten aller möglichen Welten zu kippen? Und ist nicht das Unglück in der Liebe der Preis der Poesie – denn das sexuelle Begehren bleibt unvereinbar mit dem Gesetz des Schreibens. Es ist dessen Absolutheit, welche Erfüllung in Entzweiung, Zärtlichkeit in Gewalt umschlagen lässt. «Er hatte ein Dritter zu sein, nicht Teil eines Paars.» In seinem Kampf um die innere Freiheit wittert er bald in jeder Frau einen Feind – und kann doch nicht umhin, auf seiner Reise der einzigen wahren Liebe zu begegnen, welcher utopisch der Abschied innewohnt und eine unendliche gegenseitige Geistesgegenwart.
Doch ist es mehr als Schreibzwang. Nämlich zur Einsamkeit verdammt zu sein und mit ihr zu Spott und Hass. Absonderung ist des Ex-Autors Krankheit, seine untilgbare Schuld. Er selbst, seine Leere, ist die Gefahr, der ausgesetzt zu sein er immer wähnt. Und in der Tat wird sich am Ende alles in Luft aufgelöst haben: die Enklave, das Schiff, die Freunde, die Frau, das Fest. War da etwas? Es ist etwas da – dieses Buch. Es ist «kein Griff in den Staub», es schmeckt nach etwas, und nichts von dem, was es birgt, lässt sich dementieren. Noch nie hat Peter Handke so vieles erklärt, fast zu vieles hat er auf einmal umgewertet, und fast zu gut haben wir ihn verstanden. Preisgegeben indes hat er dank dem ingeniös-paradoxen Erzählarrangement nichts von seiner «majestätischen Andersheit». Eine grosse Frische ist in dieser «morawischen Nacht» über Handkes Werk gekommen. – Best-of? Ja, gewiss, und nein, nein! Das Beste steht erst noch bevor.
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Die morawische Nacht

Erzählung



Peter Handke dringt vor allem dann ins Bewusstsein der Öffentlichkeit, wenn er sich zu Vorgängen auf dem Balkan äußert. Meist stellt sich dann, wie im März 2006, als er die Grabrede für Slobodan Milosevic hielt, die erwartbare Reaktion einer Literatenschelte ein, man könne doch nicht einen Kriegsverbrecher/das Land eines Kriegsverbrechers/ein Land voller Kriegsverbrecher ... gutheißen und unterstützen. Und liest man "Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina oder "Gerechtigkeit für Serbien" sowie den Nachtrag zur winterlichen Reise, scheinen diese Kritiker beinahe Recht zu haben, nehmen die Texte es sich geradezu zur Prämisse nicht objektiv, sondern subjektiv, wertend zu erzählen, und zwar subjektiv und wertend für ein Land voller Kriegsverbrecher. Doch so einfach, wie die Kritiker und Polemiker es sich machen, liegt die Sache mit Handkes Balkan-Texten nicht, das wird gerade auch an seiner aktuellen Erzählung "Die morawische Nacht" deutlich. Denn zwischen literarischer und realer Realität klafft ein tiefer Spalt, den die Kritiker und Polemiker übersehen, den Handke allerdings regelrecht zelebriert und um den ein Großteil seines Schaffens kreist. 

Zu Beginn der Erzählung nimmt ein Ich-Erzähler den Leser an die Hand und geht mit ihm auf ein Hausboot eines Ex-Autors, der zwar nicht mehr schreibt, aber in der folgenden, titelgebenden morawischen Nacht erzählt, die an die Erzählsituation aus 1001 Nacht angelehnt ist. In der Nacht, in der die Reiseerlebnisse des Ex-Autors erzählt werden, wechselt die Perspektive ständig und ansatzlos zwischen verschiedenen Erzählern, die fragen, ergänzen, widersprechen. Damit wird das Erzählte als eine Möglichkeit, nicht als eine Wahrheit dargestellt und geradezu zur Kritik an einer sonst gottähnlichen Erzählerinstanz aufgefordert. So heißt es grundiert von diesem Zweifel: "Aber das spielte doch jetzt eindeutig nur in des Erzählers Phantasie? Es war eine Tatsache, beschied er unserem Zwischenfrager. Phantasie? Und wenn. Und warum ?nur??" Damit tritt jene Kluft zwischen den beiden Realitäten hervor. 

Seine Reise führt den Ex-Autor durch Europa, an Orte, die bereits aus anderen Texten Handkes bekannt sind, und ebenso werden Figuren erwähnt, die schon in anderen Texten vorkamen. Beinahe scheint es, als würde Handke an einem endlosen Text weiterschreiben, der nicht abreißen darf. Und das Gravitationszentrum dieser erzählten Welt ist die Utopie des Balkans. Utopien sind, wie Michel Foucault in seinem Text Andere Räume schrieb, "Platzierungen ohne wirklichen Ort", der utopische Balkan ist nicht an den geographischen Balkan gebunden. Handkes Balkan ist ein Modell des Widerstandes gegen die Moderne und die Monopolisierung des Denkens, ein Raum, den die Moderne noch nicht partikularisiert hat, in dem noch Gemeinschaft erfahren werden kann. Oder anders formuliert: Redet Handke über den Balkan, so redet er eigentlich über die Wert- und Meinungsnivellierung in Europa, kritisiert aus der Distanz den Verlust von Gemeinschaft. 

"Die morawische Nacht" unterläuft dabei den hier beschriebenen Interpretationsversuch, indem der Text die Kritiker-, Leser- und Autorenrolle wiederum in sich aufnimmt und in einer Polyvalenz auflöst. Der Ex-Autor schreibt nicht mehr, er erzählt nur noch und er wird nach der Hälfte der Erzählung nicht mehr als Ex-Autor, sondern nur noch als Wanderer bezeichnet. Wie auch der Text selbst scheint das Reisen der Figur nur ein orientierungsloses, suchendes Mäandern im endlosen Text zu sein, der fortgeführt werden muss wie auch Scheherazde immer weiter erzählen muss. Eine Suche nach der Insel, auf welcher der Ex-Autor sein erstes Buch schrieb, eine Suche nach der Heimat des Vaters, eine Suche nach dem Grab der Familie - eine Suche nach Geschichte. Und auch dies ist wiederum zu Verstehen als Widerstand gegen die Geschichtslosigkeit der Gegenwart, gegen die eine poetische Gegenwelt entworfen wird. 

Es sind diese Überlegungen, die Handkes Erzählung interessant machen, es ist die zweite, hinter der im unmittelbar Beschriebenen liegende Schicht. So bleibt eines festzuhalten: Was man von dieser Form der Kritik hält, bleibt wie immer dem Leser überlassen, und damit auch die Entscheidung, ob man die Methode der Projektion einer Utopie in den Balkan glücklich findet. Doch sollte man diese Form und Methode zuvor versuchen zu begreifen. "Die morawische Nacht" bietet dafür einen großartigen Ansatzpunkt und ist dabei eines der besten Werke Handkes.

Auch die Position des Nicht-Verstehen-Wollens der Kritiker findet sich in Handkes Text wieder. Der Journalist Melchior veröffentlicht einen Bericht über die Reise des Ex-Autors, des Wanderers, den dieser auf einer Busreise zufällig liest. Die Reise sei nur eine Flucht, heißt es dort, er verschließe seine Augen vor der Realität, wo "ernstzunehmenden" Autoren die "Probleme der Gegenwart auf der Seele" brennen würden: "Nirgends zeigt er ein Herz für seine Zeitgenossen." Dass eine derartige Beschreibung Handke nicht gerecht wird, sollte deutlich geworden sein, denn "Die morawische Nacht" verhandelt die fundamentalen Probleme der gegenwärtigen condition humaine. So endet diese Passage im Buch auch mit der ironischen Anmerkung: "(Gleich unter dem Artikel dann das Tageshoroskop mit dem ihn anders betreffenden Satz: ?Sorgen Sie für Frieden.?)" 
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Handke reist zu den Außenseitern: "Die morawische Nacht"

07.01.2008 | 13:09 |   (DiePresse.com)
Das neue Buch von Peter Handke: Eine Rundreise durch Europa zwischen privater Spurensuche und orientalisch 
Eine Rundreise durch Europa, vom Balkan nach Spanien und über Deutschland und Österreich wieder retour. Davon handelt "Die morawische Nacht", die neue Erzählung von Peter Handke, die ab heute, Montag, erhältlich ist. Es ist eine Reise zu den Außenseitern der Gesellschaft und eine Spurensuche der eigenen Geschichte.

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Nicht nur, weil der Herkunftsort des Vaters im Harz, der eigene Geburtsort in Kärnten liegt, hat der Dichter offensichtlich viel von sich selbst in die Zentralfigur eines "Ex-Autors" gesteckt, der herbeigerufenen Freunden auf einem Hausboot auf dem Donau-Zufluss Morawa im Laufe einer langen Nacht von dieser Reise berichtet.
Handke siedelt das Geschehen in der Zukunft an, in der sich der Dichter zurückgezogen und dem Schreiben entsagt hat. Längst hat er erkannt, dass er mit seinem Beharren auf einem poetischen Beschreiben der Welt nicht mehr zeitgemäß ist, und gibt nicht nur in einer Begegnung mit einem "Melchior" genannten Widersacher der gegnerischen Kritik Raum: "Die dichterische Sprache ist tot, es gibt sie nicht mehr, oder nur noch als Nachahmung, als Gehabe", versichert Melchior, "Es leben die schreibenden Arrangeure, wir, nur wir allein. Arrangement ist alles, merk dir das, Teuerster. Einzig meine Sprache, die Zeitungssprache, lebt."
Auf dem "Müllhaufen der Geschichte" sieht sich der ehemalige Autor auch mit seiner eigenen Balkan-Sicht gelandet. Dessen landschaftliche Schönheit wird immer wieder beredt beschrieben, die prekäre politische Situation etwa in der Abreise aus der "Enklave" im serbischen Porodin, in dessen Nähe das Schiff vertäut ist (und das Handke bereits auf seiner "Winterlichen Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina" besucht hatte), geschildert.
Sein Glauben an einen Gegenentwurf eines "zusammenhängenden großen Lands auf dem Balkan" wird aber nur noch von einem letzten "Fähnlein der, je nachdem, paar Aufrechten oder Schiefgewickelten" vertreten. Die Schilderung des allerletzten Geheimtreffens dieser auf den Ex-Autor, eine japanische Ex-Motorradrennfahrerin und einen amerikanischen Ex-Justizminister geschrumpften Utopisten in einer Doline im Karst bei Triest erhellt zwar nichts von politischen Hintergründen, steckt aber voller Selbstironie. Der Kampf ist verloren, der Verlierer wird zum tragischen Helden.
Der Mainstream ist Handke ebenso wie seinem Alter Ego verhasst. Der Reisende meidet die großen Städte, die bekannten Routen. Die Natur ist jederzeit für Entdeckungen gut. Der Literat hält aber auch mit Ferdinand Raimund, den er in Gutenstein aufsucht, Zwiesprache, trifft auf Handkes frühere Romanfiguren Gregor Keuschnig und Filip Kobal, begegnet dem Kärntner Altlandeshauptmann Leopold Wagner, seinem eigenen Bruder und jeder Menge allegorischer Figuren, von denen die meisten Handkes Stücken entsprungen sein könnten.
Die Grundsituation des Buches, dessen nächtliches Beisammensein eigentlich von einem der herbeigerufenen Freunde nacherzählt wird, variiert mehrfach. Immer wieder kommen ganze Tafelrunden zusammen, etwa zu einem Symposium der Lärmgeschädigten in einem winzigen, spanischen Ort, oder zu einem Welttreffen der Maultrommelspieler in einem Gasthof beim Friedhof der Namenlosen in der Nähe von Wien. Ein Gegenentwurf zu den scheinbaren Wichtigkeiten dieser Welt, nicht frei von Kitsch.
Am Ende schließt sich der Kreis. Im Bus nach Hause liest der Heimkehrer bereits von seiner Rundreise, einen Bericht des Journalisten und Schriftstellers Melchior, der die Welt darüber informiert, dass er, der Ex-Autor, "mit seiner Reise nur vor sich selbst geflüchtet war. Daß er allein dem Abseitigen nachgegangen war. Daß er die Augen geschlossen hatte vor der Realität. Den ernstzunehmenden Autoren brannten die Probleme der Gegenwart auf den Nägeln - und er? Er kaute höchstens ratlos an denen herum."
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Die morawische Nacht.
Erzählung von Peter Handke (2007, Suhrkamp)
Besprechung von Martin Krumbholz in der Frankfurter Rundschau, 7.01.2008:
Vom Verschwinden der Vorurteile
Es ist Zeit, Frieden zu machen. Keinen Funken Provokation enthält Handkes heute erscheinendes Epos "Die morawische Nacht", obwohl es doch wieder einmal ein Buch über den Balkan ist - den Balkan, der im Geburts- und Sterbeort der Mutter des Erzählers beginnt, ein Dorf, das in Kärnten liegt und von dem es heißt, es sei "balkanisch angehaucht".

Ein anderer Autor, zitiert gegen Ende des Buchs, habe auf die Zeitungsfrage, welche Dinge ihm zuwider seien, die kyrillische Schrift genannt, "und das konnte man ihm nach dem, was ihm, seinem Volk und seinem Land unter dem Banner dieser Schrift widerfahren war, auch nachfühlen".

Fairer und friedfertiger kann ein Schriftsteller nicht sein. Ohne Ironie kommt Handke aus, nicht nur an dieser Stelle, Ironie ist ihm ohnehin eher fremd - er meint, man offenbare mit ihr nur seine Verletztheit -, und, wie stets, ohne Kausalsätze, ohne Weil, Darum und Denn. Handkes Prosa beschwört das Offensichtliche und das, was man sehen kann, wenn es einem denn gegeben ist, zu sehen: die "nie gesehenen Farben", "unerhörten Geräusche".
Wo sonst könnte man heute noch solche Sätze lesen: "Nicht einmal der Tau, während der Nacht in den sichtlich frischgepflanzten Straßenrandbäumchen angesammelt und in der Morgensonne wie ein Segen aus den Blättern sprühend, in einem Strahlenkranz aus allen Regenbogenfarben, gab ihm Asyl, oder winkte ihn weiter."

Seit jeher ist es Peter Handke um die Unmittelbarkeit der Anschauung gegangen, um die Dinglichkeit, um das Einzelne und Vereinzelte, und nicht um die pauschalen wertenden Reflexe. "Verschwinden der Vorurteile: wie kaum etwas sonst erzählenswert." Es ist einer der Schlüsselsätze seiner Poetik. Wer aber ist dieser asylsuchende "Er", von dem das Epos handelt? Er hat keinen Namen, wird als ehemaliger Autor bezeichnet, der, auf dem Weg zu einer Art "Nationalautor", das Schreiben aufgegeben habe und sich nun mit dem mündlichen Erzählen begnüge.

Man darf unter dieser Tarnkappe durchaus ein Alter Ego des Schriftstellers Peter Handke vermuten, wobei der Rahmen der Erzählung ganz und gar fiktiv ist: Der Erzähler (der im Text als solcher nicht firmiert) hat eine Schar von Freunden und seine, "hm", Lebensgefährtin auf sein Hausboot gebeten (oder vielleicht noch eher: befohlen), das am Ufer der Morawa liegt, einem Nebenfluss der Donau in einer serbischen Enklave, und erzählt eine Nacht lang von einer europäischen Rundreise, die eine Art Erinnerungstournee ist, ihn unter anderem nach Dalmatien, nach Spanien, in den Harz, nach Wien, nach Kärnten führt; Etappenziele, die mit handfesten Überraschungen aufwarten: einer ökumenischen oder multikulturellen Krypta im Kärntner Geburtshaus, wo sich Einheimische, Fernfahrer und muslimische Immigranten zum je unterschiedlichen Gebet versammeln; einem kosmopolitischen Maultrommlertreffen am Stadtrand von Wien; einer Jugendliebe, die zur Streunerin mutiert ist…

Ganz entschieden ist dieser Tarnkappenmensch, ob er nun zu Fuß, im Zug, auf dem Traktor oder auch im Flugzeug reist, ein letzter Individualreisender im Zeitalter des Pauschaltourismus - so individual, dass es auf die dem Pragmatischen verpflichteten Interjektionen eines notorischen Zwischenfragers unter seinen Zuhörern meist nur ein Achselzucken anstelle einer Antwort gibt.

Wer diesen großen und großartigen Text wieder nur auf verräterische Spuren des üblichen politischen Verdächtigen hin befragt, wird nicht nur enttäuscht, sondern geradezu beschämt werden. Nicht nur, weil dieser Erzähler mit niemandem schonungsloser verfährt als mit sich selbst.

Das Streitobjekt "Balkan" entpuppt sich in aller Deutlichkeit als Chiffre, und eben nicht für ein begrenzbares politisches Spannungsfeld. "Balkan, das war zum Beispiel augenblicksweise die Steppe um das verschwundene Numancia in Altkastilien gewesen, als dort ein zerrissener blauweißer Plastiksack an einer Blaudistel hing und im Wind knisterte. Balkan: die getigerte Falkenfeder neben dem toten Rehbock, der sich bei einem Sturz von einem Kalkfelsen das Genick gebrochen hatte, im deutschen Harz.

Die Schmetterlingspaare in der Sonne, wie sie einander wo auch immer auf der Reise durch Europa auf engstem Raum umtanzten: all das war schon im voraus der Balkan." Mit anderen Worten: Der Balkan ist nicht nur ein Überall, er ist vor allem der utopische Fleck, an dem sich das Dasein exemplarisch verdichtet, "Einsprengsel in der Zeit", "Inselchen, Inselmomente".

Spürbar - müßig, hier nach Ursachen zu forschen - ist dieses Buch aus der Defensive heraus geschrieben, nicht nur politisch - die Serben (sie werden nicht einmal beim Namen genannt) stehen auf verlorenem Posten, geben ihre letzten Enklaven auf -, sondern auch literarisch, poetologisch. Einmal tritt unterwegs ein flinker Schreiber auf, Melchior genannt, der der "Dichterliteratur" den Marsch bläst. "Weg mit dem Traum vom Schreiber als Urheber", verkündet er, gibt sich unverhohlen als Parasit zu erkennen und propagiert ein Schreiben als bloßes "Arrangieren".

Scheußliche Floskeln führt dieser Feindselige im Mund wie "zweifelsohne" oder "kein Thema" (und, klar, er schreibt in Zeitungen). Auch in der Totaldefensive ist Handkes Furor beachtlich. Was das Frauenthema betrifft, ist es ja nichts Neues, dass dieser Bedauernswerte an der Unvereinbarkeit von Ehe und Schriftstellertum laboriert; wieder muss er sich von einer Schönen als Muttersöhnchen beschimpfen lassen, daran (auch an den jähen Gewaltattacken) hat sich seit dem "Kurzen Brief zum langen Abschied", und das war vor 35 Jahren, nicht das Mindeste geändert.

Aber: Einmal, im Zug in Österreich, und das ist eine wunderbare Episode, trifft der Autor auf eine junge, blutjunge Leserin, "falscher Brillantknopf an einer Nasennüster", die ihn erkennt, sich als seine Leserin zu erkennen gibt. Nicht nur aufmerksam liest sie, sondern ernst und erheitert zugleich: "Das war dir einmal eine Leserin!" Und dann also rückt sie ihm auf die Pelle, "Ich kenne Ihre Bücher", ausnahmsweise ist dem Schriftsteller das nicht einmal lästig, auch nicht, dass sie ihn im Eifer des Gefechts "auf den Oberarm und gegen die Brust boxte, ihm ein Haar vom Mantel klaubte, dort an einem der Knöpfe drehte…" Und das im unglückseligen Austria! Wahrlich, es ist noch Hoffnung.  
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Peter Handke: Die morawische Nacht.


Erzählung.
Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2008.
561 S.; geb.; Eur 28,80 [A].
ISBN 978-3-518-41950-2.
Link zur Leseprobe
Als der Schmerz nachließ –
– und das Erzählen einsetzte:
Das waren noch Zeiten.
Das war die Zeit.
(Spuren der Verirrten)
Es wird bereits Nacht, als sich sieben geladene Gäste auf einem Hausboot auf der Morawa, einem Zufluss der Donau, einfinden, um der Erzählung des Gastgebers zu lauschen, der Erzählung einer Reise ans Ende der Nacht.Samara sollte dieses neue Werk Peter Handkes ursprünglich heißen, samara, das bedeutet "die Nacht im Gespräch verbringen."
Tiefblau ist der Umschlag dieses "nächtlichen Buches". "Nicht wenige solcher nächtlicher Bücher hatte der Autor im Lauf seines Lebens verfasst, die vom Tageslicht in nichts aufgelöst worden waren. In nichts? Wirklich?"
Nein, "das Buch gab es irgendwo." Und es erzählt dir eine lange Geschichte eines Unterwegsseins, einer europäischen Rundreise, doch ohne Namen, "Namen tun nichts zur Sache", ohne dramatische Situationen, ohne Charaktere, dafür voller "Traumstoffgestalten", voller "zitternder knisternder (...) Sekunden", die "das Gefühl für das Dasein" zeitigen.
"Das Buch von deiner europäischen Rundreise: Ich werde es schreiben. Es ist zum Großteil schon geschrieben, fertig, bevor du aus deiner Morawischen Nacht überhaupt aufgebrochen bist." höhnt Melchior, der "schreibende Arrangeur", den der Erzähler auf seiner Wanderung trifft: "Und du, mein Teuerster: auf den Müllhaufen mit der Geschichte mit dir. (...) Wenn es einmal hieß, Dichten gleich Bildermalen, so heutzutage: Büchersprache gleich Journalsprache." Und tatsächlich sollte Melchior seine Drohung wahr machen, noch auf der Rückfahrt fällt der Blick des Erzählers auf einen Zeitungsartikel über seine Rundreise, die laut dem Zeitungsschreiber nichts weiter war als eine Flucht vor sich selber. "Dass er allein dem Abseitigen nachgegangen war," wirft er dem Reisenden vor.
Na, und wenn schon. "Hatte er auf diese Weise nicht auch seine Bücher geschrieben? 'Nie was von Utopia gehört?' " kontert der nächtliche Erzähler. Trotzdem regen sich auch bei ihm Zweifel: "Den Dichterberuf, gab es ihn weiterhin?" Seinerzeit war er "bedürftig gewesen nach dem Augenblick der Poesie". Er hatte "ihn von den eigenen Rändern oder Grenzen lautlos zurückgerufen in die Mitte des Lebens – zurück zur Prosa – zum Prosaschreiben." Handke, der Dichter der entzauberten, der un-heimlichen Welt, er sehnt sich zurück nach der Heimlichkeit: "zeig mir den Ort, wo du verborgen bist!" Seinerzeit hatte er ihn in der Dichtung gefunden, in der Einsamkeit, dem Unterwegssein, den Träumen, alles Enklaven, allesamt "Flucht- und Trutzburgen" gegen die Unheimlichkeit der Wirklichkeit, der Handke die Heimlichkeit des Erzählens entgegensetzt, das genuin Poetische, das Märchenhafte, Erträumte, Unerhörte, "Klein-kleine", das Abseitige, das Leben: "Leben, leben!" Nicht zuletzt von solch einer Rückkehr zum Leben, zum Dichten, erzählt dieses Buch. Der Weg dorthin ist weit, voller Umwege und Verzögerungen. Doch, "so war es beschlossen, so war es gedacht."
Aus einer (serbischen) Enklave (im Kosovo, wie der Leser in Gedanken ergänzt), macht sich der ehemalige Autor in einem Emigrantenbus auf nach Westen, auf eine Rundreise quer durch Europa. Sie führt ihn an seine ehemaligen Schreiborte, in das Schreibdorf auf Krk, hier verborgen hinter dem phantastischen Namen Cordura, wo er, damals noch Möchtegernschriftsteller, seiner ersten Freundin begegnete und dadurch auch erstmals zum Betrüger wurde, an ihr und an dem "erträumten, tagtäglich zu erträumenden Buch". Denn Schreiber, Aufschreiber und zugleich Liebhaber und Geliebter zu sein, "beides zusammen, das war die Strafwürdigkeit. Entweder Oder." Wenn er ein Schreiber werden wollte, musste er sich heraushalten, sich mit der Nichtzugehörigkeit, dem Ausgestoßensein verbünden. Ja, er hatte "ein Dritter zu sein, und nicht Teil eines Paares."
Doch seitdem war viel Zeit vergangen, der Erzähler hatte sich von seiner "Autoren-, seiner Aufschreibzeit" losgesagt. Zu schwer hatte die Schuldhaftigkeit seines Poetenlebens auf ihm gelastet, und so hatte er sich davon befreit: "er musste nicht mehr schwindeln, nicht mehr verraten. Er war aus dem Gesetz, dem furchtbaren, süßen, entlassen." Und mit seinem selbstgewählten Scheitern als Autor fühlt er sich endlich bereit "für eine, für die Frau." Eine Liebesgeschichte würde er schreiben, so prophezeiht es ihm der spanische Dichter Juan Lagunas. Und tatsächlich sollte sie eintreten, die Liebesgeschichte, als "unerhörte Begebenheit", im Zusammentreffen zweier "Waisenkinder", des ehemaligen Autors und der geheimnisvollen Frau, die auch in der Nacht der Erzählung zugegen ist.
Doch bevor sie gemeinsam auf das Boot, die "Morawische Nacht", zurückkehren können, muss der Ehemalige seine Wanderschaft wie "geträumt, gedacht, geplant" fortsetzen. Sie führt ihn nach Deutschland, "In die Gegend des Vaters und der väterlichen Vorfahren", die er, der "Vaterlose Gesell", der "Prinz von Nirgendwo" nur vom Mutterwort her kannte. Und von dort weiter in sein Geburtsland Österreich, das ihm "zum Feind geworden war", wo er nun aber seinen Bruder besuchen will, sowie seine ehemaligen schriftstellernden Weggefährten Filip Kobal und Gregor Keuschnig, die der Handke-Leser aus Die Stunde der wahren Empfindung und Die Wiederholungkennt. Auch seine verstorbene Mutter aus Wunschloses Unglück erscheint ihm im Traum und spricht ihn endlich los von der Last seiner Schuld: "Du bist unschuldig, du dummer Kerl."
Ja, so führt diese Rundreise nicht nur quer durch Europa, sondern auch quer durch Handkes bisheriges Schaffen, durch sein Leben und Schreiben, das bei ihm verbunden scheint durch ein drittes: durch die Lebenssuche, die Suche nach der wahren Empfindung. Die morawische Nacht ist eine Erzählung über das fortwährende Unterwegssein als beides –Antrieb und Ziel des Schreibens, eine Erzählung über das Erzählen, über die Leben spendende Kraft des Erzählens. Geprägt von Handkes Subjektivität, ichbezogen, wie immer, doch nicht nur; in diesem Werk reflektiert Handke nicht nur sein eigenes Schreiben, sondern auch die Reaktionen der Öffentlichkeit. Klug, sprachgewaltig, nachdenklich, doch auch wunderbar ironisch befragt Handke seine Rolle als Dichter, als öffentliche Figur, als die er sich durch seinen Einsatz für Serbien ins Abseits befördert hat. Passend zum aktuellen politischen Anlass, der Unabhängigkeitserklärung des Kosovo, nimmt er in diesem Buch Abschied von seiner "Idee oder dem Hirngespinst von einem zusammenhängenden großen Land auf dem Balkan, in einem anderen Europa."
Unverkennbar sein Ton, seine mäandrische, ausufernde, stammelnde, zögerliche, sich selbst befragende Erzählweise, unfähig, mit seinen Sätzen "in medias res" zu gehen, angestachelt nur durch die Gefahr – Welche? – der Verfolgung durch die Leserin? Des Stillstands? Der Entrücktheit? Die das Lesen ersetzt, erübrigt? Und ihn zwar der "Last des eigenen Ich" enthebt, jedoch jedes Erzählen bedroht, das ja ein "beständiges rhythmisches Fort-und-Fort" sein muss?
"Gibt es noch Märchen zu erzählen wie die deinigen?", fragt der Erzähler bang den Wiener "Zaubermärchenschreiber" Ferdinand Raimund. "Nein. Oder bestenfalls in Bruchstücken, Märchen, die eine Sekunde dauern." Und Die Morawische Nacht ist ein solch wunderbares Märchen des verwandelnden Augenblicks, es schenkt dem Leser "Ermutigung, Trost, Furcht und Bezauberung, kurz, alles was ihr wollt, und vielleicht auch jenen flüchtigen Augenblick der Wahrheit, nach dem zu fragen ihr vergessen habt" (Joseph Conrad)

Martina Wunderer
4. März 2008
Originalbeitrag
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Einiges zu »Die morawische Nacht« von Peter Handke

Über das Verschwinden der Vorurteile zu erzählen, das sei Epik – so heisst es an einer Stelle in der »Morawischen Nacht« von Peter Handke. So ganz sind diese Vorurteile (oder Urteile) bei den Damen und Herren Kritiker noch nicht verschwunden – es wird reichlich Buße festgestellt und manchmal kann es schlimmer sein, so hinterrücks, so gönnerhaft, so fast-verzeihend gelobt zu werden als herzhaft verrissen. (Immerhin Platz 1 und viele Punkte in der Februar-Bestenliste des SWR.)
Peter Handke: Die morawische Nacht
Peter Handke: Die morawische Nacht

So knüpft Iris Radisch in ihrer BesprechungBande zu Handkes Jugoslawien-Reisebücher und konstatiert, er, Handke, habe sich nun abgewandt von der »verstörenden Parteinahme«, aber vor lauter »Budenzauber« übersehe man das Herzstück der Erzählung, welches sie in der Lossprechung der Sünden des Sohnes durch die Mutter sieht. Oh ja. Und was diese Frau liest und vor allem wie sie liest (liest oder nur herunterrattert?) erkennt man daran, dass sie das Buch dann am Ende mit einer Computeranimation vergleicht. Was haben die heutigen Dichter eigentlich verbrochen, einen solchen Blödsinn über sich ergehen lassen zu müssen?

Die FAZ bemüht sogar zwei Rezensenten. Hubert Spiegel trifft dabei erstaunlicherweise gelegentlich sogar den Ton und kommt fast ohne Häme aus, wobei er freilich Handke ziemlich gerne noch ins Büssergewand stecken würde. (Er legt dann noch einmal nach – vielleicht weil ihm seine Rezension zu positiv schien?) Volker Weidermann glaubt sogar, Handke verabschiede sich vom Balkan und macht damit seinen Wunsch zum Vater des (Leser-)Gedankens.

Schön das Herantasten und Einfühlen von Thomas Steinfeld in der Süddeutschen Zeitung. »Keinen Funken Provokation« findet Martin Krumbholz in der Frankfurter Rundschau und man fragt sich »warum auch?«, und der Rezensent attestiert Handke ein »defensives« Buch und zeigt damit, dass er sich selber nicht von der Rezeption ÜBER Handke lösen kann (oder auch, dass er dazu nicht bereit ist), statt den Zauber des Buches auf sich wirken zu lassen.
Treffend der Titel der Besprechung von Andreas Breitenstein in der Neuen Zürcher Zeitung, »Die grosse Versöhnungstour«, aber auch hier einige alte Rechnungen und gelegentlich ein rechthaberischer Unterton; sei’s drum.
Zwingen muss man sich, Peter Mohrs Besprechung im »Titel-Magazin« bis zum Ende zu lesen, denn spätestens wenn jemand als »eigenwillig« charakterisiert wird, sollte man aufhören. Der Rezensent stellt dann noch Parallelen bis zum Narzissmus zum eigenen Werk Handkes fest (was für ein Unsinn) und hat offensichtlich gar nicht bemerkt, dass der Ex-Autor im Buch den Gregor Keuschnig gar nicht trifft.
Und flankierend natürlich ein Interview. Mindestens eines. Aber auch ein »gutes«, fruchtbares. Von Christine Eichel in der Online-Ausgabe des »Cicero«: »Der Zorn verraucht, das Feuer bleibt«. Dort finden sich sehr bemerkenswerte Sätze von Handke; es ist wirklich lesens- und nachdenkenswert (obwohl einmal ein Umbruch fehlt, d. h. eine Frage wird in einer Antwort versteckt – wer findet’s?). Eichel beginnt ihr Interview (ist es nicht schon fast ein Gespräch?) mit dem Zitat aus »Selbstportrait aus unwillkürlichen Selbstgesprächen« (aus der Zeitschrift »Manuskripte«, im März 2007 erschienen, hier herunterzuladen [PDF; ca. 110 kb]), die man noch am ehesten mit Handkes Journalen vergleichen könnte, wenn diese auch wesentlich ausführlicher angelegt sind, während es sich bei den »Selbstgesprächen« weitgehend um kleine Sentenzen, nein, eher: Gedankensplitter handelt (auch diese Sätze hier enden ohne Punkt – wie in den Journalen).
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Nein, keine traurige Geschichte. Eine schöne. Eine sehr schöne. Aus der Zeit, als das Schreiben noch geholfen hat.Lothar Struck über Peter Handkes Erzählung
»Die morawische Nacht«


Beim Lesen von »Die morawische Nacht« schwingen die Leseerinnerungen dieser im doppelten Sinne »selbst-bewegten«, sich bewegenden, Handke-Protagonisten mit, beginnend vielleicht mit »Der kurze Brief zum langen Abschied« (1972), ein Bildungs-, Such- und Selbstfindungsroman im beinahe noch klassischen Sinn (und bereits ein bisschen leicht frauenphobisch), weiter mit Valentin Sorgers fast phlegmatischer Selbstversöhnung in »Langsame Heimkehr« (1979), die Weiterschreibung dieser An- oder Heimkunft im Drama »Über die Dörfer« (1981) durch die Figur des Gregor, dann Filip Kobals Suche nach dem verschollenen Bruder, ein »zum Staunen gemächliches Dahin« in »Die Wiederholung« (1986), der märchenhaft anmutenden, scheinbar ziellosen Exkursion (oder Prozession?) der Vierergruppe aus »Die Abwesenheit« (1987). Danach sein wohl menschenfreundlichstes Stück und vielleicht eines der grossartigsten Theaterstücke der letzten Jahrzehnte, die fast lyrische, heitere Reise zum sonoren Land im »Spiel vom Fragen« (1989), später dann der abrupte Weggang eines Apothekers (auch ein Fluchtspielen wie hier?) aus »In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus« (1997), danach der mäandernden Durchquerung der Sierra de Gredos durch eine Bankfrau (»Finanzfürstin«) im »Bildverlust« (2002), welches den Leser – gleich seiner Protagonistin – buchstäblich verirren lässt – und von den Reiseerlebnissen, nein: Reisewahrnehmungen (die fast immer Geh-Impressionen sind), aus Handkes Journalen (insbesondere »Am Felsfenster morgens« [1998] und »Gestern unterwegs« [2005]) erst gar nicht zu reden.
Diese Bewegungen, weit entfernt vom »Reisen« im klassischen Sinn (man sage bloss nicht, Handke sei ein Reiseschriftsteller), eher ein Unterwegssein, schimmert auch in den Büchern hervor, in denen der Protagonist an einem Ort verharrt – wobei dieses Sesshafte nur Produkt der vorigen Expeditionen ist; nicht selten nur Zwischenstation. So ist der sich (vorübergehend) niedergelassene Autor in »Mein Jahr in der Niemandsbucht« (1994) ein Erkunder, Forscher, Entdecker seiner unmittelbaren Umgebung (und die Fortschreibung dann in »Lucie im Wald mit den Dingsda« [1999], märchenhaft und gleichzeitig ganz schön sich selbst auf den Arm nehmend). Vorher der nachdenklich-reflektierende, allen Glücksversprechern endgültig Absagende aus dem »Versuch über den geglückten Tag« (1991), einem »Wintertagstraum« und endlich (die Aufzählung ist nicht vollständig) der im wilden Garten seine Geliebten erwartende Don Juan (2004) – all diese kaum weniger unterwegs als jene, die ihr Heil (ein Wort, das heute immer noch Abwehr hervorruft und daher gerade von Handke verwendet wird) in der Bewegung, im Erkunden, im Schauen suchen.
»Die morawische Nacht« ist Unterwegserzählung, Erzählung über das Erzählen (es wird auktorial erzählt, was Distanz und Nähe schafft), Erzählen von Metamorphosen; Märchen, Halluzination, Nachtmahr, Erzählung über die Vergeblichkeit des Schreibens, über die Sinnlosigkeit des Schriftstellerseins, vom Glück des Schreibenlassens und damit natürlich über die Freuden des Schriftstellerseins und dessen Notwendigkeit (aber dazu später).
Ein Ex-Autor, jetzt Hotelbesitzer, lädt seine Freunde auf sein Hausboot ein, jene »Morawische Nacht« um ihnen von seiner langen Reise zu erzählen. Er, der abgedankte Schreiber, der Ehedemautor, wird noch einmal zum Erzähler, nein: er kommt zum Erzählen (dem oralen Erzählen) zurück. Er lebt schon lange in der Enklave »Porodin«, umzingelt von Feindseligen(?), von Steinewerfern (bei der Abreise); inmitten einesverkrachten Landes. Ein Eindringling, mit Verstreuten eines ehemals grossen Volkes – den Walachen (nennen wir sie hier so, und die Enklave ist natürlich (wirklich?) eine serbische(?) Enklave im Kosovo oder Bosnien. Obwohl das natürlich alles nicht so einfach ist, denn das Buch spielt, wie so viele Handke-Bücher der letzten Jahre, in einer Zukunftszeit (hier ist es um das Jahr 2015; vielleicht sogar noch später und sogar die Katalanen wie die Trandnistrier und die Talkalmüken sind inzwischen einStaatsvolk geworden).
Litanei des AbschiedsUnd alles greift ineinander. Aus dem ehemaligen Autorund Bootsherr  wird mit der Zeit ein Mitgeher in der Steppe oder unser Erzähler, einmal sogar dergesamteuropäische Autor (freilich nur für einen kurzen Augenblick der Euphorie), ein Wanderer und schliesslich ein Ortsdurchquerer. Reisen (dieses Reisen) verwandelt - und erweitert.
Ist die »Morawische Nacht« also ein weiteres Steinchen in der Unterwegswelt, der Suche nach dem verlorenen Augenblick, dem weiten Horizont, nach der Leere als dem wahren Ort, und nach einer »Gemeinschaft der Verstreuten«? Ja und nein. Denn dem Leser schliesst sich mit dem neuen Buch derart trefflich der (imaginäre) Kreis, dass es der Äusserungen Handkes, dies sei sein letztes, grosses episches Projekt, nicht bedurft hätte, so offenkundig ist das.
Besucht doch dieser Ehemalige noch einmal die Stätten seines Wirkens, seines Schaffens, seines Liebens, seines Lebens und die ihn wichtigen Personen und mehr als einmal ist vom letzten Mal die Rede (oder – Selbstironie ist ein Motiv in diesem Buch! – vom vielleicht letzten Mal oder allerletzten Mal, und darauf noch ein allerallerletztes Mal).
Handke verfällt dabei nie in Melancholie bei der Erzählung dieser für seine Figur so prägenden Orte und Menschen. (Was für Ortserzählungen!) Fernab von jeglicher Idyllenprosa oder dem üblichen Lamento, es sei nicht mehr so wie »früher«. Hinweg damit! Und doch: Auf der langen Reise begegnen ihm so manche Zeichen der Vergangenheit nicht mehr. Das Dorf auf der Insel, dem Ort seines ersten Romans (Cordula ist Krk) – es existiert nicht mehr. Die ehemalige Geliebte – eine alte, verhärmte und schimpfende Bettlerin ist sie geworden.
Im Karst, wo sich nur noch drei Versprengte (Anfangs waren sie noch eine geradezu stattliche Gruppe gewesen) treffen, die der Idee oder dem Hirngespinst von einem zusammenhängenden grossen Land auf dem Balkan, in einem anderen Europa nachgingen und eigen- oder starrsinnig (der Trotz!) daran festhalten, der einstige grosse Zusammenhang sei vielleicht doch weniger ein Zwang als eine mit der Zeit und mit den Generationen gewachsene Zusammengehörigkeit gewesen, selbst dort hält Mitteleuropa, diese herrschende Norm Einzug. Der Ort hatte seine Zeit gehabt (das alte Karstweltreich ist vorbei), die Stille war nicht mehr das allein ihn Bestimmende. Nur noch der Aufwind unten vom Meer, der unvergleichlich sanft über die Hochfläche fächelte und das Himmelslicht, weitergegeben auf dem Erdboden von dem löchrigen Karstkalkstein mag die Erinnerung erzeugen, nein: die Wieder-Holung; für einen ephemeren (Glücks-)Moment.
Und die Menschen, die er sucht; aufsucht? Auch diese zum letzten Mal? Der Politiker muss Pablo aus den »Zurüstungen für die Unsterblichkeit« sein (kein Name fällt). Heute ein Möchtegernmaler, nachdem ein Geistesgestörter ein Attentat verübt hatte, zittrig, redselig, seine Schussnarbe jedem zeigend, ohne Freunde. Filip Kobal – er ist Filmregisseur und Drehbuchschreiber geworden und auch für ihn hat die Literatur verloren. Und Gregor Keuschnig, jener Diplomat aus »Der Stunde der wahren Empfindung« (1975), der in der Niemandsbucht der (bereits damals reichlich desillusionierte) Schriftsteller war und inzwischen heimgeflüchtet? Er findet ihn nicht – man findet sich nicht. Nur einen Mann, der ihm äusserlich ähnlich sieht. Noch einer in diesem Treck der Abwesenden. Der Erzähler nimmt dies ohne Rührung und ohne Verbitterung auf dieser Litanei des Abschieds (und des Neubeginns?).
Ja, tatsächlich: Dieses Buch ist aber auch versöhnend. Und wie. Versöhnung beispielsweise mit Deutschland, von dem er überrascht ist: doppeltes Staunen. Ein friedlicheres Land als dieses sollte er nicht durchwandert haben, weder vorher noch nachher. Dabei traf er in der Gegend niemanden sonst, der las.
Versöhnung auch mit seinem Vater, den er nie kennenlernte und nie kennenlernen wollte  (verdammte Vaterlosigkeit) – wobei: nein, Versöhnung ist das falsche Wort – es ist ein Loslassen, ein Ziehen-lassen, ein seinen-Frieden-mit-ihm-machen. Frieden, endlich. »Der ewige Friede ist möglich« sagt Nova in »Über die Dörfer« und neulich meinte Handke in einem Interview dieser Satz sei »hirnrissig« und weil er dies so sagt, gilt er, der Satz, immer noch. Und immer weiter (warum sonst weiterleben?).
Und auch kein schlechtes Wort über die Heimat, das kleine Land Österreich. Obwohl oder trotz des Besuchs in Gutenstein und dem Totengespräch mit Raimund (dem Handke schon im »Spiel vom Fragen« mit der Figur des »Mauerschauers« huldigte) – keine Larmoyanz; kein solipsistisches Kokettieren.»Im Ort des Selbstmörders ist kein Platz für ein Wort mit 'Tod'. Und ausserdem: Ja, weißt du denn nicht, lieber Freund, dass es das Eigen des vernünftigen Menschen ist, nicht über den Tod nachzudenken, sondern einzig über das Leben?«
Weiter zum Heimatdorf. Auch hier erkennt er nichts oder kaum etwas wieder, sieht es als »Samarkand" mitmorgenländischer Bevölkerung. Ein ungastlicher Empfang; alles stellt sich gegen ihn (Heimkehr oder drohende Lieblosigkeit?) und nicht einmal ein inneres Grüssen stellt sich am Grab seiner Vorfahren ein. Stattdessen Schuldgefühle – auch und vor allem der Mutter gegenüber (der Leser denkt sofort an »Wunschloses Unglück«), sieim Stich gelassen zu haben, und mit seinen Schreibversuchen habe der Jugendliche seinerzeit…das häusliche Leben…sogar zerstört. Aber dann doch irgendwann ein in-den-Schlaf-fallen und anschliessend der Besuch im Haus des Bruders, einem globalen Wanderarbeiter, erkannt nur durch Eingebung (wie so oft in diesem Buch) – und unterirdisch dort,  im ehemaligen Apfelkeller, ein Gotteshaus (insgeheim, nicht offiziell jedenfalls, nirgends angezeigt) für Christen und dieNeuzugezogenen, die der Moschee allmählich überdrüssigGewordenen. Und es kam mehr und mehr vor, dass…die Fernfahrer, die Einheimischen und die Zugezogenen, so wie oben in der Schenke sich unten in der Katakombe zusammen fanden. Und? Nichts sonst. Nichts sonst als der gute Wille, und die Menschen guten Willens!
Gemeinschaft der GutwilligenJa, so sieht Handkes Gesellschaft, nein: Gemeinschaft der Gutwilligen, der »Verstreuten«, der Leser, der Stadtrandbewohner, der Zu-Fuss-Geher aus. Ein feindloses Miteinander – alles weit jenseits dessen, was man »Volk«, »Nation« oder »Reich« oder auchMitteleuropa nennen könnte (…eure freie Welt kann mir gestohlen bleiben sagt der Buschauffeur in einer Wutrede und spielt dabei »Apache«). Das Unterwegssein der Protagonisten bei Handke ist auch immer sehnsuchtsvolles Entdeckenwollen dieser virtuellen (virtuellen?) Gemeinschaft.
Und welche Bilder ihm dabei gelingen. Als der Ex-Autor mit dem Bus aus der Enklave praktisch in die Welt fährt – jenes Miteinanderstehen und gleichzeitig Distanz haben. Vor allem dann, nach einer Pause, kurz vor der Weiterfahrt der Blick auf eine Menge Umherstehender, und aber dann, wir zurück im Bus, dieser im Losfahren, eine, eine einzige Bewegung in ihr, der Menge, der Überzahl, von einem einzelnen. Einer von uns drinnen, auf seinem Fenstersitz, hatte plötzlich, so als sei nichts, als sei nichts gewesen, als sei nie etwas gewesen, hinausgewinkt…Der Ex-Autor, indem er dem Blick des Winkers, der Winkerin, folgte, fand dann auch heraus, wem. Klar ausserdem, dass ein Kind gemeint war? Nein, bei einem einzelnen Alten oder Erwachsenen hätte er sich ebenso gewundert. Jedoch das Winken zielte, ja, es zielte, auf ein Kind, ob zufällig oder nicht. Und das Kind, fast versteckt in der Masse, es winkte zurück…Was war das freilich für ein Winken gewesen!
Das Kind, aus dem »Feindvolk«…Es schämt sich. Es ist ihm peinlich. Es wird rot. Es möchte wegschauen. Es möchte überhaupt weg. Und es möchte ganz und gar nicht weg.Die zitternde Sekunde, dieser Augenblick des Glücks, dieser Moment des vollkommenen Einsseins mit sich und der Welt – um dieser ephemeren Momente willen kreist dieses Buch, kreist Handkes Werk und manchmal gelingt es ja, und dann rollt ein Ball aus dem Gebüsch (wieder denkt man an Peymanns Inszenierung vom »Spiel vom Fragen«), grüsst ein Läufer, ein Schuhband wird geknüpft, eine Zeitung sinkt im Wasser auf den Grund und nirgends,»nie wo«, ein Faust unterwegs auf der Pfingstschneise(sic!) geschweige denn ein Mephisto, ein Nero, eine Medea…und schon gar keine Spur von Ku-Klux-Klan, Dschingis Khan, Karla vom Bruck, Gringo Busch, Papa Benedetto, Josip Fischerman, Magdalena Ganzhell, Bernhard-Hinrich Glückskraut, Ossim Weichsohn… (und wer errät jetzt diese Damen- und Herrschaften?)
Oder das Erzählen der Busgesellschaft beim Picknick, vor oder nach oder während eines Friedhofbesuchs. Oder wie der Ex-Autor in einem Zug eine junge Leserin kennenlernt (Sie lebte sichtlich mit dem Buch da, buchstabierte es nach, befragte es, befragte sich, war mit ihm verbunden, wurde uns war mit ihm eins.). Oder das Gehen am Stadtrand und das Verdingen als Helfer, um etwas zu verdienen.
Aber auch dann das Zelebrieren des Alleinseins (dem Alleinsein verfallen). Beispielsweise mitten im Fussballstadion, so mittendrin wie nur möglich, wusste er sich…ausgegrenzt. Mochte er mit den Unbekannten rundherum noch so viele komplizenhafte Zuschauerblicke austauschen: Er blieb allein. Und auf dieser Rund- und Zickzackreise mehr als einmal die Ambivalenz der Sehnsucht einerseits von Menschenlosigkeit als Bedingung (nicht nur beim Obstdiebstum, was so duftig locker, wie nebenbei erzählt wird). Und nur dann diese nahen Horizonte zu erleben, die Notwendigkeit der gar nicht vertrauten Einsamkeit – andererseits die ständige Frage des Schmerzes des AusgestossenseinsMenschenfeind oder Weltliebhaber? Was passt zum Schwermütigen (eine Zuweisung von Peter Hamm, die Handke hier phasenweise übernimmt)? Oder ist beides notwendig, ja: gleichzeitig Voraussetzung? Oder ist es (war es) nur ein Wesen des Schreibens, diese gewisse Gesellschaftsunfähigkeit (nur »gewisse«?); eine Menschenfeindschaft… unheilbare? Und wie sagt man ihm auf dieser Reise: Wirst nie zur Menschheit gehören.
Und dann jener Mitgeher Melchior, der sich rasch zum hämischen Verhöhner wandelt – und auch diese Stelle selbstironisch; selbstquälerisch. Die dichterische Sprache ist tot, so der Peiniger, Spiegelvorhalter, Spielverderber,es gibt sie nicht mehr, oder nur noch als Nachahmung, als Gehabe…Schluss mit eurer Schreiberwürde. Wenn heute Schreiber, dann entschlossen würdelos. Ja, wir von heute sind endlich die Würde los…kein Wort und keine Sache sind für uns tabu. Und es geht weiter: Einzig meine Sprache, die Zeitungssprache, lebt. Allein sie trifft ins Schwarze, kommt auf den Punkt, ist unverschnarcht.Melchior entpuppt sich als Journalist, oder reicher Verleger, vielleicht sogar Medienmogul (ein Anti-Burda? ein Burda?). Und du, mein Teuerster: auf den Müllhaufen der Geschichte mit dir. Den letzten Rest deiner Ehre hast du ohnehin schon verloren, indem du auf dem Balkan lebst, und den Balkan liebst. Was vielleicht einmal das Besondere war an dir und deinesgleichen, das – höre, du Möchtegern! – Stiftende, das ist nur noch Abweichlertum. Nicht einmal eine Minderheit unter den Schreibenden und Veröffentlichenden seid ihr paar, die auf dem Dichterischen besteht.
Melchior, der Mephisto, der nach den Augenblicken so schön nun sein Recht fordert: Vor allem keine Sprach- und Schreibprobleme. Arrangieren, das heisst: Die Sätze für gleichwelchen Sachverhalt ebenso für gleichwelche zu beschreibende Person, samt deren Psyche, stehen von vornherein zur Verfügung…nur kein Zögern mehr…Wenn jemand von der Seele anfängt, vom Wind, von der Liebe, vom Inbild, lache ich ihm nicht nur ins Gesicht, sondern mache ihn fertig. Ich glaube ihm nicht. Er lügt. AlsoBüchersprache gleich Journalistensprache. Anders keine Wahrheit, anders keine Realität, so Melchior.
Das ist Handkes »Versuch des Exorzismus der einen Geschichte durch eine andere« (so der Titel einer Erzählung aus dem unlängst wieder aufgelegten, fulminanten und wunderbaren Erzählbandes »Noch einmal für Thukydides«). Denn vorher beklagt, nein: postuliert der Ehemalige noch einmal, dass sein Schreiben einHinauszögern war (ist?), ein Verpassen des rechten Moments, ein nicht sofort 'in media res' gehen und genau das war es jetzt, was ihm in der Ablehnung durch Melchior als gegenwärtig erschien. Und dadurch wird dieses ganze Buch, dieses mäandernde, sich verzweigende Erzählen ein Gegenentwurf zu dieser fast alles beherrschenden Journalistensprache.
Von den ÜbergängenUnd soviel Flehen war in der Welt lässt er Filip Kobal sagen, stummes, soviel Flehen, in so vielen Augen wie vielleicht noch nie. Und soviel Seufzen war zu hören, für den, der Ohren hatte zu hören, schamhaftes, sprachloses, wie noch nie. Und das ist Handkes – ja, was? Botschaft? nein – Gebot für diese (und für die spätere) Welt: Und die stumm Flehenden und die sprachlos Seufzenden verlangten, ja lechzten danach, gefragt zu werden, und ebenso, Antwort zu bekommen. Und dieses Fragen und dieses Antworten ist – das ist Handkes Überzeugung – eben nicht das, was uns so einfällt, wenn wir Verlangen hören, spüren, fühlen. Nicht mit den Mitteln des profanen Materialismus alleine ist dem letztlich beizukommen – daher die Ablehnung an das entseelte, welt-fremde, das sich nur noch als Wirtschaftsraum (oder wer weiss was) definierende Mitteleuropa (und dieses Mitteleuropa, so Handke schon vor vielen Jahren, stellt eben gerade KEINE Verbindung zwischen den Völkern her).  
Da soll, da muss es mehr geben. Vermutlich würde Handke das Attribut des (philosophischen) Existentialisten ablehnen, aber auf eine gewisse Art kommt dies seiner Intention am nächsten. Die Geworfenheit als Möglichkeit begreifen, ja: als Pflicht auffassen – und das Dasein als Dasein neu zu entdecken, zu retten und loszulösen aus der faden und vernebelnden Alltäglichkeit des »aktuellen« Daseins. Zuweisungen wie »Innerlichkeit« oder ein profanes »Zurück zur Natur« greifen da vollkommen ins Leere.
Handkes Protagonisten sind »aus-der-Welt-Gefallene«, Gott-Verlassene, Verlorene in einer lieb- und im emphatischen Sinne leblosen »Um-Welt«. Intuitiv wehren sie sich gegen diese sie umgebende "Allerwelt" – eine Grundbedingung, eine Sehnsucht (nein, Handke scheute nie die sonst so abgedroschenen Wörter). Und der dann folgende Prozess, der als Ziel, nein: Zweck immer eine (die!) Verwandlung ist, ein Übergang in ein anderes System, Übergehen von der einen Welt in eine zweite, die, für ihre besondere Zeit, mit genau so grossem Recht Welt genannt werden konnte, Übergehen in ein anderes Weltgeschehen. Daher diese Unterwegs-, Geh-, Busfahr-  und Reisebilder – die »Erkenntnis" erfolgt durch eine »Wegscheide des Sehens, Fühlens und Wissens« (Botho Strauß). Sie, die Bedürftigen, werden zu Pfadsuchern – nicht Pfadfindern. Und der Leser ist zu diesem Pfadsuchen eingeladen – das Finden muss er dann selber besorgen (als könnte Literatur 'Ergebnisse' liefern, wie all die falschen Literaturpropheten weiss [und schwarz] machen wollen).
Allerdings, »die weitaus grösste Gefahr…in diesen Zuständen meiner Entrücktheit«, so lässt Handke den Gastgeber fast demütig sinnieren: »In Gestalt eines Ausschnitts, einer Strasse, eines Hauses, einer Plakatwand, eines Menschen erscheint mir, über die ganze Welt hinaus, hinter oder jenseits von ihr, das Weltganze im Sinn von etwas Ganzgebliebenem. Wider mein, wie sagt man, besseres Wissen erscheint mir eine heile Welt, und diese heile Welt drängt sich mir auf als die höhere, als die gültige Wirklichkeit«. Und dann »fehlte nur, dass mir in dieser Entrückung die Welt zur besten aller möglichen Welten würde.«
Langsame Heimkehr ins nicht mehr existierende LandDie Enklavenmetaphorik ist in mehrfacher Hinsicht adäquat: Zum einen ist das verlorene Subjekt inmitten der Lieblosigkeit eine »Enklave« (er [oft eine 'sie'] ist noch nicht vollends und auf ewig »verloren«). Und dann sucht dieses Subjekt inmitten all diesen Lebens nach diesem Einssein mit der Welt, und das ist dann ein Schuhputzer in Split oder die so vielen verschiedenen Kopfbedeckungen auf dem Markt in Skopje oder die Eiche in München oder der bewaldete (und später wald-abgebrannte) Mont St. Victoire oder die Jukeboxen in Spanien oder die Viehsteige in Slowenien, die kleine Rätsel aufzugeben scheinen oder die Bahnhofsgesellschaft inmitten Spaniens oder die Glühwürmchen in ich weiss nicht wo oder ein schräges Leuchten aus den Wolken. Und schau, das war manchmal das Leben, und alles zerfranst und auch das -war das Leben.
Einiges geschieht noch in diesem Buch; viel Launiges und selbstironisches. Ein Symposium der Lärmgeschädigten (Amokläufer aus Wehrlosigkeit) in der spanischen Steppe (und dann erzeugen diese weiteren Lärm, der sie dann merkwürdigerweise nicht stört). Oder das Weltmaultrommeltreffen in einem Gasthaus (seltsame Gesellschaft der fast Blicklosen, Schüchternen dort). Oder das Verfolgen des Ex-Autors durch einen sich stets chamäleonhaft anpassenden Hund (welcher Karasek-Dummkopf mag da diesmal einen Kritiker erkennen wollen?). Oder – und vor allem – diese Begegnungen mit der Frau, dieser geheimnisvollen Fremden vom Hausboot, der Manchmal-Erzählerin – mal Feindin, mal kommende Geliebte; Schönheit und Güte und gleichzeitig, nein: später (oder früher) Angst und Grauen (und selten ist Handke wohl intimer gewesen in seinem Erzählen über die Frauen und selten, nein, vermutlich nie kindlicher).
Und am Ende, zurück auf dem Balkan, die lange (nicht mehr langsame) Heimkehr am Tag des Marienkäfers…nach diesem der Tag der Weinbergschnecken…der Tag der Smaragdeidechsen…der Tag der Schwalben, die dir unversehens hoch oben in dem Blau des Himmels erschienen, von nirgendwoher geflogen, wie von dem Himmelblau selber hervorgerufen, und zwar zuhauf, und so binnen einer Sekunde den eben noch leerblauen Luftraum durchkreuzend, -segelnd, -kurvend, -flatternd, -flitternd. Und dann der Tag der Bienen in den weissen Kleeblüten, die davon zitterten. Und dann der Tag der sich paarenden Libellen…
Nach dieser langen Zeit des Reisens ist auch die Enklave keine Enklave mehr. Der Ex-Autor wird zumSchiffsbedürftigen, den »Neuen« gehört nun der Planet allein. Die Enklavengeräusche und vor allem –gerüche: Es war einmal? Dafür das ständige Alarmschrillen aus den geparkten fabrikneuen Autos. Fehlten nur noch Fussgängerzone und das Lächeln tibetanischer Mönche. Fehlten sie?
Aber auch hier ein Versöhnungston, waren doch die Protagonisten des Neuen in den »Zurüstungen für die Unsterblichkeit« noch Aliens, Ausserirdische, »Raumverdränger«, so lässt es der Autor nun geschehen, »gehorcht« seinem Gesetz (es ist mein Amt, nicht zu handeln), konzidiert sie waren von hier, und hielten die Stellung im Jetzt.
Und plötzlich ist dann alles nur ein grosser Traum? Das Hausboot noch nicht ausgeschaukelt? Der Ex-Autor doch noch ein Autor? »Porodin« war nie eine Enklave gewesen.Die balkanischen Enklaven lagen woanders. Die Erzählung wurde aufgeschrieben? »Kommt, her mit euch, ich muss euch eine traurige Geschichte erzählen!« Eine traurige Geschichte? Man würde sehen. Nein, keine traurige Geschichte. Eine schöne. Eine sehr schöne. Aus der Zeit, als das Schreiben noch geholfen hat. Lothar Struck
Alle kursiv gedruckten Wörter und Passagen sind Zitate aus dem Buch: 
Peter Handke Die morawische NachtErzählung / Suhrkamp / 561 Seiten, Gebunden
Euro 28,00 [D] / Euro 28,80 [A] / sFr 47.00 / ISBN 978-3-518-41950-2

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Peter HandkeAndersalt

23.01.2008 ·  Zieht sich Peter Handke etwa aufs Altenteil zurück? Anzeichen dafür gibt es bereits seit Jahren. Doch der Abschied dürfte untermalt von nicht enden dürfenden Fanfarenklängen sein.
Von HUBERT SPIEGEL
Er habe das Wörtchen „fast“ ganz gern, hat der Schriftsteller Peter Handke einmal gesagt. Das kann man gut verstehen: Er hat fast alles erreicht, was ein Autor erreichen kann, fast alles geschrieben, was er zu schreiben, fast alles gesagt, was er zu sagen hatte, und fast alles anders gemeint, als es verstanden wurde. Ohne das Wörtchen fast ist Peter Handke fast nicht beizukommen.
Jetzt, wenige Wochen nach seinem fünfundsechzigsten Geburtstag, hat er in einem Gespräch mit dem Magazin „Cicero“ erklärt, künftig gehe es ihm darum, das literarische Lebenswerk „zum Ausklingen zu bringen“. Wie das, zieht sich Peter Handke etwa aufs Altenteil zurück? Und tatsächlich, Anzeichen dafür gibt es bereits seit Jahren: Zunächst hat er erklärt, er werde nie mehr öffentlich auftreten, danach hieß es, er wolle nie wieder einen Preis annehmen, im letzten Jahr imaginierte er sich als einen, der „geschrieben haben wird“, in seinem jüngsten, vor kurzem erschienenen Buch „Die morawische Nacht“ zeichnet er das Porträt eines „abgedankten Autors“.
Gründlich aufgeräumt
Auch in der eigenen Schreibstube wurde gründlich aufgeräumt: Einen Teil seines Archivs hat Handke unlängst nach Wien gegeben, seine Notizbücher gingen ins Deutsche Literaturarchiv in Marbach. Großreinemachen im Hause Handke also. Dazu passt auch die jüngste Erzählung, die von der Kritik mit seltener Einmütigkeit als überraschend selbstironischer Versuch einer Lebensbilanz gelesen wurde, als „Selbstprüfung“, die auch das Trauma der letzten Jahre nicht ausspart: Sogar seine verbohrte Verklärung des reinen Serbentums wird hier geradezu ironisch betrachtet.
Der Dichter der andersgelben Nudel ist jetzt also ein andersalter Poet: geläutert, gelassen, altersmilde. Denn nun geht es um das Ausklingen. Handke denke über das Ende seines literarischen Schaffens nach, schreibt „Cicero“, und es könnte einem jetzt ganz melancholisch werden, wenn man nicht gerade erst ein Fernsehinterview mit Handke gesehen und von seinem Interview mit der Belgrader Zeitung „Politika“ gehört hätte, in dem er schon wieder fast der Alte ist. Und dann sind da ja außer der neuen Erzählung auch noch zwei soeben erschienene Bücher mit gesammelten Essays und Gedichten sowie ein Band mit Interviews und eine Bildmonographie zu Leben und Werk. Und das nächste Interview kommt bestimmt auch bald.
Fassen wir uns also, Schluss mit der Melancholie! Handke ist allgegenwärtig, und allmählich beginnt sich abzuzeichnen, wie sich der Liebhaber der Stille das Ausklingen vorstellt: untermalt von nicht enden dürfenden Fanfarenklängen. Fast hätte man's ahnen können.
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Peter Handke: Die morawische Nacht [The Moravian Night] 

(1640 words)
  • Scott Abbott (Utah Valley University)

Evoking The Arabian Nights in his title and again in his first sentence (“Every country has its Samarkand and its Numancia”), Peter Handke's narrator links this story to legendary tales told by characters who must keep telling stories to escape danger. There is no plague here, as in Boccaccio's Decameron, but the houseboat moored on the Morava River is compared to Numancia, the last place of refuge for Spanish Celts from the Roman Empire; and on this night “between the wars”, the narrator joins others on a houseboat for a night of storytelling by the boot's owner, an ex-author back from a lengthy journey through Europe. In the telling of stories through the night and in the recounting of stories about the …

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Handke reist mit dem Hausboot ins eigene Ich

"Die morawische Nacht" heißt die neue Erzählung von Peter Handke. Die Geschichte handelt von einem Ex-Autor auf einem Hausboot, der sieben Weggefährten zu Gesprächen eingeladen hat. Das Buch ist eine Art autobiografische Rückschau Handkes, der sich darin zur Abwechslung auch mal selbst beschimpft. Von Ulrich Weinzierl
Peter Handke
© pa/dpa
Im Dezember wurde er 65, für einen Dichter gewiss kein Rentenalter. Im Gegenteil: Da beginnt in der Regel das Spätwerk. Sie gilt auch und im besonderen Maße für den ungemein produktiven Peter Handke. Trotzdem hat er seine irdischen Dinge bereits bestellt, seinen Nachlass zu Lebzeiten in wichtigen Punkten geordnet übergeben. Derlei heißt "Vorlass" und bringt eine ordentliche Summe Geldes ins Haus. Ein vernünftiger, in letzter Zeit immer häufiger praktizierter Brauch unter Schriftstellern von Rang.
Die Manuskripte literarischer Texte gingen ans Österreichische Literaturarchiv in Wien, Notizbücher nach Marbach, wo Neugierige offenbar schon jetzt Einblick nehmen dürfen, was Handke alles nicht in seinen Bänden drucken ließ. Mit einem Stück des Meisters gesagt: "Zurüstungen für die Unsterblichkeit".

Handke kehrt zum serbischen Fluss zurück

Handke-Verehrer konnten vor längerem aufatmen. Er hatte den im Detail kaum nachvollziehbaren tagesaktuellen publizistischen Kampf um "Gerechtigkeit für Serbien" aufgegeben und ist von polemischer zu poetischer Prosa, seinem eigentlichen Metier, zurückgekehrt. "Don Juan (erzählt von ihm selbst)" (2004) und "Kali. Eine Vorwintergeschichte" (2007) fanden auch bei der Kritik positives Echo. Die jüngste Veröffentlichung stimmt von vornherein freilich etwas bedenklich,
weist doch der Titel "Die morawische Nacht" auf eine präzise geografische Verortung hin. Die Morawa südöstlich von Belgrad ist einer jener Flüsse, zu denen Handke in den 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts aufgebrochen war, um sodann den staunenden Lesern das andere, das unschuldige Serbien vor Augen zu führen. Aber keine Sorge: Sie ist ebenso unberechtigt wie die – bei einem Umfang von 560 Seiten – sehr untertriebene Genrebezeichnung "Erzählung". Man hat den Begriff wohl im buchstäblichen, ursprünglichen Sinn aufzufassen – als mündlichen Bericht.
Eine Inhaltsangabe zum besseren Verständnis scheint unerlässlich und sinnlos zugleich, weil sie das Wesentliche verfehlen muss. An den Ufern der Morawa bei Porodin ist ein Hotelschiff namens "Morawische Nacht" vertäut. Zahlende Gäste sind dem Hausbootherrn nicht erwünscht, geladene schon.

Der erhabene Dichter neigt jetzt zur Selbstkarikatur

Sieben Freunde, Bekannte und Weggefährten hat er einbestellt: Vom späten Abend bis zum Tagesanbruch bringt er ihnen die Geschichte seiner Rundreise durch Europa zu Gehör. Fürwahr, ein seltsamer Zeitgenosse. Wie sich Kurt Tucholsky im Exil, als er ins Schweigen versank, einen "aufgehörten Schriftsteller" nannte, nennt sich dessen Kollege von Handkes Gnaden einen "Ex-Autor", einen "Ehemaligen" oder gar einen "abgedankten Autor".
Der Einwand, dass eigentlich nur Könige oder sonstige Herrscher abzudanken pflegen, liegt auf der Hand. Indes passt solch eher erhabenes Selbstbild zu Handkes Schreibepraxis, zumal da sich ein fundamental neues Element hinzugesellt hat. Um abermals bei Tucholsky Anleihen zu nehmen: Der hatte einst Irmgard Keun mit dem unter Feministinnen später recht unbeliebten Satz begrüßt: "Hurra! Eine schreibende Frau mit Humor, sieh mal an!"
Peter Handkes zuweilen zu feierlichstem Ernst neigende Prosa schien bis dato völlig unironisch. Das ist nun, Grund genug zur Freude, doch anders geworden. Ohne ihn kränken zu wollen, behaupten wir: Der "abgedankte Autor" ist nicht nur, aber auch eine Selbstkarikatur Handkes mit einer erstaunlichen Menge autobiographischer Einsprengsel.

Das ist neu: Handke macht sich Vorwürfe

Der Vorteil literarischer Freiheit: In der Entblößung steckt stets eine gehörige Portion Camouflage. Das changierende Spiel zwischen Dichtung und Wahrheit, Verbergen und Enthüllen, ist eine der reizvollsten Lektüre-Erfahrungen. Dass Figuren aus Handkes Romanen wie Gregor Keuschnig und Filip Kobal "Die morawische Nacht" bevölkern, versteht sich beinah schon von selbst. Aber dass fast alles, was gegen Peter Handke vorzubringen wäre, auf durchaus radikale Weise von ihm persönlich vorgebracht wird, verblüfft denn doch. Es zeugt von einer Souveränität, die meist tatsächlich erst im vorgerückten Alter möglich ist.
Verfehlt wäre allerdings der Eindruck, Peter Handke habe sich von seinem jugoslawischen Traum und Trauma sang- und klanglos verabschiedet. "Die morawische Nacht" ist ein teils witzig-satirischer, teils elegisch-resignierter Abgesang darauf. Vermutlich wird der Jugoslawien-Komplex nach solch gründlicher Aufarbeitung sein künftiges Schaffen nicht mehr beschweren. Hier spielt er, zumindest am Anfang und Ende, noch eine gewichtige Rolle.
Die Worte Serbien oder Serben kommen allerdings nicht vor, stattdessen spricht Handke von "Walachen" und "walachisch". Er operiert mit Andeutungen – etwa dem Verschwinden der kyrillischen Schriftzüge; er schildert eine Busfahrt aus der serbischen Enklave Porodin mitten durch eine Steine werfende Menge am Straßenrand. Und plötzlich dann eine winzige Szene: Ein Kind winkt den Insassen reflexartig zu – ein Zeichen der Hoffnung und ein Dementi der in biblischen Tonfall mündenden Tirade des Buschauffeurs: "Euer Hass, der höret nimmer auf."

Joschka Fischer wird zu Josip Fisherman

Die folgende Suada des Fahrers könnte genauso gut von Handke selbst sein: "Mögen sie meinetwegen jeden ihrer Heuschober zum Staatsheuschober erklären, jeden früheren Feldgrenzstein zum Staatsgrenzstein, jeden kleinen Steineschmeißer zum Staatssymbol. Ich bin staatenlos, und darauf bin ich stolz. Immer war ich staatenlos. Und immer möchte ich staatenlos bleiben."
Den Fluch des Nationalismus hatte Franz Grillparzer schon anno 1848 in einen Aphorismus gefasst: "Der Weg der neueren Bildung geht von Humanität durch Nationalität zur Bestialität." Beklagt, verspottet werden die Verwestlichung, die Europäisierung des Balkans und der Mitteleuropa-Kult – kein Wunder bei einem unverbesserlichen Anhänger der Vormoderne wie Peter Handke. Ob jedoch halblustige Namensverballhornungen à la Josip Fisherman (für Joschka Fischer) oder Magdalena Ganzhell (für Madeleine Albright) nötig sind, sei bezweifelt.
Die "Zickzackreise" des Ex-Autors führt an Orte und in Gegenden, die für Handke bedeutsam waren und sind: auf die adriatische Insel Krk (Cordura genannt), wo er sein erstes Buch schrieb; in die spanische Meseta zu einem internationalen Symposium der Lärmgeschädigten; an die Donau zum "Friedhof der Namenlosen" bei Wien und einem Welttreffen der Maultrommler in einer benachbarten Gaststätte; in den deutschen Harz, woher sein natürlicher Vater stammte; ins niederösterreichische Gutenstein, zum Landsitz des dramatischen Märchendichters Ferdinand Raimund, und schließlich in sein Kärntner Geburtshaus.

Gewalttätigkeiten gegen geliebte Frauen

Vorwürfe und Bezichtigungen, auch von sprachbegabten Tieren, säumen seinen Weg. Ein Zitronenfalter in Spanien "spritzte da seinen Kot los, indem er den Hinterleib aufbog und aus diesem es, nach vorn über den Kopf, in die Lüfte spritzen ließ – noch nie hatte der Wanderer einen Schmetterling scheißen sehen und kam sich für den Augenblick wie ein Entdecker vor".
Im Harz bei der Suche nach dem Vatergrab taucht der virtuose Falter wieder auf und beschimpft ihn. Offenbar lieben Weißlinge verkappte Verse: "Den Prinz gabst, Vaterloser, du, mit freiem Raum um dich, und warst, wenn Prinz, doch nur Prinz von Nirgendwo, Prinz-ohne-Raum."
Heikles wird nicht ausgespart: die asoziale "Schreibtyrannei" des Heranwachsenden ebenso wenig die Unfähigkeit eines narzisstischen Künstlers zu dauerhafter Partnerschaft bis hin zu Ausbrüchen von Gewalttätigkeit gegen geliebte Frauen. Die Mutter, die Selbstmord begangen und der Handke in "Wunschloses Unglück" ein unvergängliches Denkmal gesetzt hatte, erscheint seinem Doppelgänger im Traum: "Du mit deinem ewigen Schuldbewusstsein und deinem Schuldsuchen auch bei anderen. Du bist unschuldig, du dummer Kerl". Lauter poetische Bekenntnisse eines notorisch Sanftwütigen.

Gespräch mir einem toten Dramatiker

Naturgemäß erklingen auf diesen Blättern die Leitmotive von Peter Handkes Œuvre als romantischer Gegenentwurf zur realen Welt: die Augenblicke der wahren Empfindung, die "zitternde Sekunde", das Innewerden im Innehalten und vor allem: die "Entrückung".
Am schönsten aber ist das Totengespräch mit Ferdinand Raimund. Dessen Maximen sollte nicht allein der "abgedankte Autor" beherzigen: "Es gibt keine paradiesischen Tage. Und am Ende weiß keiner nichts. Ratlos muss geschieden sein."
Peter Handke: Die morawische Nacht. Suhrkamp, Frankfurt/M. 550 Seiten, 28 Euro.
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Peter Handke
Die morawische NachtErzählung
Suhrkamp
561 Seiten, Gebunden
Euro 28,00 [D] / Euro 28,80 [A] / sFr 47.00
(ISBN 978-3-518-41950-2)
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Leseprobe

Die morawische Nacht von Peter Handke

LESEPROBE

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Jedes Land hat sein Samarkand und sein Numancia. In jener Nacht lagen die beiden Stätten hier bei uns, hier an der Morawa. Numancia, im iberischen Hochland, war einst die letzte Flucht- und Trutzburg gegen das Römerreich gewesen; Samarkand, was auch immer der Ort in der Historie darstellte, wurde und ist sagenhaft; wird, jenseits der Geschichte, sagenhaft sein. Die Stelle der Fluchtburg nahm an der Morawa ein Boot ein, ein dem Anschein nach eher kleines, das sich »Hotel« nannte, in erster Linie aber, seit geraumer Zeit schon, dem Autor, dem ehemaligen Autor, als Wohnung diente. Die Aufschrift HOTEL war bloße Tarnung: Wer für die Nacht nach einem Zimmer, einer Kabine fragte, der wurde in der Regel mit einem »Ausgebucht« beschieden. Die Nachfrage blieb freilich nahe null, und nicht nur, weil das Boot jeweils an einer Flußstelle ankerte, zu der es keine rechten Zufahrtswege gab. Wenn einmal sich einer bis dahin durchschlug, dann höchstens angezogen von dem Namen des »Hotels«, der weithin durch die Finsternis der Flußauen leuchtete: MORAWISCHE NACHT.
Das Boot war nicht verankert, sondern bloß so an Bäumen oder Strommasten vertäut, und zwar derart, daß die Taue leicht und schnell zu lösen waren – eben zur Flucht, oder auch nur zum Mir-nichts-dir-nichtsWeiterfahren oder Wenden, flußauf oder flußab. (Die Morawa war zu jener Zeit, nach vielen Jahren nicht allein kriegsbedingter Versandung und Verschlammung, dank einer selbst die Grenzen unseres zur Kümmerecke Europas verkrachten Landes überschreitenden und – fast – allesheilenden Wirtschaft, auf große Strecken, bis hin in die Quellgebiete der Südlichen und der Westlichen Morawa in Maßen wieder schiffbar geworden.)
In der Nacht, da wir auf das Boot gerufen wurden, hielt dieses zwischen dem Dorf Porodin und der Stadt Velika Plana. Velika Plana liegt zwar näher am Fluß. Aber der Ruf kam vom Porodiner Ufer, von einer Stelle weitab von der die beiden Orte verbindenden Brücke, und so zickzackten wir, ein jeder für sich, aus dem Dorf, kreuz und quer, jetzt nach links, jetzt nach rechts abbiegend, tungwechselnden Ackerwege. Da wir uns alle gerade in Porodin oder in den Nachbardörfern aufhielten, verstreut in den Gehöften, fanden wir, des früheren Autors Freunde, Gefährten, ferne Nachbarn, Mitspieler – und jeder einzelne, für jeweils eine Etappe, sein Reisebegleiter –, uns bald zu einer Art Kolonne zusammen, in Autos, auf Fahrrädern, auf Traktoren, und der eine und der andere zu Fuß, womit er querfeldein ebenso schnell vorankam wie die Fahrenden auf den holprigen, immer wieder vom Ziel weg in ein Nirgendwo führenden und dort endenden Wegen. Freilich hatten auch die Fußgänger, obwohl es zur Leuchtschrift MORAWISCHE NACHT ein bloßer Katzensprung schien, da und dort vor einem unversehens tiefeingeschnittenen Kanal jäh abzubiegen und in der Folge, vor einer undurchdringlichen Wildhecke, gleich ein zweites Mal.
Warum hatte unser Bootsmann gerade die Gegend von Porodin zu seinem Wohnort gemacht? Wir konnten nur rätseln: Die einen meinten, das komme von der balkanweit verbreiteten Geschichte zwischen den Kriegen – es war da immer, wenn nicht Krieg, so »zwischen den Kriegen« gewesen –, wonach in dem Gemeindegebiet ein Hausierer mischen ermordet wurde, worauf das ganze Dorf dafür an jedem Jahrestag Sühne leistete. Andere glaubten, er sei umgesiedelt eher der Morawa wegen, um auf den Fluß zu schauen, vor allem auf dessen schimmernde Biegungen, die eine flußauf, die nächste gleich flußab. Und wieder andere mutmaßten, es seien vordringlich die vielen Scheidewege und Kreuzungen in dem großen Dorf gewesen, wo er auf der Terrasse einer der balkanischen Eckbars einfach so dasitzen wollte, in der Ferne die himmelan weidenden Schafe und vor sich den erztrüben Wein.
Es war noch lang vor Mitternacht. Wir hatten uns, wie auf Verabredung, besonders früh zu Bett gelegt und, als der Ruf kam, schon fest geschlafen. Trotzdem waren wir dann auf der Stelle hellwach. Kein Moment einer Schlaftrunkenheit oder Taumeligkeit. Geweckt worden waren wir auf verschiedene Weisen, vor allem durch das Mobiltelefon. Aber es gab auch ein oder zwei, bei denen ein Bote an das Hoftor geklopft oder einen Kieselstein gegen das Fenster geworfen hatte – ein einziges kleines Klopfen und ein einzelnes Steinchen genügten. Und einer, aufschließend zu der Kolonne, erzählte dann, er sei auf seinem Bett in dem Schlaf geschreckt worden von einem wie gebieterischen Angeblinktwerden durch die Leuchtschrift fern in den Morawa-Auen, so wie der nächste der Aufschließenden angab, aufgeschreckt zu sein durch ein Signal, das eher von einem Schiff zu kommen schien als von einem Hausboot. Aufgeschreckt? Vielleicht. Aber das war kein gewöhnlicher Schrecken gewesen. Und so oder so war das Wecken ohne Worte vor sich gegangen. Und so oder so: Jeder von uns fühlte sich von dem Rufen hinten am Schopf gepackt, so unsanft wie sanft. Die Telefone hatten nur kurz angeläutet. Und bei dem einen von uns, der, geistesgegenwärtig wie eben allein aus einem gewissen Schlaf heraus, sich schon einen Sekundenbruchteil vorher meldete, kam dann nichts als ein Lachen an, ein sehr kurzes, kaum wahrnehmbares, an der Schwelle zwischen Tiefschlaf und Hellwach, dafür umso klareres, und das hieß, ohne Worte: »Auf!« Melodisch war das Lachen, und es war nicht das Lachen unseres Freundes vom Boot, sondern eindeutig das einer Frau; was den so aus dem Schlaf Gerufenen freilich keineswegs verwunderte. Nichts wunderte ihn in jenem Augenblick und nichts auch dann noch auf dem Weg über die Felder und das gespielten neuen Ökonomie, die Brache um sich – hin zur MORAWISCHEN NACHT. Rein gar nichts wunderte uns alle in dem Moment des Aufwachens lang vor Mitternacht. Und ebenso in der Folgestunde, beim Holpern und Stolpern über Stock und Stein: kein Moment einer Verwunderung. Die Empfindung, die vorherrschte: die einer großen Frische, welche, wie von der Nachtluft draußen, so auch von tief innen her kam; einer umfassenden Frische.


© Suhrkamp Verlag







PETER HANDKE: "DIE MORAWISCHE NACHT"
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