Am Ende seines Journals "Das Gewicht der Welt", das ihm ungewollt gewollt zum schonungslosen Inventar seiner Größenphantasien, seiner Obsessionen und "fixen Ideen" geraten war, hat sich Peter Handke gefragt: "Von was wirst du danach noch schreiben können?" Und sich geantwortet: "Vom Schnee in den Rocky Mountains."
Nun, in seinem neuen Buch* macht Handkes "Darsteller" auf der langsamen Heimkehr Zwischenhalt in den Rocky Mountains, um einen Jugendfreund wiederzusehen -- und findet ihn tot. So steigt er bergwärts, in Schnee-Einsamkeit. "Dann senkte er den Kopf und beweinte den Toten (und die anderen Toten). Aufschauend glaubte er zu sehen, wie diese gewaltig über ihn lachten. Er lachte mit ihnen. Die Gegenwart loderte, und die Vergangenheit leuchtete. Er empfand einen tiefen Genuß bei der Vorstellung seines Nichtmehr-vorhanden-Seins ... Im besonnten Graben bildete der Schnee eine schimmernde Furche: die schönste Frau, die er je gesehen hatte." Dreimal kehrt in diesem Buch, dem Natur alles ist, der Schnee als Medium des Trostes, der Besänftigung, des kreatürlichen Friedens wieder: "Helle Freude! Lieblicher Schweiß!"
* Peter Handke: "Langsame Heimkehr". Erzählung. Suhrkamp Verlag, Frankfurt; 200 Seiten; 24 Mark.
"Sorger hatte schon einige ihm nah gekommene Menschen überlebt und empfand keine Sehnsucht mehr, doch oft eine selbstlose Daseinslust und zuzeiten ein animalisch gewordenes, auf die Augenlider drückendes Bedürfnis nach Heil." Mit diesem Satz hebt das Buch an, hebt also wahrlich an, wie es sich wilhelm-meisterlicher kaum denken ließe. So feierlich, so selbstgewiß und so unverhohlen bedeutungsträchtig wie dieser Handke schreibt heute keiner, und das unstillbare "Bedürfnis nach Heil" ist -- ausschließlicher als je -- sein Trauma, Thema, innerster Antrieb zur Kunst-Produktion.
Sorger: schon dieser Name klingt ja (auch wenn es ihn gibt) nicht einfach wie aus dem Telefonbuch, so kann nur ein poetischer Geheimnisträger heißen. Sorger ist mitteleuropäischer Herkunft, von Beruf Geologe, seit ein paar Jahren an einer kalifornischen Universität tätig und zu Beginn des Buches im hohen Norden Alaskas einsam mit langwierigen, kaum greifbaren und keinesfalls "nützlichen" Forschungen beschäftigt.
In Sorgers hochmütiger Absonderung, seinem Alaska-Exil, steckt ein Stück Selbsttherapie: Er hat den Urschmerz nie verwunden, mit dem im dämmernden Bewußtsein jedes Kindes Ich und Welt für immer auseinanderreißen, und so hat er sich diesen Schmerz selbst noch einmal zugefügt durch die Trennung von seiner dörflichen Heimatwelt in Europa.
Das Heil, nach dem er dürstet, wäre: Heilung des Risses, Ende der Einsamkeit, Ich und Welt wieder selig bewußtlos Eins. Für Augenblicke gelingt ihm immer wieder eine träumerische Annäherung, eine Ahnung des Heils: Wenn er, die Methoden geologisch-wissenschaftlicher Naturerfassung weit hinter sich lassend, durch Meditation die Natur ganz in sich aufnimmt oder ganz in ihr aufgeht. Dann offenbart sich ihm ein amorphes Stück Welt als "Raum", als "Form", als Sinngefüge, und "im Glücksfall, in der seligen Erschöpfung, fügten sich alle seine Räume zu einer Himmel und Erde umspannenden Kuppel zusammen, als ein nicht nur privates, sondern auch den anderen sich öffnendes Heiligtum".
In der Euphorie solcher Allgefühle, in denen seine Wissenschaft ihm als Religion erscheint, entwirft Sorger ein Werk "Über Räume", das dann (in seiner Phantasie) allmählich-unweigerlich von der geologischen Studie zur mythisierenden Wiedergewinnung einer "Kindheitsgeografie", zur Kosmologie (Sorger fühlt sich "nicht göttlich", doch "zuweilen umgeben von einer magischen Schönheit"), ja zum "Evangelium" heranwächst: "Sehnsucht nach einer erfundenen Welt, welche die wirkliche, diese durchdringend, in Erfindung aufhöbe." Jenseits von "Ekel und Trennungsschmerz" Ich und Welt versöhnt, geheilt, geheiligt in einem Kunstwerk: darin gipfelt Sorgers fixe Idee.
Dann aber -- als zweite Station der Geschichte, Schauplatz Kalifornien -- das groteske Fiasko: Ein Moment lächerlichster, banalster Mißachtung durch andere genügt, um den "Friedensforscher", der sich so selbstherrlich über alle Welt hinausstilisiert hatte, in einen Abgrund der Erbärmlichkeit zu stürzen. So völlig vernichtet fühlt Sorger sich da, daß er den harmlos netten Nachbarn, der sich seiner annimmt, inbrünstig begrüßt als: "Göttlicher anderer". In der nestwarmen Idylle des Nachbarhauses läßt sich der Zerschmetterte moralisch aufpäppeln und legt flugs den Grundstein zu einem neuen, dem richtigen Eigen-Mythos: Demut, Annahme der Welt, Hinwendung zum Nächsten, Heimkehr als Heil.
In Manhattan, beim letzten Zwischenhalt, gelingt Sorger ein erster Akt seelenrettender Nächstenliebe; gelingt -- tröstlicher Schnee fällt -- die schmerzende Einsicht, daß seine "aus dem innersten Selbst bis hin zur äußersten Welt sich aufschwingende Sehnsuchtskraft", die "ihn Einzelnen und das Weltganze ein für alle Male zusammenhalten" möchte, stets nur einen trügerischen Glücksaugenblick hervorbringt, bevor der "Todesstreifen" wieder aufreißt: "immer noch viel zu wenig". So tritt er, endlich "Niemand", den Heimflug an in die Geborgenheit seiner Kindheitsgeographie. "Wo gehn wir denn hin? -- Immer nach Hause."
"Sind Vollkommenheit und Vollendung meine Zwangsidee?" fragt Sorger sich. Die Erfindung neuer Mythen, die Erhöhung der eigenen, durchaus privaten "fixen Ideen" ins Mythische: in seinein Tagebuch erscheint das als Handkes höchstes Kunst-Programm. Dieses Buch sei "ein wahrer Mythos, der sich von anderen Mythen nur dadurch unterschiede, daß er sich in dem Geiste eines einzelnen Mannes bildete": So hat Solger (nicht Sorger), ein romantischer Welterlösungskunst-Theoretiker, einen Roman charakterisiert, der (bis ins Typographische hinein) als Gegenentwurf zu "Wilhelm Meister" gedacht war, den "Heinrich von Ofterdingen" des dichtenden Geologen Novalis.
Viel, sehr viel im Zuge der "Langsamen Heimkehr" klingt, als hätte Handke ("ich, Sorger") sich in trotzigem Zuruck über die Realitätskrämerei des bürgerlichen Romans hinweg der romantisch-grandiosen Utopie des Novalis gestellt: vom Höhenflug des Dichters als "Messias der Natur" zum Traum der Rückkehr in die heilende Mutter-Heimat.
Was dieses Buch, sicher Handkes anspruchsschwerstes, reich und kräftig macht, sind die großen Naturszenerien, die er aufbaut, genau und gelassen, satt an Atmosphäre, Dinglichkeit und Detailfarben: im ersten Teil die herbe, wuchtige Einöde der Tundra im Norden Alaskas, im zweiten Teil ein Stück herbstlicher Suburbia-Oase in den Sanddünen Kaliforniens, am Schluß die neblig-nächtige Asphalt-Topographie von Manhattan.
Wo er Natur beschwört, geht Handke schreibend glücklich in seinem Gegenstand auf, allein und ganz eins mit der Sprache als einziger Realität. Da macht -- unausgesprochen, wie selbstverständlich -- der stille Glanz seiner Sätze begreifbar, daß es Augenblicke des "Heils" gibt, Zustände der Erfüllung ohne Rest oder Mangel -- im Akt des Schreibens: für ihn, nur für ihn und nirgends sonst.
Was aber dieses Buch trotz der Fülle sinnlich erfaßter Natur ganz und gar künstlich erscheinen läßt, ist die schwindelnde Höhe der Gefühlsabenteuer des Heilsuchers Sorger und die Sprache, die seine Offenbarungen fassen soll.
Ja, die Sätze, die Wörter in diesem Buch: Antlitz, Gefilde, Gelaß und Gemach, gleichsam, zuzeiten, solcherart, allüberall, teilhaftig, bang und lind... Lauter schöne Wörter, so schöne gibt?s heutzutags gar nicht mehr, und das ist der ganze Jammer. "Ist es vermessen, daß ich die Harmonie, die Synthese und die Heiterkeit will?" Nein, aber trotz aller Inbrunst kann nicht, gelingen. solche Sprache ihrer Geschichtlichkeit zu entreißen, den fragilen Kostbarkeiten aus der Ziervitrine frische Glut der Unmittelbarkeit einzuhauchen, eine Kraft, die Sorgers Allgefühlen und Allerschütterungen die Größe des Mythischen gäbe.
Was gelingt, bleibt erhabenes Sentiment ("die mächtig pulsende und vom eigenen Puls erzitternde Alldurchsichtigkeit"), taumelnder Wortrausch ("mitdenkend mit der Erde die Erde denkend als denkende Welt ohne Ende") und sakrale Gebärde (er "sprach ihn frei vom Schmerz; weissagte ihm Gutes und gab ihm schließlich den Segen"). So bleibt die Sprache selbst dem Sprach-Mythos, den sie stiften will ("Sprache, die Friedenstifterin"), seine innerste, letzte Beglaubigung schuldig.
Vielleicht hat Handke seit je im Schreiben ein unbeeinträchtigtes Glück nur gefunden, wenn er die bloße Vorstellung eines Lesers aus seiner Arbeitseinsamkeit ausschloß. Und vielleicht hat man ihm (lesend) besonders aufmerksam zugehört, weil er einen gar nicht zu brauchen schien. Aber nie war man so sehr wie hier (wo doch Hinwendung zum Nächsten das Credo ist) Zuhörer eines sehr kühnen und sehr selbstseligen Selbstgesprächs, in sauerstoffarmen Kunsthöhen, fern und ein bißchen zu schön.
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